Frau Professorin Mesquita, im preisgekrönten Animationsfilm Alles steht kopf werden fünf Emotionen in Form von Figuren dargestellt, die in einem Mädchen namens Riley leben und sie mithilfe eines Schaltpultes durch den Alltag führen. Wenn beispielsweise die gelbe Figur Freude die Kontrolle hat, fühlt sich Riley froh und ausgelassen; wenn der rote Ärger das Steuer übernimmt, kocht in dem Mädchen Zorn hoch. In Ihrem jüngsten Buch Between Us bezeichnen sie den Film als entzückend und weise, aber Sie geben zu…
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Buch Between Us bezeichnen sie den Film als entzückend und weise, aber Sie geben zu bedenken, dass die Darstellung der Emotionen ziemlich westlich orientiert ist. Was meinen Sie damit?
Der Film spiegelt in mehrfacher Hinsicht eine westliche Vorstellung wider. Erstens verstehen die Filmemacher Emotionen als rein mentale Phänomene, die im Inneren eines Menschen existieren. Zweitens werden Emotionen vornehmlich als Gefühle dargestellt. Und drittens sehen die Emotionen immer gleich aus. In anderen Kulturen dagegen verstehen die Menschen Emotionen viel häufiger als Phänomene, die nicht in, sondern zwischen Menschen auftreten. Sie umfassen auch nicht schwerpunktmäßig Gefühle, sondern eher Handlungen und Verhaltensweisen. Schließlich sind Emotionen nicht fix, sondern werden maßgeblich von den Situationen bestimmt, in denen sie stattfinden.
Sie bezeichnen diese unterschiedlichen Vorstellungen mit den Akronymen mine und ours.
Richtig. Der Film Alles steht kopf erfasst Emotionen so, wie sie in vielen westlichen Kulturen erlebt und verstanden werden, als mine-Emotionen: m steht für mental, in für innerlich und e für essenziell, im Sinne von immer mit den gleichen Eigenschaften. Die andere Art, Emotionen zu verstehen, die heute in vielen nichtwestlichen Ländern vorherrscht und auch im Laufe der menschlichen Geschichte überwog, bezeichne ich als ours: ou für outside, also außerhalb der Person, r für relational, also beziehungsorientiert, und s für situationsgebunden.
In den letzten Jahrzehnten haben Sie mit Ihrem Team zahlreiche Studien durchgeführt, die die Unterschiede zwischen der mine- und der ours-Sichtweise belegen. Als Sie Ende der 1980er Jahre an der Universität von Amsterdam mit Ihrer Forschung begannen, wie sah da das wissenschaftliche Modell von Emotionen aus?
Es ähnelte sehr der Vorstellung im Pixarfilm. In der Psychologie ging man davon aus, dass es eine begrenzte Zahl von universellen Basisemotionen gibt – wie Zorn, Angst, Traurigkeit, Freude, Überraschung, Ekel –, mit denen alle Menschen geboren werden und die jeder auch bei anderen erkennt. Diese Emotionen sah man als evolutionär verdrahtete Programme im Hirn, die bei jedem im Prinzip gleich ablaufen und die unabhängig von der Kultur sind, in der man lebt.
Auch Ihre ersten Studien basierten auf diesem Modell.
Richtig, aber ich stieß damit schnell auf Probleme.
Inwiefern?
In einer Pilotstudie für meine Doktorarbeit rekrutierte ich niederländische Personen sowie Menschen, die aus der Türkei und aus Surinam in die Niederlande emigriert waren. Ich wollte herausfinden, was die wichtigsten emotionalen Konzepte in diesen Gruppen sind. Basierend auf einer damals gängigen Methode bat ich die Teilnehmenden, innerhalb von 15 Minuten so viele Emotionswörter aufzulisten wie möglich. Ich hatte erwartet, dass sie Basisemotionen am häufigsten nennen würden. Aber genau das passierte nicht.
Es zeigte sich, dass die Leute, die aus der Türkei oder Surinam stammten, viele Wörter auflisteten, die wir im Westen gar nicht als Emotionen, sondern als Verhaltensweisen bezeichnen würden, Dinge wie Weinen, Lachen, Helfen und Schreien. Zudem nannten sie oft Wörter wie Verlangen und Vermissen, die man kaum verwenden kann, ohne zu sagen, wen man begehrt oder wen man vermisst. Sie sind also relational. Auch die niederländischen Befragten erwähnten Verhaltensweisen und relationale Gefühle, aber nicht so häufig.
Haben Sie aus diesen Beobachtungen geschlossen, dass die universellen Emotionen vielleicht gar nicht so universell sind?
Nein, damals noch nicht. Ich dachte, die Leute liegen einfach falsch. Wenn sie statt Gefühlen Verhaltensweisen wie Lachen und Schreien nennen, dann wissen sie halt nicht genau, was Emotionen sind. Ich habe diese Wörter zwar in meiner Doktorarbeit erwähnt, aber dann doch mit den „universellen“Gefühlen weitergearbeitet und einfach ignoriert, dass es nicht die am häufigsten erwähnten emotionalen Wörter waren. Rückblickend ist mir klar, dass ich von meinen eigenen kulturell basierten Vorstellungen darüber, was Emotionen sind, und von einem wissenschaftlichen Konsens, der aus derselben Kultur stammt, verblendet war.
Wann wurden Ihnen diese Scheuklappen bewusst?
Das war Anfang der 2000er Jahre, als ich eine Studie gemeinsam mit meiner japanischen Kollegin Mayumi Karasawa durchführte. In Interviews baten wir Menschen in Japan, die Intensität ihrer Emotionen in zurückliegenden Situationen zu bewerten, eine Aufgabe, die niederländische Befragte recht einfach fanden. Aber die Japaner und Japanerinnen verstanden die Frage einfach nicht. Ehrlich gesagt war ich etwas genervt und dachte: „Wie können sie eine so simple Frage nicht verstehen?“ Aber Mayumi erklärte mir, dass es einen Grund gab, warum sie nicht in der Lage waren, über die Intensität ihrer Emotionen zu berichten: Die Frage ergibt in der japanischen Kultur keinen Sinn. Wir haben uns dann für eine andere Formulierung entschieden: „Wie wichtig war das emotionale Ereignis?“
Und mit dieser Frage konnten die japanischen Befragten etwas anfangen?
Ja. Von Mayumi habe ich viel darüber gelernt, wie anders Japaner und Japanerinnen Emotionen erleben und verstehen, nämlich nicht als Gefühle im Inneren, die mehr oder weniger intensiv sein können, sondern als Interaktionen zwischen Menschen, die mehr oder weniger wichtig für die Beziehung sind. Es gab noch weitere Fragen, über die die japanischen Teilnehmenden stolperten und die wir deshalb umformulierten. Dabei ist mir klargeworden, wie sehr die damalige Emotionspsychologie eine Wissenschaft von und für westliche Kulturen war …
... also WEIRD-Kulturen, wie sie der Anthropologe Joe Henrich und sein Team in einem Artikel von 2010 nannten (lesen Sie hierzu das Interview mit Henrich in Heft 12/2022).
Richtig. Dieser Beitrag war sehr einflussreich, weil er zum Ausdruck brachte, dass Studienbefunde aus dem Westen nicht einfach auf andere Kulturen übertragen werden können. In den letzten beiden Jahrzehnten hat da ein Umdenken in der Psychologie eingesetzt. Immer mehr Studien belegten, dass grundlegende psychologische Prozesse von Kultur zu Kultur sehr unterschiedlich ablaufen können und dass die Umgebung, in der ein Mensch lebt, seine Kognitionen, seine Wahrnehmungen, Attributionen und eben auch Emotionen fundamental beeinflussen kann.
In einer zweiten Studie mit Personen, die aus den Niederlanden stammten, und solchen, die aus der Türkei und Surinam eingewandert waren, dokumentierten Sie, wie unterschiedlich mine- und ours-Emotionen sind.
Ja, wir rekrutierten neue Teilnehmende aus diesen drei Gruppen und befragten sie detailliert zu Situationen, in denen sie Komplimente erhalten oder einen großen Erfolg erzielt hatten. Die Immigranten und Immigrantinnen schilderten anschaulich, wie Emotionen zwischen Menschen „passierten“. Nehmen Sie beispielsweise einen jungen türkischen Mann, den ich in meinem Buch Levent nenne. Er erzählte davon, dass er bei einer nationalen universitären Aufnahmeprüfung ganz oben gelandet war, was ihm den Zugang zur besten türkischen Hochschule ermöglicht hatte.
Sein Stolz war vollkommen von seinen Eltern geteilt worden. Sein Vater hatte Verwandte und Bekannte zu einer großen Party eingeladen; seine Mutter hatte seinen Studentenausweis herumgezeigt. Levent berichtete, dass sich sein Ansehen und das Ansehen seiner Familie durch seinen Erfolg kolossal verbessert hatten, was ihm klarwurde, als die Leute plötzlich wollten, dass er ihre Töchter heiratete.
Aber Levent hatte sich doch sicher auch innerlich gut gefühlt, oder nicht?
Doch, natürlich. Er berichtete beispielsweise, dass sein Selbstwertgefühl gestiegen war. Aber der Schwerpunkt seiner emotionalen Erfahrungen hatte eindeutig in der sozialen Welt und nicht im subjektiven, inneren Gefühl gelegen. Dies zeigte sich in vielen der türkischen und surinamischen Interviews: Emotionen wurden als Verschiebungen von Status, Ehre oder Macht beschrieben. Ganz anders bei den niederländischen Befragten.
Zum Beispiel bei einem jungen Mann, genannt Martin, der schilderte, wie er die Abschlussprüfung für einen Master im Bauingenieurwesen erfolgreich bestanden hatte. Er erzählte ausführlich, wie enorm erleichtert und stolz er auf seine Leistung gewesen war. Auch er hatte seinen Erfolg mit Freunden und Familie geteilt und sie hatten sich mit ihm gefreut. Aber wenn man seine Erzählung verfolgt, sieht man, dass der Fokus auf den Gefühlen im Inneren gelegen hatte.
In Ihrem Buch legen Sie dar, dass Emotionen nicht nur in westlichen und nichtwestlichen Kulturen sehr unterschiedlich verstanden werden, sondern dass auch zwischen westlichen Kulturen große Unterschiede bestehen. Sie können da auf eigene Erfahrungen zurückblicken.
Nach meiner Promotion 1993 zog ich in die Vereinigten Staaten und lebte dort 15 Jahre lang. Mein erstes Jahr erinnere ich als sehr holprig. Zu Hause in den Niederlanden war ich es gewohnt, ein sozial versierter und emotional intelligenter Mensch zu sein. Aber im Umgang mit meinen Kollegen und Kolleginnen an der University of Michigan erlebte ich mich oft emotional „aus dem Takt“. Es kam immer wieder zu Situationen, in denen ich mich unwohl fühlte oder anderen auf die Füße zu treten schien.
Können Sie ein Beispiel schildern?
Einmal nahm ich als Gast an einem Seminar über Emotionen teil. Als ich mich den anderen vorstellte, sagte ich so etwas wie: „Nun, ich interessiere mich für den Zusammenhang zwischen Kultur und Emotionen.“ Der Professor ergriff das Wort und sagte zu den Studierenden: „Sie müssen wissen, dass Batja kürzlich eine maßgebliche Übersichtsstudie publiziert hat und die weltweit führende Expertin zu diesem Thema ist.“ Mir war das sehr peinlich. Ich schaute auf den Boden und murmelte, Expertin sei ein großes Wort. Die Situation war für uns beide unangenehm.
Sie waren es nicht gewohnt, so gelobt zu werden?
Richtig. In der niederländischen Kultur ist es wichtig, dass alle ebenbürtig sind und niemand auf ein Podest gestellt wird. Ich erinnere mich, dass ich als Kind meine Mutter fragte, ob ich hübsch sei, und sie sagte: „Oh, du bist durchschnittlich hübsch.“ In den USA dagegen hebt man in alltäglichen Interaktionen die Anstrengungen und Leistungen von anderen hervor. Jeder ist bemüht, dem anderen ein gutes Gefühl über sich zu verschaffen. Diese unterschiedlichen Sichtweisen sind tief in der Kultur verankert und werden schon ganz früh in der Kindheit gelernt.
Angesichts Ihrer Erfahrungen könnte man schlussfolgern, dass es schwierig ist, Menschen aus anderen Kulturen emotional zu verstehen. Sind Sie pessimistisch, was das angeht?
Nein, ganz im Gegenteil. Im Laufe meiner Zeit in den USA habe ich die amerikanische Art, Emotionen zu leben, immer besser begriffen und konnte sie auch meinen niederländischen Gästen verständlich machen, die sich manchmal über Äußerungen oder Verhaltensweisen wunderten. Ich habe immer noch das Gefühl, dass ich das spezifische emotionale Repertoire nicht so beherrsche, wie es gebürtige Amerikanerinnen tun. Aber ich bin in meinem emotionalen Erleben und Ausdruck auf jeden Fall amerikanischer geworden, insbesondere wenn ich mich in den Vereinigten Staaten aufhalte.
Es ist also möglich zu lernen, wie Emotionen in anderen Kulturen gehandhabt werden?
Ja, durchaus, aber es braucht eine Weile. Auch die Forschung zeigt, dass die Zeit, die man in einer fremden Kultur verbracht hat, ein guter Indikator dafür ist, wie emotional ähnlich man den Einheimischen geworden ist.
Nicht jede wandert gleich aus. Was kann man sonst tun, um das emotionale Erleben in einem anderen Kulturkreis besser zu verstehen?
Es reicht nicht aus, nur Emotionswörter zu übersetzen, sondern man muss sich emotionale Situationen genau ansehen. Dabei kann das ours-Modell helfen. Indem es aufzeigt, wie Emotionen mit den Sozialbeziehungen und der gesellschaftlichen Position eines Menschen verbunden sind, liefert es Werkzeuge, um Unterschieden im emotionalen Erleben auf die Spur zu kommen (siehe Artikel Emotionale Episoden entschlüsseln im selben Heft).
Das ist übrigens nicht nur in interkulturellen Kontexten hilfreich, sondern auch bei Begegnungen mit Menschen anderen Geschlechts, Alters oder Einkommens. Es ist immer hilfreich, sich klarzumachen, dass Menschen, die in einem anderen Kontext leben als man selbst und andere Erfahrungen gemacht haben, Emotionen ganz anders verstehen und erleben können. Unsere Gefühle sind auf viele Weise sozial eingebunden. Eine ours-Perspektive einzunehmen – nicht als Ersatz für eine mine-Perspektive, sondern als Ergänzung – hilft, diese Verbindungen aufzudecken. Das macht es leichter, die Emotionen anderer Menschen und auch die eigenen zu begreifen.
Basisemotionen
Paul Ekman stellte in den 1960er Jahren die Theorie von den Basisemotionen auf. Er untersuchte in kulturvergleichenden Studien, wie Menschen den Gefühlsausdruck von Gesichtern interpretieren. Er kam zu der Überzeugung, dass sieben angeborene Grundemotionen rund um den Globus an einer jeweils charakteristischen Mimik erkannt werden: Überraschung, Freude, Angst, Traurigkeit, Wut, Verachtung und Ekel. In jüngster Zeit aber gibt es in der psychologischen Forschung Zweifel an der Universalität dieser Emotionen.
Batja Mesquita ist Direktorin des Center for Social and Cultural Psychology an der Katholicke Universiteit Leuven in Belgien.
Zum Weiterlesen
Batja Mesquita: Between Us. How Cultures Create Emotions. W. W. Norton, 2022