Emotionale Episoden entschlüsseln

Wie Menschen Gefühle erleben, hängt eng mit ihrem kulturellen Umfeld zusammen. Emotionsforscherin Mesquita erklärt, wie man sie erkennen kann

Zwei junge Frauen aus Japan liegen auf einem gelben Boden und lachen ausgelassen
Ein Lächeln als Ausdruck der Freude? Um Emotionen zu deuten, sollten sie in ihrem kulturellen Rahmen betrachtet werden. © Yagi Studio/Getty Images

In ihrem Buch Between Us stellt Kulturpsychologin Batja Mesquita eine Art Werkzeugkasten vor, um emotionale Episoden in ihrem Umfeld zu entschlüsseln. Er beinhaltet drei Fragenkomplexe:

Fragenkomplex 1: Kern der Situation

  • Um was genau geht es in der Situation?

  • Wie passt diese Situation in den soziokulturellen Kontext dieser Person?

  • Welche Ziele, Werte oder Rollenerwartungen werden berührt?

  • Was sind die sozialen Konsequenzen des Ereignisses?

Beispiel: Eine junge libanesische Frau namens Ramla, die dem Kri…

Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen

  • des Ereignisses?

Beispiel: Eine junge libanesische Frau namens Ramla, die dem Krieg entflohen ist und jetzt in Brüssel lebt, erzählt einer Psychotherapeutin, dass sie ihre alte, gebrechliche Mutter nicht auf eine Pilgerreise nach Mekka begleiten konnte. Sie weint dabei.

Aus westlicher Sicht könnte man die Tränen als Zeichen von Traurigkeit deuten. Aber auf Nachfrage der Therapeutin sagt die junge Frau, dass sie weint, weil sie Scham empfindet. Ihre Rolle als Tochter nicht so wahrnehmen zu können, wie es in der libanesischen Kultur erwartet wird, könnte sie in den Augen anderer weniger respektabel machen.

Fragenkomplex 2: Emotionen und soziale Bedeutung

  • Mit welchem Emotionswort oder emotionalen Ausdruck beschreibt die Person die Situation? Welche Emotion erlebt sie bei sich (und anderen)?

  • Was bedeutet dieses Emotionswort in der Kultur dieser Person und in dieser konkreten Situation?

  • Ist es „richtig“ oder „falsch“, diese Emotion in dieser Situation zu haben?

  • Hilft diese Emotion dem Menschen dabei, die Person zu sein, die sie sein will?

Beispiel: Eine niederländische Frau ist wütend, weil ihr Mann so spät nach Hause kommt. Sie hat ein besonderes Essen gekocht, und er hat sich nicht die Mühe gemacht, seinen abendlichen Termin zu erwähnen. Als er schließlich durch die Wohnungstür tritt, staucht sie ihn zusammen. Indem sie wütend wird, macht sie klar, dass sie sein Verhalten nicht in Ordnung findet und mehr Respekt für ihre Anstrengungen erwartet.

In vielen westeuropäischen Kulturen und in Nordamerika werde Wut als „richtige“ (oder zumindest verzeihliche) Emotion betrachtet, erläutert Mesquita. Es wird als normal und sogar nützlich angesehen, manchmal wütend zu sein. In vielen anderen Kulturen dagegen gelte Wut als falsch, schreibt Mesquita: „Für einen Utku-Inuit, eine buddhistische Tibeterin, einen Ifaluk oder sogar eine Japanerin wäre es fast unmöglich, die Wutkarte zu ziehen.“ Wut gelte hier als „unreife“ Emotion.

Fragenkomplex 3: Soziale Begegnungen als emotionaler Tanz

  • Welcher Tanz wird getanzt? Geht es um Respekt, Ehre, Harmonie, Selbstwertgefühl, gegenseitiges Bestärken?

  • Welche Schritte werden von einer Person erwartet? Mit welchen Schritten werden andere reagieren?

Es kann hilfreich sein, schreibt Mesquita, emotionales Verhalten als Tanz zu verstehen, den die Beteiligten ausführen. Den falschen Tanz zu tanzen, kann zu Missverständnissen und peinlichen Situationen führen, wie sie an einem persönlichen Beispiel deutlich macht:

Auf einer Konferenz in den USA begegnete die Forscherin auf der Damentoilette der Organisatorin des Kongresses. Mesquita wusste, wie viel Arbeit und Verantwortung die Kollegin hatte stemmen müssen, und so sagte sie mitfühlend zu ihr, sie sähe ein bisschen müde aus. Die Organisatorin blickte erschrocken und bestätigte, ja, sie müsse dringend ihren Lippenstift auffrischen. In den USA, so weiß Mesquita heute, wird oft der Tanz „Sich-gegenseitig-Aufwerten“ getanzt. Wäre ihr das damals schon bewusst gewesen, hätte sie der Kollegin eher gesagt: „Wow, so viel Arbeit, aber die Konferenz läuft großartig!“

Lesen Sie auch das Interview mit Batja Mesquita in der Ausgabe 8/2023.

Batja Mesquita ist Direktorin des Center for Social and Cultural ­Psychology an der Katholicke Universiteit Leuven in Belgien.

Zum Weiterlesen

Batja Mesquita: Between Us. How Cultures Create Emotions. W. W. Norton, 2022

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2023: Das ewig hilfreiche Kind