Der unsterbliche Mister Sacks

Auch nach seinem Tod sind die Fallgeschichten von Oliver Sacks noch genauso überraschend und lehrreich.

Die folgende Geschichte ist nicht von Stephen King. Sie handelt von Onkel Toby, der bei seiner Familie stumm und reglos in einer Ecke saß. Eines Tages hatten seine Bewegungen begonnen, sich zu verlangsamen, bis nahezu alles zum Stillstand gekommen war. Toby fühlte sich an wie aus Wachs. Als er nach Jahren von einem Arzt entdeckt und ins Krankenhaus gebracht wurde, maß das Thermometer eine 17 Grad zu niedrige Körpertemperatur. Ich verrate nun nicht, wie die Geschichte weiterging. Auch Sachbuchrezensenten dürfen nicht spoilern.

Nachzulesen ist die Sache mit Toby im neuen Buch von Oliver Sacks, der im Sommer 2015 mit 82 Jahren gestorben ist.

Es gibt Menschen, die sind offensichtlich unsterblich. Zu ihnen gehört Mister Sacks. Nicht nur weil er der berühmteste Neurologe aller Zeiten war und fantastische Bücher hinterlassen hat, sondern weil nun schon das dritte Buch posthum erscheint. Ist das Geldschneiderei? Womöglich weil die Marke Sacks noch immer so lukrativ ist, dass auch sein allerletzter nachgelassener Zettel ausgewrungen wird, um ihn publizistisch zu verwerten?

Gott sei Dank ist es nicht so. Das Buch ist lesenswert und bietet eine Reihe von Essays, die die meisten Leser hierzulande noch nicht kennen, da sie zum Teil in englischen oder amerikanischen Zeitschriften erschienen sind. Die ältesten entstanden Ende der 1980er Jahre, die neuesten kurz vor seinem Tod. Manche erscheinen zum ersten Mal.

Die Bandbreite der Texte reicht von autobiografischen Erzählungen, die sich mit Sacks’ Liebe zur Natur beschäftigen, über einen Ausflug in die Geschichte psychiatrischer Heilanstalten bis hin zu neuen und alten Fallgeschichten aus der Neurologie. Wir lesen den Bericht über eine Reise, die er mit einem Touretteerkrankten unternimmt, um mit ihm Leidensgenossen zu besuchen. Zum Beispiel einen Mann, der in einem Raketensilo arbeitet und eine Heidenangst davor hat, einen Nuklearkrieg loszutreten, weil es zu seinen Tics gehört, mit Schaltern zu spielen. Oder wir lernen in einem Pflegeheim einen dementen Bewohner kennen, der im Glauben gelassen wird, weiterhin Hausmeister zu sein, und dort akribisch kontrolliert, ob Fenster und Türen geschlossen sind.

Sacks war leidenschaftlicher Liebhaber von Farnen, Fossilien, Charles Darwin und Gärten. Er hält Plädoyers für Naturerfahrungen jeder Art, weil unser Gehirn den Kontakt zur Natur brauche und unsere seelische Gesundheit davon abhänge. Aber er langweilt uns auch (nicht zum ersten Mal) mit dem Periodensystem, weil er einen Narren an chemischen Elementen gefressen hat.

Wenn wir Oliver Sacks durch New York begleiten, wo erstaunlich viele Farne wach­sen, erleben wir noch einmal seinen Enthusiasmus für diese Pflanzen. Besorgt gibt er einem eventuell durstigen Perlfarn einen Schluck Wasser aus seiner Trinkflasche. An Stellen wie diesen wird schmerzlich bewusst, wie sehr dieser Mensch fehlt. Ach, wäre er doch 100 geworden!

Oliver Sacks: Alles an seinem Platz. Erste Lieben und letzte Fälle. Aus dem Englischen von Hainer Kober. Rowohlt, Hamburg 2019, 287 S., € 24,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2020: Männer und ihre Mütter
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