Wenn Sandra Pallmann* sich auszieht, ist sie niemals nackt. Denn einen kleinen Apparat an ihrem Handgelenk legt sie nicht ab. „Mein Fitnesstracker zählt jeden Schritt, überwacht sogar meinen Schlaf“, schwärmt sie. „Er sagt mir, wie viel Körperfett ich habe, coacht meine Ernährung.“ Sandra Pallmann, 27 Jahre alt, hat ein Ziel. Es lautet: vier Kilo weniger, definierte Muskeln, festere Oberschenkel. Die Düsseldorferin hatte schon immer eine normale, schlanke Figur. Aber sie ist auch überzeugt, dass ein…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
festere Oberschenkel. Die Düsseldorferin hatte schon immer eine normale, schlanke Figur. Aber sie ist auch überzeugt, dass ein schlankerer und muskulöserer Körper sie glücklicher macht: „Schon Coco Chanel hat gesagt: Nichts schmeckt so gut, wie es sich anfühlt, dünn zu sein.“
Wie viele andere versucht Sandra Pallmann, einer Vorstellung nahezukommen, wie der Körper heute geformt und beschaffen sein sollte: nämlich jung, gesund, schlank, fest und trainiert. Von diesem Ideal berichtet die britische Philosophin und Professorin an der University of Birmingham Heather Widdows in ihrem Buch Perfect Me. Es verbreite sich seit einigen Jahren in der ganzen Welt. Und indem es so viele teilten, sei es nicht mehr nur ein Schönheits-, sondern auch ein ethisches Ideal geworden. Was ist da passiert, und warum versuchen so viele, dieser Pflicht nachzukommen?
Wir wollen attraktiv sein
Schönheitsideale an sich sind keine Erfindung der Neuzeit. Sie haben eine bewegte Vergangenheit. Die griechische Klassik feierte Frauen mit sanften Rundungen, die Renaissance verehrte üppige Frauenkörper, in der Romantik hungerten sich Frauen mit Essig und Zitrone zur schlanken Linie. „Es gibt keine Kultur, in der Menschen unattraktiv sein wollen“, sagt Dr. Martin Gründl, Psychologe und Attraktivitätsforscher an der Hochschule Harz in Wernigerode. „Was als schön empfunden wird, hängt laut Studien zur Hälfte vom sogenannten private taste, den individuellen Vorlieben ab und zur anderen Hälfte vom shared taste, dem gerade vorherrschenden allgemeinen Geschmack, bei dem alle Menschen gleich empfinden. Dieses allgemeine Ideal ist zum Teil erlernt, zum Beispiel durch Einflüsse von Medien, aber ist zu einem großen Teil auch dem Menschen angeboren. Ein Hinweis auf eine genetische Festlegung ist, dass bestimmte Schönheitskriterien überall und zu allen Zeiten gültig waren.“ Studien lassen vermuten, dass 50 Prozent der ästhetischen Bewertung einem „inneren Code“ entspringen, das heißt, alle finden bestimmte Merkmale schön: „In keiner Gesellschaft galt oder gilt es als attraktiv, alt oder kränklich auszusehen“, sagt Dr. Gründl. „Weitere Beispiele sind eine glatte, ebenmäßige Haut oder auch Symmetrie.“
Der britische Sozialpsychologe Viren Swami von der Anglia Ruskin University in Cambridge kommt in einem Forschungsüberblick zu dem Schluss, dass das heutige schlanke Körperideal seinen Ursprung in den westlichen Ländern hat. Es ist in anderen Kulturen nach und nach übernommen worden, vor allem in den großen Städten und Ballungsgebieten. Laut Swami belegen Studien, dass Migranten, die in westlichen Kulturen leben, dünner sein wollen als die Landsleute in ihrer Heimat. Darüber hinaus unterliegen heute auch Bevölkerungsgruppen, die vorher noch davon verschont blieben, dem Diktat des Ideals: Ältere zum Beispiel. „50 ist das neue 40“, heißt es in diversen Frauenzeitschriften, und ältere Schauspielerinnen wie Jane Fonda, Catherine Deneuve oder Helen Mirren werben für Kosmetikprodukte oder werden mit ihren sportlichen, schlanken Körpern als Vorbild für ihre Altersgruppe der immerhin rund 70-Jährigen präsentiert. Bei Schwangeren wiederum gilt: „Der akzeptierte schwangere Körper ist glatt und fest und – abgesehen von einem schönen Bauch – schlank“, konstatiert Widdows, und zu den wichtigsten Bedingungen für eine gelungene Mutterschaft gehöre, nach der Geburt möglichst schnell wieder zur alten Körperform zurückzukehren.
Geschönte Bilder setzen Standards
Für die weltweite Angleichung habe vor allem das Internet gesorgt, vermutet Heather Widdows und meint damit die ständige Flutung mit Bildern. „Auf Facebook und vielen anderen Social Media wie Instagram, Snapchat und anderen geht es letztlich hauptsächlich oder auch ausschließlich um Bilder“, erklärt die Wissenschaftlerin und ergänzt: „Der Zugang ist übers Smartphone immer griffbereit, und wenn man bedenkt, dass es etwa in Indien schon mehr Handys als Spülklos gibt, kann man annehmen, dass diese visuelle und virtuelle Kultur ständig wachsen wird.“ Spezielle Apps, die Bilder anschließend durch Filter verschönern oder aber sogar die Attraktivität eines Selfies bewerten, befeuern den Trend. „Die Filter setzen Standards“, ergänzt der Psychologe Martin Gründl. „Man kann kaum noch ein ungeschöntes Bewerbungsfoto schicken, also gerät man unter Zugzwang.“ Geschönte Fotos von Gleichgesinnten setzen uns offenbar stärker unter Druck als die von Models. Sehen unsere Bekannten vermeintlich schöner aus als wir, haben wir schnell das Gefühl: So könnte ich auch aussehen.
Das Schönheitsideal feiert seinen weltweiten, allumfassenden Triumphzug. „Indem es dominanter wird, wird es akzeptierter und kaum noch hinterfragt“, sagt Widdows. „Und je weniger es infrage gestellt wird, desto mehr wird es zum allgemein akzeptierten Werterahmen.“ Und damit wird es wichtiger: „Je dominanter das Schönheitsideal wird, desto größer wird sein ethischer Aspekt und desto eher wird eine Verschönerungsmaßnahme zur ethischen Pflicht“, ist Heather Widdows überzeugt. Doch das ist noch nicht der einzige Grund, warum sich so viele anstrengen, dieser Anforderung nachzukommen.
Für diese Akzeptanz gibt es auch Ursachen, die in unserer psychischen Entwicklung liegen, wie der österreichische Psychologe und Psychoanalytiker Klaus Posch erläutert. Er beschreibt in einem wissenschaftlichen Beitrag unseren grundlegenden Wunsch nach Identifikation, also danach, andere Personen zu verstehen und sie gut zu finden, weil wir uns zugehörig fühlen wollen. Das tun schon kleine Kinder, indem sie ihre Eltern und Freunde toll finden. Später identifizieren wir uns auch mit den Ideen anderer, etwa denen von Vorbildern. Eng damit verbunden ist unsere Fähigkeit, Personen (oder Ideen) positiver zu sehen, als sie vielleicht sind: „In jeder Beziehung gibt es auch Elemente von Idealisierungen.“ Jeder Mensch durchlaufe verschiedene Entwicklungsstufen – bis wir als Erwachsene eine Identität entwickelt haben, die uns erlaubt zu unterscheiden, welche Ideale wir brauchen, was eine unrealistische Versuchung ist und wo wir Widerstand leisten wollen.
Das Ideal des perfekten Körpers ist besonders verlockend für viele – es sei vielleicht nicht ohne weiteres zu erlangen, aber man könne etwas dafür tun, nämlich den Körper verändern, schreibt die in Österreich tätige Werberin und Marktforscherin Helene Karmasin in ihrem Buch Wahre Schönheit kommt von außen. Das Training im Fitnessstudio macht uns fitter und muskulöser. Wer weniger isst, wird schlanker. Botox sorgt dafür, dass wir eine Zeitlang faltenloser aussehen. Einige dieser Maßnahmen haben noch dazu den Vorteil, dass wir damit zugleich etwas für die Gesundheit tun können.
Der moderne Mensch als Unternehmer seiner selbst
Und die Eigenschaften, die es braucht, Schönheit zu erlangen oder zu erhalten, seien in der Achtung unserer Gesellschaft stark gestiegen, meint die deutsche Philosophin Rebekka Reinhard in ihrem Buch Kleine Philosophie der Macht (nur für Frauen): „Das Bild eines perfekt gestylten und durchtrainierten Menschen suggeriert Selbstdisziplin – und das ist durchaus eine Charaktereigenschaft. Eine, die in der neoliberalen Gesellschaft Hochkonjunktur hat. In unserer Welt der Bilder gilt: Schönheit ist äußere, körperliche Schönheit, und körperliche Schönheit steht für Leistung und Erfolg.“
Für den Psychoanalytiker Klaus Posch inszenieren wir mit einem makellosen körperlichen Erscheinungsbild „überzeugendes Auftreten und zugleich Vertrauen, sozialen Erfolg und Aufmerksamkeit“. Implizit informierten wir unser Gegenüber darüber, wir seien „anpassungsfähig und anpassungswillig“. Indem wir zeigen, dass wir an unserem Körper arbeiten, so formuliert es die Marktforscherin Karmasin, suggerieren wir noch mehr, nämlich dass wir über die richtige moralische Haltung verfügen und „selbstverantwortlich an den gesellschaftlich geforderten Vorgaben arbeiten“.
Giovanni Maio, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg, ist überzeugt, dass schöne Körper heutzutage einen Marktwert haben: „Wir leben in einer ökonomistischen Zeit, in der sich der moderne Mensch als Unternehmer seiner selbst begreift: Er ist verantwortlich dafür, dass er nicht nur seine Aktien gut anlegt, sondern seinen Körper wie eine Aktie behandelt.“ Da gelte es, das Maximum herauszuholen: „Deshalb“, folgert Maio, „spielt das äußere Erscheinungsbild heute eine viel größere Rolle als noch in den 70er Jahren. Der Körper wird zu Markte getragen, deswegen wird er gestylt, modelliert und perfektioniert.“ Das Dreigespann Leistung, Erfolg und Disziplin ist durch die Schönheit längst zum unverzichtbaren Karrierequartett geworden. Viele Studien belegen das mittlerweile – sogar bei Politikern stellt die physische Attraktivität inzwischen das zweitwichtigste Erfolgskriterium dar.
Schönheit taugt als Langzeitziel, ist allgemeingültig und überstrahlt persönliche Vorlieben, fordert bestimmte Gewohnheiten und Praktiken ein, strukturiert den Alltag, schafft Identität und Bedeutung und stellt, kurz gesagt, ein besseres Leben in Aussicht, fasst Widdows das Versprechen der Schönheit zusammen. Aber macht Schönheit auch glücklich? Eine Studie des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit hält fest: „Gutes Aussehen fördert den wirtschaftlichen Erfolg und wirkt sich damit positiv auf die individuelle Lebenszufriedenheit aus.“ Sich einem allgemeinen Ideal beugen, um individuell zufrieden zu sein – nur scheinbar ein Widerspruch.
Das Monster zerstören
Aber es gibt einen Nachteil: „Das Ich wird zum formbaren Objekt“, sagt Widdows, weil es sich über den Körper manifestiere. Wir stylen und formen den Körper, um unseren Erfolg zu präsentieren und zu zeigen, dass unsere moralische Haltung die richtige ist. Dafür müssen wir uns gefallen lassen, dass andere über unseren Körper – und das bedeutet: über unseren Charakter – urteilen. Bodyshaming, das Verunglimpfen von Figur oder Aussehen, ist auf allen Social-Media-Kanälen gängige Praxis. „Jede Verschönerungsanstrengung wird zum Muss“, sagt Widdows. Wer das Spiel nicht mitmacht, outet sich als zu geizig, zu faul oder zu dumm, denn: „Mit allem, auch mit der Verweigerung, treffen wir eine Aussage.“
Das Ganze wird nicht einfacher dadurch, dass sich selbst schaden kann, wer Schönheits- und Körperideale allzu sehr zum eigenen Maßstab macht. Der Psychoanalytiker Klaus Posch sieht in der Überbewertung des perfekten Körpers die Gefahr, dass wir die Realität „illusionär verkennen“. Wer sich aus Angst, als hässlich zu gelten, zurückziehe, schränke sich ein und hindere sich selbst daran, Menschen kennenzulernen. Darüber hinaus sieht der Psychologe ein Risiko, dass es zu „psychischer Verengung“ führe, wenn man sich zu sehr nur mit der eigenen Schönheit beschäftige oder sogar eine Sucht danach entwickele. Dies reduziere andere Entwicklungsmöglichkeiten. Das heißt: Wer zu viel Zeit und Geld in die Herstellung des schönen Körpers investiert, muss andere Interessen zurückstellen und auf schöne Erfahrungen verzichten.
Für Heather Widdows ist klar: Wer das Monster zerstören will, muss ihm ins Gesicht sehen. „Erst dann können wir davon absehen, einen Teil unserer Identität mit Verschönerungsmaßnahmen schaffen zu wollen.“ Ihre Überlegung ist wie folgt: Gibt man offen zu, dass der wachsende Schönheitsdruck einem zu schaffen macht, verliert das Ideal zumindest einen Teil der Akzeptanz – und damit vielleicht den Status als ethisches Ideal. Ob es so kommen wird und wie viele das wirklich wollen, ist offen. Sandra Pallmann* hatte sich dafür entschieden, dem Körperideal näherzukommen, und hat ihr Ziel erreicht: „Wenn ich heute Fotos von der dickeren Sandra anschaue, denke ich: Das bin ich doch gar nicht“, erzählt sie. „Jetzt beneiden mich viele, ich werde auch von meinen Kollegen ganz anders behandelt. Ich fühle mich wie ein neuer Mensch.“ Sandra hatte Größe 42, trägt jetzt 38/40. Im Jahr 2019 bedeutet das eine echte Wesensveränderung.
* Name geändert
Was wir in unser Aussehen investieren
Jüngere zwischen 14 und 21 Jahren wenden viel Zeit dafür auf, um auf Selfies schön auszusehen, bestätigen Tiefeninterviews sowie eine repräsentative Umfrage, die das Marktforschungsinstitut Rheingold im März 2018 veröffentlichte. Laut Studie machen mehr als 80 Prozent dieser Altersgruppe regelmäßig Selfies, 40 Prozent der Mädchen brauchen für ein Selfie mindestens 30 Minuten. Zwei Drittel der Befragten gaben an, sich vorher zu schminken, Make-up aufzutragen und die Haare sowie die Augenbrauen zu stylen – dies, damit die Bilder am Ende „ganz natürlich“ aussähen und die Kosmetik nicht auffalle.
Einen jugendlichen und fit wirkenden Körper erarbeiten sich immer mehr Menschen in Fitnessstudios – in Deutschland nimmt die Zahl derer, die dort mehrmals wöchentlich trainieren, seit Jahren zu und lag im Jahr 2017 laut Angaben der Webdatenbank Statista bei 4,3 Millionen. Und fast jeder zweite Deutsche ist laut Umfragen mit seinem Gewicht unzufrieden – aber das Abnehmen erfordert mentale Investitionen, Disziplin, Geduld und Durchhaltevermögen über eine längere Zeit. Viele kaufen teure Diätprodukte, die die Gewichtsreduktion beschleunigen sollen, aber ihren Zweck nicht erfüllen.
Körperliche Eingriffe wie die Aufspritzung von Falten und Lippen oder die Behandlung mit sogenanntem Botox sind viel beliebter geworden und mittlerweile auch gesellschaftsfähig. Aber sie sind teuer. Eine Botoxbehandlung, die sogenannte „Faltenunterspritzung“, kostet, wie die Stiftung Warentest vor ein paar Jahren ermittelte, zwischen 200 und 400 Euro und hält vier bis sieben Monate. Wer dann weiterhin faltenlos erscheinen will, muss wieder investieren.
SAC
Quellen und Literatur zum Weiterlesen
Heather Widdows: Perfect me. Beauty as an ethical ideal. Princeton University Press, Princeton, Oxford 2018
Ada Borkenhagen u. a. (Hg.): Schönheitsmedizin. Kulturgeschichtliche, ethische und medizinpsychologische Perspektiven. Psychosozial, Gießen 2016
Helene Karmasin: Wahre Schönheit kommt von außen. Ecowin, Salzburg 2011
Klaus Posch: Die Schönheit der Körper. Behinderte Menschen, Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten, 6/2011
Waltraud Posch: Projekt Körper. Wie der Kult um die Schönheit unser Leben prägt. Campus, Frankfurt 2009
Winfried Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit. Suhrkamp, Frankfurt 2007
Alessandra D'Agostino u. a.: Beauty matters: Psychological features of surgical and nonsurgical cosmetic procedures. Psychoanalytic Psychology, 35/2, 2018. DOI: 10.1037/pap0000099
Viren Swami: Cultural influences on body size ideals: Unpacking the impact of westernization and modernization. European Psychologist, 2013. DOI: 10.1027/1016-9040/a000150