Frau Al-Dawaf, streben deutsch-türkische Jugendliche häufiger einen hohen Schulabschluss und einen akademischen Beruf an als Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund?
Ja, in meiner Studie äußerten die Jugendlichen mit Migrationshintergrund deutlich häufiger Berufswünsche wie Anwältin oder Anwalt, Arzt oder Ärztin sowie Ingenieurin oder Ingenieur, und zwar unabhängig davon, welche Schulart sie besuchten, und auch unabhängig von ihren eigenen schulischen Leistungen. Sie wollen lieber studieren, als eine…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
uchten, und auch unabhängig von ihren eigenen schulischen Leistungen. Sie wollen lieber studieren, als eine Ausbildung machen.
Warum?
Hohes Ansehen, gutes Einkommen und Aufstiegsmöglichkeiten zählen zu den zentralen Faktoren, die die Wahl ihrer beruflichen Ziele bestimmen.
Die Statistiken in Deutschland zeigen aber ein anderes Bild: Jugendliche mit Migrationshintergrund bleiben im Durchschnitt häufiger ohne Schul- oder Berufsabschluss und sie studieren seltener. Wie passt das mit Ihren Ergebnissen zusammen?
Man geht immer davon aus, dass die Jugendlichen der zweiten Generation von Zugewanderten hier aufgewachsen sind, berücksichtigt dabei aber nicht, dass sie in ihren Familien von einem anderen Wertesystem geprägt sind. Meine These ist, dass die kulturellen Werte sich auf das Selbstverständnis der jungen Menschen auswirken. Dies wiederum ist entscheidend dafür, welches Berufsziel verfolgt wird. Wenn wir diese kulturelle Prägung nicht berücksichtigen, können wir die Jugendlichen bei der Entwicklung ihrer beruflichen Ziele nicht richtig verstehen und unterstützen.
Wie wirkt sich das konkret auf die Jugendlichen aus?
In den Interviews, die ich für meine Untersuchung geführt habe, zeigte sich, dass die Jugendlichen mit Migrationshintergrund schlechter über Ausbildungswege und Berufsmöglichkeiten informiert sind, dass sie unter einem hohen Erwartungsdruck stehen und dazu tendieren, Berufswünsche zu hegen, die für sie nur schwer erfüllbar sind. Oft haben sie unrealistische Vorstellungen von den beruflichen Aufgaben und auch von ihren eigenen Fähigkeiten. Stattdessen prägen Traumberufe aus der Kindheit über einen langen Zeitraum die beruflichen Zielvorstellungen.
Was passiert, wenn die beruflichen Ziele nicht mit den realistischen Chancen im Bildungssystem und am Arbeitsmarkt zusammenpassen?
Die jungen Leute sind häufig nicht gut auf den Übergang von Schule zu Beruf vorbereitet. Denn mit einem Mittelschulabschluss werden sie nicht Arzt oder Anwältin. Stattdessen nehmen sie häufig ad hoc einen Ausbildungsplatz an, der ihnen vorgeschlagen wird oder gerade frei ist, aber nicht unbedingt ihren Interessen und Fähigkeiten entspricht.
Meist werden Berufe gewählt, die von Berufsberatungen oder Lehrkräften vorgeschlagen wurden oder die sie in einem Praktikum kennengelernt haben. Durch diese Diskrepanz zwischen Erwartungen und Realität kommt es auch eher dazu, dass die jungen Menschen Misserfolge haben und ungelernt bleiben, weil sie zwischen den Stühlen sitzen, nicht verstanden werden oder Erwartungen nicht erfüllen können.
Wonach haben Sie die Teilnehmer für Ihre Studie ausgewählt?
Ich habe insgesamt 80 Schülerinnen und Schüler zwischen 14 und 19 Jahren befragt, die verschiedene Mittel-, Real-, Wirtschafts- und Fachoberschulen in Bayern besuchen. Davon hatten 35 keinen Migrationshintergrund, die anderen 45 Jugendlichen sind in Deutschland aufgewachsen, kommen aber aus türkischen Familien. Und die türkische Kultur gilt als eine Kultur mit einer hohen Machtdistanz.
Was bedeutet das genau?
In einer solchen Kultur gehen die Mitglieder der Gesellschaft davon aus, dass die Macht sehr ungleich verteilt ist, und das wird eher akzeptiert. Im Vergleich zu Deutschland hat die Türkei eine hohe Machtdistanz. Solche Gesellschaften sind insgesamt stark hierarchisch organisiert, auch in Familie, Schule und am Arbeitsplatz. Statussymbole sind von entscheidender Bedeutung und handwerkliche Tätigkeiten haben einen deutlich niedrigeren Stellenwert als Bürotätigkeiten oder akademische Berufe. Dass aber in Deutschland das Handwerk ein hohes Ansehen und das duale Ausbildungssystem eine hohe Wertigkeit hat, ist den Familien oft nicht bewusst.
Und dann erwarten die Eltern, dass ihr Kind Ingenieurin statt Mechatronikerin oder Arzt statt Erzieher wird, auch wenn die Jugendlichen die Mittelschule besuchen.
Genau. Es zeigte sich, dass die Jugendlichen sich mit den Aufgaben ihrer Berufswünsche nicht realistisch auseinandergesetzt haben. Sie werden häufig nicht richtig reflektiert, weil nicht so sehr die eigenen Interessen und Fähigkeiten eine Rolle spielen, sondern der Status, den der Ingenieur oder die Anwältin repräsentiert. Die hohen Positionen wurden von den Jugendlichen nur mit positiven Attributen verbunden und akademische Berufe oder Büroarbeiten so interpretiert, dass man dann sein eigener Chef oder seine eigene Chefin sei.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Die jungen Menschen hatten mitunter die Vorstellung, dass Zahnarzt ein sehr bequemer Beruf sei, bei dem man im Gegensatz zu zahnmedizinischen Fachangestellten nicht viel arbeiten müsse. Der Polizeidienst wurde auch häufig als Berufswunsch genannt, weil er mit hohem Ansehen und Macht assoziiert wird. Den Jugendlichen war oft nicht bewusst, dass dabei weitere Kompetenzen erforderlich sind und man zum Beispiel auch mehr Verantwortung hat.
Woran liegt es, dass die Jugendlichen so unrealistische Vorstellungen von den Berufen haben?
Bevor ich mich für einen Beruf entscheide, muss ich mich informieren, reflektieren, ob mich die Aufgaben interessieren und sie realistisch für mich erreichbar sind. Diese Auseinandersetzung findet aber oft nicht statt, weil die Eltern das Bildungssystem und den Berufsauswahlprozess nicht kennen und dabei nicht helfen können. Die jungen Menschen bekommen zwar den emotionalen Rückhalt in ihren Familien, es fehlt aber das Wissen über konkrete Berufsbilder und Karriereverläufe.
In einer Kultur mit großer Machtdistanz ist der Respekt vor Institutionen größer. Da fühlt man sich eher als kleine Person, die sich nicht mit jedem Anliegen an die Schule wenden kann. Die Eltern haben gelernt, sich höflich im Hintergrund zu halten, und gehen davon aus, dass die Schule den Bildungsauftrag hat, sehen weniger ihre eigene Bringschuld und ergreifen seltener die Eigeninitiative – wie es aber in Deutschland erwartet wird. Aus deutscher Perspektive entsteht dann der Eindruck, dass türkische Eltern sich nicht richtig kümmern. Das stimmt aber nicht. Es ist nur der Blick durch die kulturelle Brille.
Aber die Jugendlichen wissen doch sicherlich, dass ein Mittelschulabschluss für die Universität nicht reicht.
Die Jugendlichen reflektieren teilweise schon, dass sie dann an ihre Kompetenzgrenzen stoßen, aber ihre Eltern bestehen dennoch darauf, dass sie einen Beruf wählen, der für sie mit einem hohen Status verbunden ist.
Das klingt, als würde ein großer Druck auf den Jugendlichen lasten, weil die beruflichen Erwartungen und die eigenen schulischen Leistungen so weit auseinanderdriften.
Ja, sie stehen unter massivem Druck, etwas zu erreichen, was sie vielleicht nicht erreichen können – aber vielleicht ja auch nicht erreichen müssen. Einen Beruf mit Anerkennung und Ansehen kann man in Deutschland auch durch einen Handwerksberuf oder eine duale Ausbildung erreichen. Die Lehrkräfte und Berufsberatenden müssen aber wissen, was hinter den Berufswünschen steckt. Sie müssen verstehen, welche Bedeutung die kulturelle Prägung und die damit verbundenen Wertvorstellungen für die Motive der Jugendlichen haben.
Heißt das nicht auch, dass die Eltern sich nicht wirklich dafür interessieren, was ihr Kind möchte und gut kann, sondern nur ein Beruf mit hohem Status wichtig ist?
Natürlich interessieren die Eltern sich dafür. Der türkischen Mutter ist es nicht egal, sondern aus ihrer Elternrolle heraus ist es ihre Pflicht, die Tochter darauf hinzuweisen, dass sie Ärztin werden soll, damit es ihr später besser geht. Durch die eigene Wertehaltung ergeben sich diese Wünsche. Wenn ich davon ausgehe, dass ein Handwerker nicht respektiert und nicht gut behandelt wird, möchte ich den Beruf natürlich nicht für meinen Sohn oder meine Tochter.
Wir müssen aufpassen, dass wir das nicht durch unsere kulturelle Brille betrachten und bewerten. Die Orientierung an den eigenen individuellen Wünschen ist ein Wert, den wir in Deutschland aufgrund einer sehr individualistisch geprägten Kultur haben. Hier ist man bestrebt, so früh wie möglich als Individuum unabhängig zu sein, für den eigenen Lebensunterhalt aufzukommen und die eigenen Interessen zu verwirklichen.
Die Eltern spielen also bei der Berufswahl nach wie vor eine große Rolle?
Ja, und zwar sowohl bei Jugendlichen mit als auch ohne Migrationshintergrund. Beide Gruppen beschreiben ihre Familien als wichtige Unterstützung in dem Prozess. Alle Eltern wollen das Beste für ihre Kinder und bemühen sich, aber die Erwartungen der Eltern sind kulturell bedingt und daher unterschiedlich. Als Mutter oder Vater will ich, dass es meinem Kind gutgeht, aber die Vorstellung, welcher Beruf zu diesem guten Leben führen kann, ist von meinen kulturellen Werten geprägt.
Wie hat sich das konkret in den Interviews gezeigt?
Dass Eltern ihrem Kind auch zu einer Ausbildung geraten hatten, obwohl das Kind einen höheren Schulabschluss anstrebte, kam nur bei Familien ohne Migrationshintergrund vor. Umgekehrt haben Eltern mit Migrationshintergrund ihrem Kind eher zu einem Studium geraten, auch wenn das Kind eine Ausbildung in Erwägung gezogen hatte.
Auffällig in Ihrer Studie war auch, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund im Gegensatz zu der anderen Gruppe kaum Konflikte innerhalb der Familie erwähnten, wenn es um berufliche Ziele ging.
In Kulturen mit hoher Machtdistanz werden ältere Personen stärker respektiert und die Kinder eher dazu erzogen, nicht zu widersprechen und die Meinung von Eltern und anderen Verwandten zu berücksichtigen. Das sind auch Gründe, warum die von den Eltern vorgeschlagenen Berufsziele eine hohe Bedeutung für ihre Kinder haben. Wichtig zum Verständnis ist auch, dass Menschen mit türkischem Migrationshintergrund eher eine kollektivistische Orientierung und damit ein interdependentes Selbstverständnis aufweisen.
Wie meinen Sie das?
Das heißt, sie stellen die Bedürfnisse und Ziele der sozialen Gruppe über die persönlichen Bedürfnisse und Ziele. Dafür erhalten sie im Gegenzug bedingungslose Unterstützung der Gemeinschaft. In diesem Spannungsverhältnis befinden sich die Jugendlichen – zwischen der deutschen Kultur, der sie angehören möchten, und der Werteorientierung ihrer Familie.
Birgt Ihr Ansatz, die Berufswahl der Jugendlichen mit kulturellen Differenzen zu erklären, nicht auch die Gefahr der Stereotypisierung?
Es ist zunächst positiv, wenn man die Menschen nicht aufgrund ihres kulturellen Hintergrunds bewerten möchte. Stereotypisierung ist aber ein automatischer psychologischer Prozess, der unbewusst abläuft. Um mich zu orientieren, muss ich soziale Kategorien bilden, weil ich sonst die Reize in der Umwelt gar nicht erfassen kann.
Stereotypisierung wird nur etwas Schlechtes, wenn ich das Individuum aufgrund der Stereotype beurteile und nicht offen bin, die Realität und den Einzelnen zu sehen. Es geht darum, zu verstehen, was hinter den Motiven der Jugendlichen steckt und wie man damit arbeiten kann. Wenn ich Angst habe, die Kultur als Erklärung zu verwenden, kann ich auch meine eigene kulturelle Brille nicht ablegen. Und dann entstehen Missverständnisse.
Damit wird aber den Jugendlichen immer das Label „mit Migrationshintergrund“ oder „mit türkischen Wurzeln“ aufgedrückt.
Wenn man die Jugendlichen nach ihrer Identität fragt, bezeichnen sie sich selbst als türkisch und deutsch. Das bedeutet, dass es sehr wohl Kategorien sind, die für sie eine Rolle spielen. Im Unterschied zu ihren Altersgenossen leben Jugendliche mit Migrationshintergrund parallel in zwei kulturellen Kontexten. Das ist eine Herausforderung für ihre Identitätsentwicklung.
Die Jugendlichen nehmen diese Bikulturalität aber häufig nicht als etwas Positives wahr. Dabei ist es wichtig und gehört zur sozialen Identität, dass man sich dann auch mit den Gruppen, denen man sich zugehörig fühlt, identifiziert. Es würde den Jugendlichen guttun, wenn sie das dürften und die „türkischen Wurzeln“ nicht negativ besetzt wären. Denn wenn ich meine Zugehörigkeit verleugne, geht ein wesentlicher Teil meiner Identität verloren.
Wie haben Sie das persönlich erlebt?
Ich bin halb deutsch, halb arabisch, in Deutschland geboren, in Bagdad aufgewachsen und als junge Erwachsene wieder zurück nach Deutschland gekommen. Ich kann verstehen, dass Jugendliche, die in Deutschland aufgewachsen sind, nicht anders als ihre Klassenkameraden sein möchten. Dadurch, dass ich nicht hier aufgewachsen bin, habe ich einen positiveren Zugang zu meiner Bikulturalität. Ich empfinde es auch als Bereicherung und nicht als Beleidigung, wenn ich gefragt werde, woher ich komme.
Welche Konsequenzen sollten wir aus den Ergebnissen Ihrer Studie für das deutsche Bildungssystem ziehen?
Meine Ergebnisse zeigen, wie wichtig die Orientierungshilfen in den letzten Schuljahren sind. Jugendliche mit türkischem Hintergrund messen Institutionen wie Schule und Berufsberatung in dem gesamten Berufsauswahlprozess eine höhere Bedeutung bei als Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund, besonders im Bewerbungsprozess, beim Sammeln von Informationen und bei der Berufssuche. Auffällig ist auch, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund durchschnittlich 1,7 Jahre älter sind, wenn sie sich erstmals konkret mit ihrer beruflichen Laufbahn befassen. Wichtig ist also, sie bereits früh gut zu informieren, besonders auch über den hohen Wert der dualen Ausbildung in Deutschland. Und dass man die Eltern aktiv miteinbezieht.
Was würden Sie ganz konkret Berufsberaterinnen und Lehrkräften empfehlen?
Ich würde ihnen raten, eine offene und empathische Haltung einzunehmen, nicht stark von sich selbst auszugehen, geduldig zuzuhören und nicht zu schnell etwas vorzuschlagen. Es hilft dabei schon sehr, die kulturellen Hintergründe der Jugendlichen miteinzubeziehen und zu berücksichtigen, dass es ein anderes Wertesystem in der Familie gibt. Wenn wir besser verstehen, warum die Jugendlichen so handeln und was hinter ihren beruflichen Vorstellungen steckt, dann können wir sie auch besser unterstützen.
Nadja Al-Dawaf ist Psychologin und forscht und lehrt an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. In ihrer Dissertation "Die Entwicklung beruflicher Zielvorstellungen bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund" untersuchte sie, wie kulturelle Differenzen die Berufswahl von Jugendlichen beeinflussen.