Frau Schneider, die meisten Menschen empfinden es als ungerecht, dass der Chef eines DAX-Konzerns im Durchschnitt 53-mal so viel wie seine Beschäftigten verdient. Vermutlich fänden sie es jedoch auch nicht gerecht, wenn der Chef das Gleiche bekäme wie alle anderen, oder?
Wenn wir uns dazu Umfragen aus mehreren Ländern ansehen, kam es tatsächlich nur sehr selten vor, dass die befragten Personen forderten, dass Arbeiter und Arbeiterinnen genauso viel Geld verdienen sollten wie Managerinnen oder Manager.
Welches…
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dass Arbeiter und Arbeiterinnen genauso viel Geld verdienen sollten wie Managerinnen oder Manager.
Welches Einkommen fanden die Menschen denn angemessen?
Die Befragten sollten das Gehalt eines Managers eines großen Unternehmens und das eines ungelernten Arbeiters schätzen. Für Deutschland im Jahr 2006 wurde das mittlere Gehalt eines Managers bei etwa 30000 Euro im Monat veranschlagt, das eines Arbeiters bei etwa 1000 Euro. Im nächsten Schritt wurden die Menschen gebeten, Angaben zu einem angemessenen Einkommen abzugeben, also wie viel ein Manager beziehungsweise ein Arbeiter verdienen sollte. Sie befürworteten eine Halbierung des Managergehalts auf 15000 Euro und ein Anheben des Arbeitergehalts auf 1400 Euro im Monat.
Erstaunlich, dass zwischen den Gehältern, die als gerecht beurteilt werden, trotzdem eine so große Diskrepanz besteht.
Ja, definitiv. Wir wollen in unserer Gesellschaft weniger Ungleichheit, aber gleichzeitig wollen wir eben auch keine absolute Gleichheit.
Viele Ökonomen sagen sogar, wir benötigten ein gewisses Maß an Ungleichheit, weil das Anreize für den wirtschaftlichen Wettbewerb schaffe.
Das mag sein. Die Frage ist dabei aber auch, inwiefern die Realität, in der wir leben, unsere Präferenzen beeinflusst. Können wir uns eine Gesellschaft, die gleich ist, überhaupt vorstellen? Lassen Sie uns ein Gedankenspiel machen: Was wäre, wenn wir in einer Gesellschaft aufwüchsen, in der soziale Gleichheit herrschte, und wenn wir dann die Personen befragten , wie viel Ungleichheit sie präferieren? Wie sähe dann das Ergebnis aus?
Vermutlich anders.
Genau, denn das, was wir kennen, beeinflusst auch das, was wir als gerecht und legitim erachten.
Die meisten Menschen verstehen unter Gerechtigkeit nicht automatisch soziale Gleichheit. Empfinden sie Ungleichheit als gerecht?
Wir haben vor einigen Jahren in einer Studie untersucht, was Menschen mit Armut verbinden. Die Befragten sollten angeben, warum Armut existiert: ob aufgrund individueller Zuschreibungen – wie zum Beispiel einem Mangel an Fähigkeiten und Talenten oder zu wenig eigener Anstrengung – oder aufgrund struktureller Faktoren, wie etwa Diskriminierung, fehlender Chancengleichheit oder dem Versagen des Wirtschaftssystems. In den westlichen Bundesländern stimmten die Menschen eher den individuellen Faktoren zu.
Das heißt, die Befragten waren der Ansicht: Wer arm ist, ist selbst dafür verantwortlich?
Ja, genau. Interessant ist dabei aber auch, dass die Menschen sowohl individuelle als auch strukturelle Gründe für Armut angeführt haben. Demnach ist eine Person also arm, weil sie schlechtere Chancen hat, und nicht nur, weil sie nicht hart genug arbeitet.
Sehen wohlhabende Menschen andere Gründe für Armut als Menschen, die wenig Geld haben?
Die Menschen mit höheren Einkommen waren eher der Ansicht, dass ein armer Mensch allein für seine Armut verantwortlich ist. Menschen mit niedrigem Einkommen wiederum maßen äußeren Einflüssen wie der wirtschaftlichen Situation, Diskriminierung oder fehlender Chancengleichheit mehr Bedeutung zu. Sie waren aber trotz ihrer eigenen schwierigen Lage der Ansicht, dass auch individuelle Eigenschaften für ihre finanzielle Situation verantwortlich waren.
Was sagt das über das Gerechtigkeitsempfinden der Gesellschaft aus?
Wir haben analysiert, wie sich diese Zuschreibungen darauf auswirken, wie wir Gehälter von Managerinnen und Arbeiterinnen wahrnehmen und bewerten. Wir sehen: Wenn wir davon überzeugt sind, dass Menschen, die über wenig finanzielle Mittel verfügen, selbst dafür verantwortlich sind, empfinden wir größere Einkommensunterschiede in der Gesellschaft eher als gerecht. Führen wir Armut hingegen auf äußere Faktoren zurück, tendieren wir dazu, große Gehaltsunterschiede eher als ungerechter zu bewerten.
Und wann wird Ungleichheit dann als ungerecht wahrgenommen?
Wenn Menschen die Ungleichheit auf Prozesse zurückführen, die in unserer Gesellschaft als nicht legitim erachtet werden. Das sind ganz klar strukturelle Faktoren. Individuelle Zuschreibungen werden als gerechte Verteilungsmechanismen erachtet. In unserer Gesellschaft scheint über alle Bevölkerungsgruppen hinweg weitgehende Einigkeit darüber zu herrschen, dass harte Arbeit und eine gute Ausbildung für das Vorankommen in der Gesellschaft entscheidend sind. Unsere Gesellschaft baut auf dem Grundprinzip der Chancengleichheit auf – zumindest unterstellen wir das.
Aber das entspricht nicht der Realität.
Wenn man sich das Bildungswesen anschaut, sieht man bereits, dass es mit der Chancengleichheit hapert. Die Bildung von Kindern und Jugendlichen ist abhängig von vielen Faktoren wie beispielsweise dem Migrationshintergrund, den familiären Verhältnissen und der wirtschaftlichen Situation des Elternhauses oder auch der Region, in der man lebt.
Das alles führt dazu, dass die Chancen in unserer Gesellschaft nicht gleich verteilt und dadurch die Handlungsmöglichkeiten der benachteiligten Personen eingeschränkt sind. Wenn wir auf diesen empirischen Erkenntnissen aufbauen, dann dürfte eigentlich keiner mehr in unserer Gesellschaft sagen, dass soziale Ungleichheit gerecht ist.
Nehmen bedürftige Menschen soziale Ungleichheit anders wahr als wohlhabende Menschen?
In einer Untersuchung konnte ich zeigen, dass Personen aus unteren Einkommensgruppen die Gehaltsspreizungen zwischen Managern und Arbeiterinnen als nicht so stark wahrnehmen. Wenn wir nur wenig Geld haben, unterschätzen wir eher, was Menschen verdienen, die an der Spitze der Einkommensskala stehen. Allerdings wünschen wir uns dann insgesamt auch mehr Gleichheit als Personen oberer Einkommensgruppen.
Wie kommt es zu diesen Verzerrungen?
Ich kann nur Vermutungen darüber anstellen. Menschen unterer Einkommensgruppen können sich vielleicht oft gar nicht vorstellen, wie viel Geld wohlhabenden Menschen zur Verfügung steht. Und reiche Menschen können sich nicht vorstellen, mit wie wenig Geld arme Menschen auskommen müssen.
Weil sie in ihrem eigenen Alltag anderes erfahren?
Wir umgeben uns gewollt oder ungewollt mit Menschen, die uns eher ähnlich sind. Unsere Freunde und Freundinnen haben ähnliche Interessen, wir kennen uns von der Arbeit, aus der Uni oder der Ausbildung. Wenn wir keine oder nur unzureichende Informationen über die verschiedenen Einkommensverhältnisse in der Gesellschaft haben, ist unser Abstraktionsvermögen gefordert. Dann greifen wir auf Denkmechanismen zurück, die uns dabei unterstützen, etwas einzuschätzen und zu entscheiden.
Ein Mechanismus ist die sogenannte Verfügbarkeitsheuristik. Diese besagt, dass wir die Häufigkeiten und auch die Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen überschätzen, wenn sie uns gedanklich schneller zugänglich sind oder leichter abgerufen werden können. Und das sind insbesondere Ereignisse, die uns in unserem Alltag begegnen. Kurzum: Wir überschätzen also eher, was uns vertraut ist.
Was bedeutet das für unseren Blick auf die Welt und andere Menschen?
Die Vermutung ist, dass unser Bild von sozialer Ungleichheit auf einer Verallgemeinerung dessen fußt, was wir in unserem direkten Umfeld wahrnehmen und was uns vertraut ist. Da wir uns eher in gleichartigen Kontexten aufhalten, unterschätzen wir häufig das Ausmaß gesellschaftlicher Ungleichheit.
Diese Wahrnehmungsverzerrungen sind allerdings kein Einzelfall und treten auch in anderen Bereichen auf. Werden Personen beispielsweise gefragt, wo sie sich selbst auf einer Skala von eins bis zehn in der Gesellschaft verorten, lässt sich eine Tendenz zur Mitte feststellen: Personen mit geringem Einkommen verorten sich selbst weiter oben, auch wenn sie nicht zur Mittelschicht gehören, während Personen mit sehr hohem Einkommen sich weiter unten verorten, als es objektiv ihrer Lage entspricht.
Macht das die Menschen nicht auch zufriedener, wenn sie sich auf der gesellschaftlichen Skala bei vier sehen, obwohl sie eigentlich auf zwei stehen?
Man ist nicht nur zufriedener, wenn man sich selbst in der Gesellschaftshierarchie weiter oben verortet, sondern auch dann, wenn man die Einkommensverteilung in der Gesellschaft als gerechter wahrnimmt. Interessant wäre nun die Frage: Nehme ich mich selbst weiter oben und die Gesellschaft als gerechter wahr, damit ich zufriedener bin? Also: Reden wir es uns schöner, als es ist?
Wie groß die soziale Ungleichheit ist, sagt allein also nichts über die Zufriedenheit der Menschen aus?
Ich würde es so formulieren: Die Wahrnehmung von sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft und die Wahrnehmung der eigenen Position in der Gesellschaftshierarchie sind zwei zentrale Mechanismen, um zu verstehen, ob und wann Ungleichheiten unzufrieden machen.
Und wann sind wir zufrieden oder unzufrieden?
Entscheidend dafür, wie zufrieden jemand ist, ist nicht nur seine finanzielle Situation im absoluten Sinne, sondern auch, wo die Person sich im Verhältnis zu anderen in der Gesellschaft sieht. Dabei ist entscheidend, mit wem ich mich vergleiche. Aber wie man sich selbst einschätzt und wo man sich in der Statushierarchie verortet, hängt auch davon ab, ob man in einem Land mit größeren Einkommensunterschieden lebt wie in Großbritannien oder in einem Land mit geringeren Gehaltsunterschieden wie in Dänemark.
Der eigene Status wird also in verschiedenen Ländern unterschiedlich wahrgenommen?
Meine Forschungsergebnisse für Europa zeigen, dass sich Menschen selbst eher weiter oben einstufen, wenn sie in gleichen Gesellschaften leben. Ist ein Land besonders ungleich, tendieren die Menschen aller Einkommensgruppen dazu, sich in der sozialen Hierarchie eher weiter unten zu verorten, auch Personen, die sehr viel verdienen. Das zeigt, dass selbst wohlhabende Menschen von mehr Gleichheit profitieren.
Wieso ist das so?
Da kann ich nur Vermutungen anstellen. Eine Überlegung ist, dass Menschen sich in weniger gleichen Gesellschaften eher mit jenen vergleichen, die über ihnen stehen. Der Blick reicht dort sehr viel weiter in die Höhe und man fühlt sich kleiner und eher in einer abgehängten Position. Das ist mitunter auch ein Grund dafür, warum Menschen in weniger gleichen Ländern auch tendenziell unzufriedener mit ihrem Leben sind als Menschen, die in eher gleichen Regionen leben.
Was kann denn die Politik aus Ihren Forschungsbefunden lernen?
Wenn wir annehmen, dass jeder durch harte Arbeit und Leistung in der Gesellschaft vorankommen kann, nehmen wir Ungleichheit nicht mehr als ein soziales Problem wahr, das gesellschaftlicher Interventionen bedarf, sondern schieben die Verantwortung dem Individuum zu. Zudem tendieren wir dazu, Ungleichheiten als geringer wahrzunehmen, als sie eigentlich sind. Dabei wissen wir, dass es Ungleichheiten gibt, dass diese Diskrepanzen groß sind und weltweit sogar steigen und dass es strukturelle Gründe dafür gibt, dass Chancen nicht gleich verteilt sind.
Erst wenn wir aber diese Ungleichheiten wahrnehmen und die zugrunde liegenden Prozesse als illegitim bewerten, entsteht in uns ein Wille zum Handeln und dazu, jene Strukturen zu verändern, die Ungleichheiten fördern. Damit würde sich dann auch der Druck auf politische Entscheidungsträger erhöhen, diese Strukturen aufzubrechen und gegen soziale Ungleichheiten verstärkt vorzugehen.
Gefährdet die Ungleichheit den Zusammenhalt unserer Gesellschaft?
Wir sehen Tendenzen zu einer Polarisierung in der Gesellschaft und dass sich zum Beispiel größere Bevölkerungsgruppen abgehängt fühlen. Das ist besorgniserregend. Der Anstieg der Miet- und Energiepreise könnte die Brisanz dieses gesellschaftlichen Problems durchaus noch erhöhen.
Simone M. Schneider ist Soziologin und forscht am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik sowie an der spanischen Universität Pompeu Fabra zu Themen der sozialen Ungleichheit. Ihre Arbeit wird vom Europäischen Forschungsrat gefördert.