Vom Schließen und Öffnen der Ohren

Hämmern, Rattern, Schreien: Die einen blenden Geräusche mühelos aus, die anderen machen sie wahnsinnig. Bei Andreas Maier war es mal so, mal so.

Der Schriftsteller Andreas Maier steht am Fenster und schaut auf das Hochhaus in der Nachbarschaft, aus dem er die Klimaanlage hören kann
Es gibt zweierlei Umgang mit menschengemachten Geräuschen: Die einen scheinen sie mühelos auszublenden, die anderen treibt der Krach zur Verzweiflung. © Andreas Reeg

Als Neugeborenes bin ich zunächst in einem Einerlei mit der Welt aufgewachsen, ungeschieden. Ich war mit dem Bild, das ich sah und in dem ich noch wenig bis gar nichts singularisierte (ab wann konnte ich etwa Enten am Teich erkennen?), identisch, stelle ich mir vor. Ich kann mir die damalige Welt nicht anders ausmalen als eine farbige Fläche, die ins Diffus-Einheitliche neigte und die mir nicht als Objekt gegenüberstand, sondern in der ich aufging.

Lange habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, wie es…

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gemacht, wie es mit den Geräuschen gewesen sein mag. Meine ersten Erinnerungen haben mit Lauten nichts zu tun, auch wenn ich die Stimme meiner Urgroßmutter, die mich meistens bei sich hatte, oder meiner Mutter und der anderen natürlich gehört und mit Sicherheit auch darauf reagiert haben muss. Vielmehr sind meine ersten Erinnerungen rein optischer Natur, nämlich eben die Enten im Bad Nauheimer Kurpark. Und Herbstlaub.

Fest eingebrannt haben sich zwei gleichbleibende Geräusche, die einfach und gut wiedererkennbar waren und sich über Jahre nie änderten. Beide waren angenehm und beruhigend, und mit beiden verbinde ich das Haus meiner Großmutter in Bad Nauheim. Zum einen handelte es sich um das Gurren von Tauben (ich liege und das Fenster ist geöffnet), zum anderen um die Glocken der nahegelegenen Dankeskirche. Was ich im Haus meiner Großmutter niemals wahrnahm, waren die Autos, die am Haus vorbeifuhren. Vor dem Haus ist ein Gully in die Straße eingelassen. Als ich das Haus drei Jahrzehnte später selbst bewohnte, hörte ich nicht nur jedes Auto, sondern auch bei jedem Auto ein zwiefaches Kla-Klack des Gullydeckels, wenn der Wagen über ihn hinwegfuhr, zuerst mit dem Vorder- und dann mit dem Hinterrad. Aber bis dahin, vom Neugeborenen und Kleinkind bis zu dem Erwachsenen Anfang, Mitte dreißig, ist noch ein langer Weg.

Ihr Atmen

An eine dritte Geräuschwahrnehmung kann ich mich ebenfalls bewusst erinnern, aber diese war ganz anderer Natur. Wir waren damals neu in das von meinen Eltern gebaute Haus eingezogen, in Friedberg in der Wetterau, am Rand eines kleinen Flusses, der Usa. Ich war nun drei Jahre alt. Ich meine nicht das Plätschern der Usa – ein Geräusch, das ich in späteren Jahren auch geliebt habe. Nein, damals schlief ich nicht zur Usa hin, sondern nach vorn zur Straße.

Aus irgendeinem Grund musste ich nämlich plötzlich mit meiner Schwester in einem Zimmer schlafen. Selbstverständlich hörte ich sie. Ihr Atmen, ihr Umdrehen im Bett, all diese Lebensgeräusche waren das Signal dafür, dass jemand im selben Raum war. Im Gegensatz zu den zwei vorgenannten Geräuschen war die von meiner Schwester verursachte Kulisse das erste und für lange Zeit auch einzige Unangenehme in meinem Leben. Es war für mich so belastend, dass diese Situation bald beendet wurde. Das Haus war mehr als groß genug, um jedem Kind ein Zimmer bieten zu können.

In den ersten Jahren meines Lebens wurde ich hin und wieder, wenn meine Eltern wegfuhren, in ein sogenanntes Kinderhotel gebracht, an das ich nur diffuseste Erinnerungen habe. Der „Schlafraum“ war, scheint mir, weiß wie ein Hospital, mit mehreren Betten darin. Mit anderen Kindern im Raum sein und dann auch noch schlafen zu müssen bereitete mir größte Schwierigkeiten. Es geht dabei gar nicht um Geräusche, dieses Thema blenden wir kurz aus, sondern um die bloße Anwesenheit. Ebenso erging es mir, als ich in den Kindergarten kommen sollte. Ich hielt schon den ersten Tag nicht durch und setzte alles daran, dort nicht mehr hingebracht zu werden. Wie ich das schaffte? Nun, ich war damals kaum drei, hatte spät zu sprechen begonnen und soll tatsächlich (ich weiß es ja nicht aus eigener Erinnerung) gedroht haben, unter das nächste Auto zu laufen, wenn ich noch einmal an diesen Ort gebracht werden würde. Damit begann für mich eine Art von Paradies für die nächsten Jahre.

„Was ich hörte, war – nichts.

Ich sollte vielleicht anfügen, dass unser Haus ungewöhnlich groß und still war. Während der folgenden Jahre war ich die meiste Zeit allein in dem Haus, hin und wieder beaufsichtigt von meiner Mutter oder Urgroßmutter. Meine beiden Geschwister waren in der Schule, mein Vater bei seiner Arbeit in Frankfurt, er würde erst am Abend wiederkommen. Zumindest bis ein Uhr mittags war ich völlig für mich. Meistens saß ich im Keller und bastelte. Was ich hörte, war – nichts. Im wirklichen Sinn gar nichts. Durch die Milchglasscheibe fiel Licht ein, im Winter standen ein paar Pflanzen in dem kleinen Kellerraum, und ich ging, obgleich kein Neugeborenes mehr, wieder ganz in dieser Atmosphäre auf. An das traumhafte Wohlbefinden in diesem Alleinsein kann ich mich auch fünfzig Jahre später noch bestens erinnern.

Viele Geräusche nahm ich allerdings auch gar nicht wahr, oder sie griffen mich in keiner Weise an. Die Autos im Mühlweg, unserer Straße, muss ich ebenso gehört haben wie die vorbeifahrende Eisenbahn, die uns kaum zweihundert Meter entfernt auf einem Viadukt passierte, auf welches wir direkten Blick hatten. Auch der Lärm aus unserer Steinwerkefirma, die zwischen Viadukt und uns lag, drang herüber. Sicherlich werden sich viele, die hier wohnten, daran gestört haben, wie auch meine Eltern zeitlebens mit dem Bahnviadukt im Unfrieden lagen und gegen die Bahn prozessierten. Für mich aber gehörten diese Geräusche als Kind offenbar „dazu“.

Schlimm wurde es dagegen, wenn Verwandte zu Besuch kamen und ich zum Begrüßungsappell anrücken sollte. Das setzte mich so in Verwirrung und Panik wie jener eine Tag im Kindergarten. Ich zog mich zurück und lauschte hinter der Tür auf das Stimmengewirr unten im Wohnzimmer.

„Inszenierte Antibürgerlichkeit

Ich fasse bis hier kurz zusammen: Ich sprach von zwei angenehmen Geräuschen, einem Natur- und einem Kulturgeräusch (Taubengurren, Kirchenglocken), von der für mich unangenehmen Präsenz einer Person im selben Zimmer mit mir, überhaupt von einer erheblichen Panik unter Gruppen. All mein Wohlfühlen hatte mit der nahezu kompletten Abwesenheit von personal zuzuordnenden Geräuschen zu tun, denn jenes jahrelange Paradies, von dem ich sprach, fand eben fast ausschließlich in Stille statt, und wo es turbulent wurde, zog ich mich sofort zurück.

Ich wurde älter, und in gewissem Sinn verkehrte sich alles in sein Gegenteil. Ab meinem 13. Lebensjahr war ich ständig außer Haus. Ich sah älter aus, als ich war, und verbrachte unter anderem viel Zeit im Freundeskreis meines Bruders, dort waren alle etwa 18 Jahre alt. Ich ging daher auch schon sehr früh in Kneipen, lernte Mädchen kennen, auch ältere. Es war die Zeit der Startbahn West und der Friedensbewegung, ich begann einen sozusagen „alternativen“ Lebensstil zu pflegen, zumindest symbolisch, vornehmlich ausgedrückt durch eine inszenierte „Antibürgerlichkeit“. Man saß auf den Straßen herum, hing im Jugendzentrum ab, schnorrte auf der Straße Leute an, ging dauernd auf Demos. Ich schlief gern auf Parkbänken oder sonst draußen, wir machten große Partys, ich spielte inzwischen Schlagzeug, Gitarre und ein bisschen Klavier, und es war immer viel los. Wir trampten durch die halbe Republik und fühlten uns pudelwohl.

In den Lauten der Welt geborgen

Am bemerkenswertesten finde ich, dass ich tatsächlich überall und bei jeder Gelegenheit einschlafen konnte, sei es auf einem Mäuerchen im Güell-Park in Barcelona, mitten am Tag auf dem Marktplatz in Pau, in Wien auf der Wiese vor der Residenz, im VW-Bus mit ein paar anderen zusammen – dabei hatte ich früher schon die Anwesenheit einer einzigen Person im Zusammenhang mit Schlaf kaum ertragen können! Keinerlei Geräusch empfand ich in diesen Jahren als störend, als falsch, als irgendwie ungehörig oder unstatthaft, es konnten direkt neben mir Presslufthämmer arbeiten, ich konnte mich neben einer Schnellstraße befinden, nichts davon problematisierte ich. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich inzwischen überall so heimisch fühlte wie früher in der Abgeschlossenheit des großen, stillen Hauses.

Ich hatte als Jugendlicher das neue Draußen mit dem früheren Drinnen vertauscht (als Kind war ich sehr ungern nach draußen gegangen, vor allem in die Schule), und wieder lebte ich mit der Welt im Einerlei, diesmal aber, was Lärm und Geräusch anging. Ich hatte zu den Geräuschen der Welt und der Menschen keinerlei Distanz, sie betteten mich vielmehr in sich ein, und ich selbst war in diesen Jahren nicht leise, wofür schon das Schlagzeug spricht. Als Jugendliche haben wir auch auf eine Weise draußen Musik gehört, die ich heute solange als inakzeptabel zu empfinden gereizt bin, solange nicht andere Erwachsene zur Lärmquelle gehen und sich beschweren. Dann nämlich wird mir jedesmal klar, dass ich beide feindlich gegenüberstehende Parteien schwierig finde. Aber so weit sind wir immer noch nicht. Noch bin ich Jugendlicher und in den Lauten der Welt ebenso geborgen wie aufgehoben.

Noch ein Beispiel aus dieser Zeit: Wenn ich etwa meinen Vater betrachtete, wie er vor dem Fernseher saß und Zum Blauen Bock sah, mit Musik, die ich ausschließlich verachtete und völlig lächerlich fand, und einem Moderator, dem damals noch ganz und gar nicht meine Sympathie galt, dann hielt ich meinen Vater einfach für geistesgestört und alles, was er gerade tat, für völlig abzulehnen, etwa wie „CDU wählen“. Ich hätte ihm das Blauer-Bock-Schauen freilich nicht ausreden wollen, und meine flüchtige Aversion gegen sein Tun galt ohnehin nur, solange ich Gedanken auf meinen Vater verwendete. Hätte ich etwa im Nachbarraum gesessen und durch die offenstehende Tür wären 90 Minuten Zum Blauen Bock zu mir herübergeschallt, hätte es mich niemals gestört. Es konnte mich nichts stören.

Der Beginn der Katastrophe

Umgekehrt störte ich meine Eltern mit der Musik, die ich hörte, teilweise mächtig. Ich fand es ziemlich spießig, sich überhaupt an etwas zu stören. Zu der Zeit fand ich auch unser großes Haus spießig. Sie hatten sich mit ihm geradezu gegen die Umwelt, auch geräuschtechnisch, verbarrikadiert. Ein bürgerliches Ehepaar, das eine ruhige Wohnlage anstrebte. Begriffe, mit denen ich nichts anfangen konnte zwischen meinem 13. und 19. Lebensjahr.

Der Beginn der Katastrophe war ganz unscheinbar. Eines Samstagmorgens liege ich im Bett, durch das wie immer offene Fenster (meine ganze Jugend über stand mein Fenster sperrangelweit offen, auch im Winter) höre ich das Plätschern der Usa, unseres Flusses. Allerdings bin ich kein Jugendlicher mehr, sondern Student, Anfang zwanzig und bloß zufällig in meinem Elternhaus. Samstage dort mochte ich, sie waren Reminiszenzen an frühere Samstage. Lange Schlafen, der Geruch frischen Kaffees, der von unten heraufzog…

Das folgende Ereignis liegt also etwa 33 Jahre zurück, und es war mir in den ersten Tagen und Wochen danach nicht bewusst, dass etwas passiert war. An diesem Vormittag veränderte sich mein Leben. Wie ich liege, im angenehmen Halbschlaf, komme ich plötzlich zu mir, weil am gegenüberliegenden Ufer des Flusses ein Mann gegen eine Schrebergartenhüttentür klopft und dabei immer wieder einen Satz ruft: „Herr Uhlich, machen Sie mal die Tür auf! Herr Uhlich, machen Sie doch mal die Tür auf!“ Das tut der Mann einige Minuten lang, viel zu lang eigentlich, dann entfernt er sich. Vielleicht fand ich es in diesem Augenblick sogar lustig. Sicherlich ein noch vom Vorabend Betrunkener, der einen anderen Betrunkenen sprechen will. Nach einer Viertelstunde ist der Mann wieder da, beginnt erneut zu klopfen und zu rufen, und nach einigen Minuten geschieht die Handlung, mit der ich mir, im Nachhinein betrachtet, mein eigenes Grab für die nächsten Jahrzehnte schaufle: Ich stehe auf und schließe das Fenster.

„Reicht!

An den folgenden Wochenenden, vorausgesetzt ich war in meinem Elternhaus, konnte ich immer wieder dasselbe beobachten: Der Mann klopfte und rief nach „Herrn Uhlig“. Jedes Mal schloss ich das Fenster, zunehmend genervt. Unter anderem schaute ich jetzt hinüber, wer denn da überhaupt klopfe. Der Mann sah nicht gerade ordentlich aus, ich versuchte, ihn anhand Kleidung, Frisur und Gebaren einzuordnen. Natürlich! Einer dieser Schrebergartensäufer, die nachts in der Altstadt rumlungerten. An der Usa liegen auf unserer Höhe städtische Kleingärten, keine Vereinsgärten. Die städtischen Gärten waren berüchtigt für die Menschen, die man dort antraf (einige wohnen tatsächlich illegal in den Gärten).

Aber ich hatte doch eineinhalb Jahrzehnte genau in diesem Zimmer gelebt, und nie war mir irgendetwas zu Bewusstsein (zu Ohren!) gekommen! Und ich hatte mich auch nie an „berüchtigten Schrebergartenleuten, die nachts in der Altstadt herumlungern“ gestört. Ich war nie darauf gekommen, überhaupt irgendeine Gattung Mensch (außer vielleicht der, zu der meine Eltern gehörten) irgendwie zu qualifizieren und zu bewerten. Mehr noch: Als Jugendliche hatten wir selbst bisweilen sturzbetrunken in Wohnstraßen vor Häusern rumgelungert, nicht leise, bis die Polizei kam. Anwohner hatten sie gerufen, was uns natürlich spießig erschien.

Ein paar Wochen später hörte ich sie nachts aus der Hütte heraus. Offenbar waren sie diesmal zu dritt, es gab Streit. Zwei Männer schleppten bei totaler Dunkelheit eine Frau aus der Hütte, stießen sie in die Usa, hielten ihr den Kopf unter Wasser, und eine Stimme – sehr ähnlich der, die damals „Herr Uhlich, Herr Uhlich!“ gerufen hatte – fragte den anderen „Reichts? Reichts?“, bis dieser „Reicht!“ sagte, darauf ließen sie die Frau über Wasser, wo sie erbärmlich und wie kurz vor dem Ersticken nach Luft rang. Dann tauchten sie sie wieder unter. Das ging mehrere Minuten so. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Polizei anzurufen. Als diese nach wenigen Minuten mit Blaulicht herangefahren kam, entstiegen die drei noch rechtzeitig der Usa und verschwanden still und heimlich in ihrer Hütte.

Zeitlupenhaft

Nun ging es los. Ich wohnte jetzt in einer Einzimmerwohnung in Frankfurt-Ginnheim. Der Nachbar sah direkt neben mir (offenbar dünne Wand) jeden Abend fern, es begann mit der Hessenschau und endete mit dem Programmschluss. Eine Nachbarin von unten ließ ihren Dackel nachmittags immer allein, woraufhin er bellte. Ich hörte auch ihren Fernseher, da kann ich mich vor allem an Jeopardy mit Frank Elstner (ewig ein und derselbe Jingle) und eine Nachmittagsschlagersendung erinnern. Morgens hörte ich den Nachbarn direkt neben meinem Bett mit bemerkenswertem Ausstoß pinkeln ohne Ende. Unter meinem Fenster parkten jeden Morgen etwa 20 Autos aus und ließen im Winter den Motor minutenlang laufen.

Wenn es zu viel wurde, fuhr ich zu meinem Elternhaus zurück, wo jede Nacht in den Gärten unter meinem Fenster sich völlig betrunkene Leute in zeitlupenhaft langsamem Trunkenheitsgefasel stundenlang völlig sinnlos unterhielten. Die besagte Hütte brannte bald ab (als sie brannte, rief ich die Feuerwehr), anschließend wurde am selben Ort in fünfjähriger Kleinarbeit eine neue Hütte errichtet, allumfassendes Gehämmere die ganze Zeit, auch sonntags, und dazu Radiomusik. Hatte es das früher alles tatsächlich nicht gegeben? Und was kümmerte mich neuerdings, ob Sonntag war? Ich irrte zeitweise wie ein panisches Kaninchen zwischen Friedberg und Frankfurt umher, manchmal fuhr ich nachts um zwei, weil ich dachte, an dem anderen Ort könnte es stiller sein.

Es war bald wie in einem geschlossenen Raum, dessen Wän­de immer näher aufeinander zukamen. In jeder Wohnung, in die ich wechselte, gab es Geräusche, die von Menschen kündeten, die Dinge taten, die ich bewertete – Geräusche und Dinge, die mir vorher niemals bewusst gewesen waren. In der nächsten Wohnung, eine schöne Altbauwohnung, hatten die Mieter über mir – sie hatten keine Kinder – ihre Waschmaschine im Zwischenstock stehen, wo sich früher die Toilette befunden hatte. Sie wuschen viermal am Tag – sie wuschen gegen Geld für andere mit. In meinem Arbeitszimmer vibrierte es. Eine weitere Wohnung scheiterte an einer Lüftungsanlage im Hinterhof – nach vorn war nachts Kneipenpublikumsverkehr und Ein- und Ausparken bis vier Uhr morgens. Fenster öffnen unmöglich. Im Laufe weniger Jahre wurden etwa Automobile und Flugzeuge ein starkes oder besser unausweichliches Thema.

Ich möchte meine Erzählungen über Geräusche und meine auf so seltsame Weise neugewonnene „Sensibilität“ übrigens nicht bewerten. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, als würde ich es für lächerlich halten, welche Aufmerksamkeit ich neuerdings auf zivilisatorische Geräusche verwandte und welche Mutmaßungen ich über die die Geräusche verursachenden Menschen anstellte. Sechsstündiges ­Fernsehen am Abend, dazu kann man stehen, wie man will (man könnte ja ebenfalls sechs Stunden fernsehen). Ein Zuchtdackel wird nicht allzu gequält, wenn man ihn ein paar ­Stunden allein lässt, aber wenn es geschieht, ist es Willensausdruck des Besitzers, und es kann auf Kosten anderer gehen. Mietwaschen in einer Privatwohnung – all das kann man so und so sehen. Bei den ganz großen Narrativen unserer Gesellschaft (Auto- und Flugverkehr) wird es natürlich eindeutiger. Damals, als meine Umwelt durch ihre Geräusche neu geboren wurde, hatte man zu Autos und Flugverkehr noch eine ganz andere Meinung als heute. Spätestens durch die Fridays for Future-Bewegung ist das, zumindest öffentlich, ins Schwimmen gekommen. Wobei ich allerdings nie gehört hätte, dass die Demonstrierenden Verkehr als Geräuschphänomen thematisiert hätten.

Keine Nachbarn, nur Flugzeuge

Es ist von persönlichem Vorteil, mit solchen Geräuschen wie Autoverkehr oder unter einem Flugzeugteppich problemlos leben zu können. Dennoch habe ich Probleme damit immer für verstehbar gehalten, allein schon dadurch, dass bei näherem Begreifen man weder den allgemeinen Auto- noch den Flugverkehr in den gegenwärtigen Ausmaßen rechtfertigen sollte, außer eben aus ökonomischen Gründen. Will heißen: Ich sehe schon einen Sinn (und nicht bloß eine Rationalisierung) darin, warum mich mancherlei in diesem bundesrepublikanischen Leben erheblich beeinträchtigt hat seit jenem unerheblichen „Herr-Uhlich-Beginn“.

Mein Leben war zeitweise ein Spießrutenlauf, zumal ich kein Auto fahre (und auch nicht fliege). Das heißt, ein Landleben kam für mich auch nicht infrage, dafür bin ich zu immobil. Heute wohne ich in einer kleinen Stadt, zu der ich wenig Bezug habe, als Mieter eines Hauses, zu dem ich wenig Bezug habe, aber es ist eben ein Haus. Ich habe keine direkten Nachbarn, ich höre nirgends einen Fernseher oder Musik oder alkoholisierte Gespräche. Meistens höre ich wieder Stille, wie früher, wenn auch unterbrochen durch den doch eher nahen Flugverkehr und die durchfahrenden Autos. Viel lieber würde ich im zwölf Kilometer entfernten Frankfurt wohnen, aber das geht wohl nicht mehr.

Wie bewerte ich nun aber allgemein jenes Phänomen „Geräusch“? Ich sehe es zwischen Menschen ganz schnell explodieren, wenn es um Geräusche geht. Typisch: Nachbarschaftsstreitigkeiten am Gartenzaun, oder jemand stört sich etwa in Bus oder Bahn an einem vernehmlich musikhörenden Fahrgast oder eine Gruppe von solchen.

Ein mehrdimensionales Verhältnis

Neulich erzählte mir jemand von einem Lärmkrieg, den er über Jahre gegen einen Nachbarn ausgefochten hat (E-Gitarre gegen Trompete). Er legte die Boxen seiner Gitarre mit den Membranen nach unten auf den Boden, um alles direkt in die Wohnung unter ihm zu leiten. Sie bekriegten sich jeden Tag von 17 bis 22 Uhr, der Gitarrist lernte dafür extra rudimentär sein Instrument. Hier ist es klar, dass es um Revierstreitigkeiten geht: Lärm/Geräusch dringt in das eigene Revier ein, man kontert durch eigene Revierverletzung beim anderen. Oder zieht vor Gericht.

Der Schriftsteller Marcel Proust verbarrikadierte sich hinter Korkwänden. In Neubaugebieten, die jetzt tunlichst an größere Straßen gebaut werden (Lärmschutzwände allerorten), werden Fenster verwendet, hinter denen du gar nichts mehr hörst. Das heißt, es findet zwar eine permanente, umfassende Revierverletzung statt – der ganze öffentliche Raum ist verlärmt –, aber sie wird rationalisiert („Ohne Verkehr ist eine Gesellschaft nicht denkbar“), und so kann sie für viele Leute so erträglich sein, dass sie akzeptieren, in einem lautlosen Glaskäfig zu leben. In einer Nachbarschaftsauseinandersetzung würde wohl kaum die eine Partei mir nichts, dir nichts akzeptieren, wenn sie sich hinter Fünffachverglasung zurückziehen muss, nur weil die Nachbarn zur linken dies und das machen. Als in Frankfurt die neue Landebahn eröffnet wurde (ich wohnte damals von einem Tag auf den anderen plötzlich direkt unter den Flugzeugen), sagten die einen recht schnell und forsch, das mache ihnen gar nichts aus. Hatten sie ökonomisch etwas mit dem Flughafen zu tun, konnten sie die Flieger gar nicht als Revierverletzung empfinden, weil alles, was mit dem Flughafen zusammenhing, ja gleichsam ihr eigenes Revier war. Mein Nachbar dagegen, der mit dem Flughafen nichts zu tun hatte, brachte sich nach kurzem einfach um.

So stand ich in meinem Leben mal auf der einen, mal auf der anderen Seite. Die meisten Menschen, die ich kenne, haben ein eher eindimensionales Verhältnis zu Geräuschen. Entweder sie überhören sie und haben kein Missverhältnis zu ihnen, oder sie sind gestört, vielleicht weniger von den Geräuschen als von den dahinterstehenden Menschen, bei denen sie sich dann gewisse Dinge ausmalen („Muss der ständig…?“ „Ich mache ja auch nicht sonntags…“). Solche Leute stehen leicht im Verdacht der Misanthropie. Fakt ist aber wohl leider: Alle, denen es einmal die Ohren geöffnet hat, bekommen sie so leicht nicht mehr zu. Und das Schließen und Öffnen der Ohren – zumindest ohne Hilfsmittel – unterliegt keiner und keinem selbst. 

5 Bücher von Andreas Maier

Wäldchestag. In Maiers Erstlingsroman geht es um ein rätselhaftes Vermächtnis. Er spielt, vorwiegend unter Jugendlichen, in der Wetterau, in Kneipen, auf Festen – und auf dem Friedhof. Roman, Suhrkamp 2000

Sanssouci. Ausgangspunkt ist auch hier eine Beerdigung. Die überaus illustre Trauergesellschaft beschäftigt die Frage: Was trieb der Verstorbene in den Katakomben unter dem Park Sanssouci? Roman, Suhrkamp 2009

Ich. Maiers Frankfurter Poetikvorlesungen spannen den Bogen von Dostojewski und Thomas Mann bis hin zur Familie Hesselbach. Vorlesungen, Suhrkamp 2006

Mein Jahr ohne Udo Jürgens. „Schon die Entgeisterung in meinem Umfeld, als ich auf mein erstes Udo-Jürgens-Konzert ging!“ Eine Sammlung von Kolumnen nach dem Tod des Sängers. Kolumnen, Suhrkamp 2015

Die Familie. Jüngster (siebter) Roman einer auf elf Bände angelegten autobiografischen Reihe namens Ortsumgehung. Roman, Suhrkamp 2019

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2021: Raus aus alten Mustern