Herr Professor Fuchs, Ihre These lautet, dass wir uns alle mehr oder weniger in einem Konflikt zwischen der sogenannten „Weltzeit“ und der „Eigenzeit“ befinden. Was meinen Sie damit?
Wir leben in dem bei uns vorherrschenden linearen Zeitverständnis. Wir sind geprägt von der Vorstellung, dass die Zeit immer weiter geradeaus läuft und nicht wiederkehrt. Gleichzeitig aber sind wir bestimmt von den zyklischen körperlichen und seelischen Abläufen und Rhythmen, die die Natur uns vorgibt; also beispielsweise vom…
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körperlichen und seelischen Abläufen und Rhythmen, die die Natur uns vorgibt; also beispielsweise vom Schlaf-wach-Rhythmus oder den physiologischen Prozessen des Stoffwechsels. Sie beginnen immer wieder von vorn, sind also zyklischer Natur. Der Konflikt entsteht, wenn wir fast nur noch nach dem linearen Zeitverständnis leben und auf die natürlichen Abläufe, auf unsere Eigenzeit zu wenig achten. Dadurch geraten wir in einen Zustand, den ich „Desynchronisierung“ nenne und der mit einem Gefühl der Entfremdung einhergeht: Man ist sich selbst immer schon voraus und kommt nicht in der Gegenwart an. Auf längere Sicht können sich unsere Ressourcen durch diesen Konflikt erschöpfen.
Was genau verstehen Sie unter dem Konzept der linearen Zeit?
Die lineare Zeit kennt nur eine Richtung, nämlich die nach vorne, wie ein Pfeil. In diesem Zeitverständnis, das vor allem in westlichen Gesellschaften vorherrscht, gibt es kein Ziel, dem die Zeit zustrebt, an dem man zur Ruhe kommt. Alles bewegt sich vorwärts, so auch unser Leben. Wir laufen immer weiter voran, kommen aber nicht wirklich an. Und nun kommt hinzu, dass sich in diesem linearen Konzept, wonach die Zeit wie ein Pfeil ständig nur vorwärtsstrebt, die sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse immer mehr beschleunigen. Das charakterisiert die westliche Kultur schon seit ein bis zwei Jahrhunderten, wird jetzt aber noch mehr vorangetrieben durch die Digitalisierung, besonders die digitale Kommunikation. Mit der allgemeinen Beschleunigung der Gesellschaft verändert sich auch die Dynamik der individuellen Lebenszeit. Man will heute mehr vom Leben haben als früher, schneller erleben, mehr genießen können. Möglichst viel aus dem kurzen irdischen Leben zu machen, das ist heute viel dringlicher geworden. Die Folge ist: Wir befinden uns permanent in einem Wettlauf mit der Zeit. Die westliche Kultur kennt keinen Stillstand, keine Handlungshemmung, kein Verweilen.
Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?
Bezogen auf meine Tätigkeit als Psychiater heißt das zum Beispiel, ich bin gehalten, die Behandlungszeiten immer weiter zu verkürzen. Ärzte leiden darunter, dass ihnen immer weniger Zeit für ihre Patienten zur Verfügung steht. Viele kennen das auch aus ihrer Arbeitswelt. „Qualitätsmanagement“ heißt ja häufig nicht, die Qualität der Produkte oder Dienstleistungen zu verbessern, sondern immer effizienter zu werden. In Unternehmen gibt es immer mehr Mitarbeiter, die nur dafür sorgen sollen, dass immer schneller und effizienter gearbeitet wird. Und es greift über in die Freizeit, wenn diese auch aus einer Abfolge von immer mehr Erlebnissen pro Zeiteinheit besteht, ohne dass wir verweilen, um sie zu verarbeiten, und der Körper sich regenerieren kann.
Das zyklische Zeitverständnis, sagen Sie, stehe in diametralem Gegensatz zur allgemeinen Beschleunigung. Inwiefern?
Das lineare Prinzip kollidiert mit dem zyklischen Zeitprinzip. Dabei handelt es sich, wie schon gesagt, um alle biologischen Abläufe in unserem Körper, aber auch um die sozialen Prozesse, ob in der Arbeitswelt oder im Privatleben. Biologische Zustände wiederholen sich regelmäßig, etwa die Stoffwechselprozesse, Hormon-, Energie- oder Temperaturzyklen, also unser Biorhythmus. Auch unsere Bedürfnisse, Triebe und Gefühle kehren wieder, und das Gleiche gilt für unsere Gewohnheiten, unsere immer wieder ähnlichen Verhaltensweisen und Handlungen, auf die wir uns verlassen. Schließlich verlaufen auch unsere sozialen Beziehungen zyklisch, man trifft sich, geht auseinander und kommt wieder zusammen. All diese zyklischen Abläufe kann man nicht beliebig beschleunigen – wohl aber können sie aus dem Gleichgewicht geraten, wenn wir uns zu lange über sie hinwegsetzen.
Sie sprechen sogar von einem Diktat des linearen Zeitkonzepts. Warum?
Die allgemeine gesellschaftliche Dynamik und Beschleunigung übt auf Individuen, gerade auf die anpassungswilligen, einen gewissen Zwang aus. Mit Diktat ist nicht eine Diktatur gemeint, kein autoritäres Regime, sondern es geht um die ständig präsente Notwendigkeit, die eigenen Arbeits- und Lebensprozesse an die lineare Zeit anzupassen. Besonders in den Industrieländern sind wir mehr oder weniger alle diszipliniert, wir passen uns gern an. Unsere Sozialisation ist bereits darauf ausgerichtet, und wir haben die Beschleunigung längst internalisiert. Der Sozialpsychologe Robert Levine hat in Studien verglichen, wie schnell Menschen in verschiedenen Kulturen beispielsweise über einen Platz gehen, und festgestellt, dass die Menschen in den Industrieländern im Durchschnitt deutlich schneller sind. Wir leben mitten in diesen linear beschleunigten Abläufen.
Diese „Weltzeit“ – das lineare Zeitverständnis – hat sich überwiegend in den westlichen Gesellschaften entwickelt. Warum gerade hier?
Seit der Neuzeit gab es in Europa verschiedene historische Entwicklungen, die sich gegenseitig verstärkt haben. Die große Pestkatastrophe im 14. Jahrhundert war zum Beispiel ein solcher Meilenstein, nicht nur in der Medizingeschichte. Diese Krankheit und das Erleben des Sterbens haben das kollektive Bild vom Tod massiv verändert. Zuvor gab es die Vorstellung, dass man mit dem Tod auch irgendwo ankomme, zur Ruhe komme. Die Pest jedoch bedeutete eine kollektive Erfahrung von Unglück, Hilf- und Machtlosigkeit, und nun wurde der Tod umso bedrohlicher. Diese kollektive und traumatische Erfahrung erzeugte auch einen Schub zur Individualisierung: Vor dem Hintergrund eines so erschreckenden Todes wurde das eigene Leben in der begrenzten Zeit umso wichtiger. Die knappe Lebenszeit voll auszuschöpfen, möglichst viel und intensiv zu erleben wurde immer mehr zur Maxime.
Eine weitere wichtige Entwicklung war die des Finanz- und Kreditsystems, des Kapitalismus. Ab dem 14. Jahrhundert praktizierten Kaufleute, zunächst in großen italienischen Städten, eine völlig neue Art des Wirtschaftens, die sich zunehmend von den natürlichen Zeitabläufen abkoppelte. Auch hier gibt es ein lineares Prinzip, nämlich das der Anhäufung von Zins und Kapital. Seitdem muss die Wirtschaft immer weiterwachsen, und der wissenschaftlich-technische Fortschritt trägt dazu bei. Die kapitalistische Dynamik lässt keinen Stillstand mehr zu, und das hat in sich etwas Grenzenloses. Der gesamte Erdball ist heute diesem Prinzip unterworfen.
Wann wurde erstmals ein lineares Zeitverständnis definiert?
Die maßgeblichen Definitionen stammen aus der Physik der Neuzeit. Danach verläuft die Zeit linear, gleichförmig und in die Zukunft gerichtet, sie lässt sich in gleiche Einheiten einteilen und damit messen. Dabei lagen zwar natürliche Rhythmen wie Tag und Nacht oder der Sonnenlauf zugrunde, aber die Zeit wurde davon abstrahiert. Bei Newton tritt die absolute, lineare und universale Weltzeit an die Stelle des zyklischen Zeitbegriffs des Mittelalters. Die Einführung der öffentlichen Räderuhren seit dem 13. Jahrhundert trug wesentlich zur Durchsetzung des linearen Prinzips bei. Ohne sie ist unser modernes Zeitverständnis nicht vorstellbar. Aber auch nicht ohne menschliche Reflexion – diese Zeitvorstellung ist schließlich auch ein Ergebnis des menschlichen Nachdenkens darüber, was Zeit eigentlich ist.
Sie sagen, dass die Beschleunigung, zu der unser lineares Zeitverständnis führt, sich negativ auf unsere Beziehungen auswirkt. Inwiefern?
Unsere Beziehungen zu Partnern, Freunden, Bekannten sind wie Grundnahrungsmittel, die wir immer wieder benötigen. Zugleich bilden sie einen wichtigen Anker gegen die Herrschaft des linearen Zeitprinzips, denn sie können eben nicht beliebig beschleunigt werden. Miteinander wirklich Zeit zu verbringen gelingt nicht unter dem Diktat der Uhrzeit. Jetzt bin ich ganz da, komme hier an und bin gegenwärtig. Eigentliche Gegenwart ist die Gegenwart des anderen. Beziehungen lassen sich intensivieren und vertiefen, aber nicht beschleunigen. Man muss sich für sie Zeit nehmen und diese Zeit miteinander teilen. Wenn das über längere Zeit vernachlässigt wird, verlieren wir diesen Anker, und das lineare Zeitgetriebe beherrscht uns.
Auch Burnout und Depressionen gehören zu den negativen Folgen des modernen Zeitprinzips für den Einzelnen. Inwiefern?
Burnout beginnt dort, wo Menschen ihre körperlichen und seelischen Regenerationsprozesse vernachlässigen, indem sie immer mehr oder immer angestrengter arbeiten. Daraus entwickelt sich eine Spirale: Sie schlafen immer weniger, essen immer hektischer, arbeiten noch mehr und haben für nichts anderes mehr Zeit. Die Tagesstruktur und der Lebensrhythmus gehen verloren, Anspannung und Unzufriedenheit steigen und die Betroffenen geraten mehr und mehr in Rückstand, in eine Desynchronisierung, die schließlich in die Depression münden kann.
Daran zeigt sich: Wer sich dem linearen Zeitprinzip vollständig unterwirft und ihm nicht seine Eigenzeit entgegensetzt, erschöpft die eigenen Ressourcen, denn die sind nur zyklisch regenerierbar. Aber es kommt noch mehr hinzu: Menschen mit Burnout oder Depressionen sind meist überangepasst und wollen perfekt sein, ihren eigenen oder den Anforderungen anderer vollkommen genügen. Oft ist ständige Selbstoptimierung ihre oberste Maxime, und sie fühlen sich schuldig, wenn sie es nicht schaffen. Die Selbstperfektionierung hat aber mit der linearen Zeit gemeinsam, dass sie prinzipiell unbegrenzt ist – es ist nie genug, man kommt nie an.
Woran erkenne ich, ob ich mich selbst zu stark dem Diktat der linearen Zeit beuge?
Am ehesten an einem untergründigen Gefühl, mehr durchs Leben gezogen zu werden als es selbst zu bestimmen; an einer gewissen Ruhelosigkeit und Unrast, die ich nicht in jedem Moment merke, die mich aber prägt. Das kann bis zum Gefühl der Gehetztheit gehen: Ich bin den Geschehnissen immer schon gedanklich voraus, beim Nächsten und Übernächsten, aber ich komme nicht an, nicht zur Ruhe, nicht in eine wirkliche Gegenwart. Manche tragen diese Ruhelosigkeit auch in die Freizeit hinein und füllen sie mit Hyperaktivität, letztlich um die Unruhe nicht wahrzunehmen. Bemerken würde man sie erst, wenn nicht mehr ein Erlebnis auf das andere folgen würde. Aber viele vermeiden das, weil sie vor der Leere zurückschrecken, die dann plötzlich entsteht.
Kann man sich dem linearen Diktat ein Stück weit entziehen?
Ich denke: ja. Wichtig ist, die Dynamik frühzeitig zu erkennen, bevor sie einem gefährlich wird. Ein Kennzeichen kann das Gefühl sein, dass ständig etwas ansteht, immer noch etwas zu tun ist, man niemals fertig wird. Wenn man dann nicht in der Lage ist, wieder einen neuen Rhythmus zu finden, sollte man aufmerksam werden. Denn dann ist man im „linearen Zeitmodus“ und fängt an, das zu vernachlässigen, was ich „Leiblichkeit“ nenne: sich erholen, regelmäßig schlafen, in Ruhe essen, Zeit für andere und sich selbst haben. Diese Lebensbedürfnisse brauchen heute bewusste Aufmerksamkeit, es reicht nicht, sie nur als Mittel zum Zweck zu sehen. Vielleicht kommt man auch um den Verzicht nicht herum, ein berufliches Projekt aufzugeben, das die eigenen Kräfte übersteigt, oder auch statt zu vieler Freizeittermine ein wirklich freies Wochenende einzulegen.
Der nächste Schritt wäre Selbstreflexion des eigenen Lebensentwurfs, indem man sich einige grundsätzliche Fragen stellt: Wie stelle ich mir mein Leben vor? Ist es das, was ich erwarte? Oder laufe ich nur äußeren Notwendigkeiten hinterher? Wenn man das Gefühl hat, getrieben und nicht mehr Herr im eigenen Leben zu sein, dann ist das ein Alarmsignal. Dennoch: es geht nicht um eine Aufgabe oder gar Verteufelung des linearen Zeitprinzips. Das Ziel muss letztlich darin bestehen, eine gute Balance zwischen den beiden Zeitmodellen zu finden.
Es hat also auch Vorteile, sich mit dem eigenen Lebensstil dem linearen Zeitverständnis anzupassen?
Bis zu einem gewissen Grad: ja. Das lineare Zeitkonzept ist nicht umsonst so erfolgreich, es wurde ja auch von nichtwestlichen Kulturen übernommen. Es bietet Einzelnen ebenso wie Gesellschaften enorme Möglichkeiten, Pläne zu verwirklichen, sich Erfolge zu erarbeiten und die Zukunft zu gestalten. Viele von uns würden ohne dieses Verständnis der Zeit nicht so weit kommen, wie sie wollen. Der Mensch ist von Natur aus ein unzufriedenes Wesen, und in dieser Hinsicht kommt uns das Leben im Zeitpfeil auch entgegen. Zeitsouveränität bestünde aber darin, sich davon nicht beherrschen zu lassen, sondern immer wieder in der Gegenwart der zyklischen Zeit anzukommen.
Thomas Fuchs, Jahrgang 1958, studierte Medizin, Philosophie und Wissenschaftsgeschichte und ist Facharzt für Psychiatrie. Seit 2005 lehrt er als Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg, seit 2010 ist er dort Inhaber der Karl-Jaspers-Professur für philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie.
Zum Weiterlesen
Thomas Fuchs, Lukas Iwer, Stefano Micali (Hg.): Das überforderte Subjekt. Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft. Suhrkamp, Berlin 2018