Bernhard PÖRKSEN Es ist ein Standardbeispiel, eine Schlüsselgeschichte der systemischen Therapie. Wir sehen: einen Mann und eine Frau, die sich im Zimmer des Therapeuten eingefunden haben. Und beide beklagen sich, kaum hat die Sitzung begonnen, bitterlich – nur über das verletzende und bösartige Verhalten des anderen. Der Mann sagt, dass ihn seine Frau fortwährend kritisiert und er sich eben deshalb von ihr zurückzieht, um den Härten ihrer Kritik zu entgehen, den Schmerz noch erträglich zu halten. Die Frau…
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Härten ihrer Kritik zu entgehen, den Schmerz noch erträglich zu halten. Die Frau hingegen wird wütend und berichtet, dass sie ihn nur kritisiert, weil er sich immer mehr zurückzieht und sich dem Gespräch mit ihr verweigert. Was ist hier eigentlich los?
Friedemann SCHULZ VON THUN Es ist ein Teufelskreis, der sich hier zeigt, eine kreisförmige Kommunikation, ohne erkennbaren Anfang und ohne absehbares Ende. Beide machen sich in dieser Verstrickung wechselseitig das Leben schwer – und sie erleben sich selbst jeweils als den Reagierenden, den anderen aber als den Täter, den Urheber.
PÖRKSEN Und jeder sieht sich als Opfer in dieser Endlosschleife der wechselseitigen Attacken.
SCHULZ VON THUN Ja, beide interpunktieren, wie die Systemiker sagen würden, die Ereignisfolgen unterschiedlich: Beide interpretieren das eigene Verhalten als Reaktion auf das Verhalten des anderen. Er sagt und empfindet: Meine Rückzugstendenz entsteht ja nur aufgrund deiner Übellaunigkeit! Und sie sagt und empfindet: Meine Übellaunigkeit entsteht ja erst aus deiner Rückzüglichkeit. Und beide empfinden: Ich bin sonst nicht so, aber hier kann ich nicht anders als.
PÖRKSEN Ein solcher Teufelskreis ist ja nicht nur ein Modell zur Analyse von Paarproblemen, sondern Ausdruck des systemischen Denkstils, der eine Beziehungszirkularität offenbart: A erzeugt B, und B erzeugt A. Was sind – allgemein gefragt – die Folgen, wenn man die Beziehungen von Menschen auf diese Weise beschreibt?
SCHULZ VON THUN Die Folge ist, dass wir zwischenmenschliches Geschehen nicht mehr unter dem Paradigma von Ursache und Wirkung, von Täter und Opfer anschauen und interpretieren, sondern unter dem Paradigma der Wechselwirkung. Das Geschehen wird nicht mehr im Lichte individueller Eigenschaften interpretiert. Eine weitere Konsequenz ist die moralische Entlastung. Die Aufspaltung in den bösen Täter und das arme Opfer wird aufgegeben zugunsten der Sichtweise, dass beide ihren Beitrag zum unheilvollen Zusammenspiel leisten.
PÖRKSEN Mir leuchtet diese Art der Analyse unmittelbar ein, wenn es um die Konfliktschlichtung zwischen zwei gleichberechtigten Menschen geht, die sich streiten und die nun beide lernen müssen, was sie selbst zu diesem Streit beigetragen haben. Aber ist ein solches Denkmodell nicht auch gefährlich? Was ist, wenn wir etwa an den sexuellen Missbrauch von Kindern denken? Würde man mit einer solchen Logik nicht sehr rasch zu grauenvollen Spekulationen kommen? Ganz nach dem Motto: Auch das Kind hat womöglich ein erotisches Begehren signalisiert, eventuell sogar den Erwachsenen in irgendeiner Weise verführt.
SCHULZ VON THUN Mit der Folge, dass der erwachsene Täter moralisch entlastet wäre. Wir sehen an diesem Beispiel sehr klar: Auch die systemische Perspektive und das Interesse an der Zirkularität von Interaktionen stellt nur eine mögliche Sichtweise dar, es handelt sich um eine Variante der Betrachtung, die häufig aussichtsreich ist und gelegentlich fatal. Sie hat ihren Nutzen, um manche zwischenmenschliche Verwicklung in den Blick zu bekommen, die wir mit individualpsychologischen Augen schlecht erkennen würden. Aber es wäre tatsächlich, da gebe ich Ihnen recht, eine furchtbare Denkfigur, sich zu überlegen, wie es denn das Kind hinbekommen haben könnte, dass der andere, der Erwachsene, so begierig geworden ist, sich ihm in sexueller Weise zu nähern. Ganz gefährlich! Denn in einem solchen Fall möge der gesunde Menschenverstand regieren: Es gibt Täter. Und es gibt Opfer. Es gibt Schuldige. Und es gibt Unschuldige.
Macht entsteht durch Gehorsam
PÖRKSEN Und doch fällt mir auf, dass manche Systemiker die Auffassung vertreten, dass es eigentlich überhaupt nicht sinnvoll ist, von Opfern zu sprechen. Darf ich zitieren? „Ein Opfer verachtet sich“, so hat der chilenische Systemtheoretiker Humberto Maturana einmal gesagt, „weil es einem anderen Macht zugestanden und sich in einem Akt des Gehorsams selbst in seiner Autonomie verleugnet hat. In der Selbstbeschreibung als ein Opfer werden die eigentlichen Prozesse der Machtentstehung unsichtbar.“ Maturanas These lautet: Macht entsteht durch Gehorsam; sie ergibt sich aus einem letztlich immer freiwilligen Akt der Unterwerfung. Wir sind, so lautet die Konsequenz, stets autonom Handelnde, niemals aber Opfer.
SCHULZ VON THUN Da hätte ich dann doch eine kleine Gegenrede. Aber lassen Sie mich erst noch weiterfragen: Hat er bei seiner These ein konkretes Beispiel vor Augen?
PÖRKSEN Humberto Maturana spricht hier über die Militärdiktatur unter Augusto Pinochet, die er selbst erlebt hat. Ich will noch einmal zitieren: „Niemand kann einen zwingen“, so sagt er, „einen anderen zu erschießen. Die Behauptung, man sei gezwungen worden, ist eine Ausrede, die das Ziel, auch um den Preis der eigenen Unterwerfung am Leben zu bleiben, verdeckt. Wenn sich jemand in dieser Situation entscheidet, einen anderen Menschen nicht zu erschießen, dann hört man vielleicht trotzdem das Krachen eines Schusses: Er wird selbst umgebracht – und stirbt in Würde.“
SCHULZ VON THUN Das ist mir zu allgemein und absolut formuliert. Aber halten wir erst einmal fest, wo er recht hat: Ein erwachsener Mensch muss auch verantworten, was er auf Befehl oder unter Androhung tut. Jede Gehorsamsleistung wird erbracht von einem Menschen, der entschieden hat, gehorsam zu sein. So weit richtig, und gut auch, sich das bewusstzumachen: „Mach dich nicht zu früh zum Opfer! Sei nicht zu schnell dazu bereit, Macht abzugeben! Sei dir in dem Moment, wo du dich so eindeutig als Opfer fühlst, stets bewusst, dass du nicht ohnmächtig, sondern teilmächtig bist!“ Und sich auf diese Teilmächtigkeit zu konzentrieren, das kann einen Menschen tatsächlich würdig und groß machen, ihn sogar in einen Helden verwandeln. So weit bin ich ganz einverstanden mit Maturana.
PÖRKSEN An welchem Punkt beginnt der Dissens?
SCHULZ VON THUN Ich selbst würde die Unterscheidung von Opfern und Tätern nicht aus einem systemischen Absolutheitsanspruch heraus abschaffen wollen; ich glaube vielmehr, dass diese Kategorien ihre Berechtigung haben und behalten. Manche Opfer verachten sich tatsächlich, aber in ganz anderer Weise, als Maturana es gemeint hat. Sie schämen sich zutiefst über das, was ihnen angetan worden ist, geben sich selbst die Schuld und leiten daraus ihre Minderwertigkeit ab. Hier wäre es ganz verkehrt, ihnen ihren vermeintlichen Eigenanteil an dem Geschehen vorzuhalten, sondern ganz im Gegenteil: Ihre Seele muss verstehen lernen, dass sie ein Opfer geworden sind und nichts dafür können! Denn das ist erstens die Wahrheit und zweitens die heilsame Erkenntnis.
PÖRKSEN Das heißt, wir brauchen die Unterscheidung von Tätern und Opfern noch?
SCHULZ VON THUN Unbedingt. Und auch unter Erwachsenen gibt es klare Täter-Opfer-Konstellationen: Es mag ja sein, dass auch das Opfer in dem einen oder anderen Fall einen identifizierbaren Beitrag zu einem unheilvollen Geschehen geleistet hat. Vielleicht habe ich tatsächlich auf dem Bahnsteig jemanden provozierend und hochnäsig angeblickt: Aber wenn er mich daraufhin windelweich prügelt und auf mich eintritt, dann macht ihn das zum Täter und mich zum Opfer.
PÖRKSEN Die Frage ist aber, ob das systemische Denken dieser moralischen Klarheit nicht die Basis entzieht. Mir erscheint die Ablehnung der Opferperspektive zumindest intellektuell konsequent. Man kann doch als ein streng argumentierender Systemiker eigentlich nur zu der Schlussfolgerung kommen: Irgendwie sind alle Beteiligten schuld. Irgendwie trägt jeder die Verantwortung, denn es geht nur noch um Wechselwirkungen. Und dann muss man, wenn man dieser Spur weiter folgt, auch auf die Idee verfallen: Eigentlich ist keiner mehr wirklich verantwortlich. Die Schuldfrage verflüchtigt sich im Teufelskreis der Interaktionen. „Das systemische Denken verlässt somit“ – so bekommt man zum Beispiel in den Lehrmaterialien der Systemiker zu lesen – „die Kategorien von Ursache und Wirkung (und somit Schuld) zugunsten einer zirkulären Sichtweise.“
SCHULZ VON THUN Moment! Hier ist von einer Sichtweise die Rede, die in der Tat sehr fruchtbar und aussichtsreich sein kann. Aber eben nicht immer und in jedem Fall. Wenn man tatsächlich behaupten würde, dass mit dieser Sichtweise die Kategorien von Schuld oder Unschuld, Moral oder Unmoral schlicht hinfällig würden, dann müssten wir diesem gefährlichen Quatsch heftig widersprechen. Aber das sagt und meint man ja wohl nicht.
Abschied vom Entweder-oder
PÖRKSEN Aber ist in solchen Sätzen nicht die Gefahr angelegt, die Fragen von Schuld oder Unschuld schlicht zu vergessen und zu verwischen? Mara Selvini Palazzoli, die große alte Dame der systemischen Therapie, hat das Individuum einmal zu einem „Element in einem Regelkreis“ erklärt. Worauf es mir ankommt: Dies alles ist doch ein Reden mit Folgekosten. Denn auf einmal ist der verantwortlich oder eben unverantwortlich handelnde Einzelne aus dem Blickfeld verschwunden und einfach weg.
SCHULZ VON THUN Ich will es mal ganz hemdsärmelig sagen: Es gibt schlicht und einfach schwierige, gestörte Menschen, die einem Team schwer zusetzen können. Es gibt den Armleuchter und den echten Schuft und denjenigen, der eine eigene zerstörerische Kraft entfaltet. Ich halte es unter allen Umständen für lohnend, sich den individualdiagnostischen Blick zu bewahren und eben nicht jedes Verhalten systemisch zu erklären und dann zu betonen: „Gut, da sitzt nun jemand, der nervt. Aber es ist eben seine ihm zugewachsene Rolle im Team, hier den Bösewicht zu spielen!“ Das heißt: Man muss in jeder Situation ganz genau schauen, welche Erkenntnisse man mit der systemischen und welche Einsichten man mit der individualdiagnostischen Hypothese gewinnt. Und sich sodann fragen: Wie plausibel ist die eine Blickrichtung, wie fruchtbar die andere? Beide Perspektiven gehören zusammen, beide enthalten ihr eigenes spezifisches Wahrheitspotenzial. Selten ist ein Entweder-oder am Platze, häufig ein Sowohl-als-auch.
PÖRKSEN Damit stellt sich dann die Frage, nach welchem Kriterium und aus welchen Gründen man die Perspektive wechselt und, um eine Metapher zu verwenden, die Brille des Systemikers gegen die Brille des Individualdiagnostikers tauscht?
SCHULZ VON THUN Es fällt mir schwer, hier eine allgemeine Faustregel zu formulieren, aber es gibt schon Indizien und Momente intuitiver Evidenz, die sich benennen lassen: Wenn ein Mensch seine Eigenheit offensichtlich mit sich herumträgt, sie von einem System ins andere mitnimmt, in sehr unterschiedlichen Kontexten mit ihr auffällig wird, sich zum Beispiel in ganz verschiedenen Situationen als unzuverlässig erweist, dann scheint dies eine Eigenschaft zu sein, die ihm selbst innewohnt. Dieses negative Potenzial würde ich dann auch ihm als Individuum zurechnen und nicht als Ausgeburt des Systems beschreiben. Dennoch – „sowohl als auch!“ – kann es sinnvoll sein, zu schauen, wie „das System“ darauf reagiert und diese individuelle Eigenart ermöglicht oder jedenfalls nicht verhindert.
PÖRKSEN Mir leuchtet diese pragmatische Herangehensweise ein, aber ich will trotzdem – bei dieser Suche nach den blinden Flecken des systemischen Denkens – noch einmal einen grundsätzlichen Einwand formulieren. Ich erinnere mich, dass man in den autobiografischen Aufzeichnungen des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß folgende Sätze lesen konnte: „Ich war unbewusst ein Rad in der großen Vernichtungsmaschine des ‚Dritten Reiches‘ geworden“, so heißt es hier. „Die Maschine ist zerschlagen, der Motor untergegangen, und ich muss mit.“ Hier verwendet Höß, dieser Schreckensmensch, eine Schwundform des systemischen Denkens: Er behauptet die eigene Abhängigkeit, um sich am Ende des Krieges selbst zum Opfer zu stilisieren – wohlgemerkt, als Kommandant von Auschwitz. Ist dieser Verweis auf die ominöse Macht der Umstände nicht auch eine Argumentationsspur, die im systemischen Denken angelegt ist?
SCHULZ VON THUN Nein, das ist sie nicht. Gewiss haben unheilvolle Umstände dazu beigetragen, dass Rudolf Höß zu dem geworden ist, der er war. Und ebenso gewiss hat er als teilautonomer Mensch auf diese Umstände, die er selbst mit herbeigeführt hat, so und nicht anders reagiert. Dialektisch formuliert: Er selbst hat das aus sich gemacht, was die Umstände aus ihm gemacht haben. Das Ergebnis war derart monströs, dass er zu dieser Selbstverantwortung nicht stehen konnte. Indem er sich als unbewusstes Rädchen einer großen Maschine darstellt, kann er sich moralisch ein wenig entlasten – ebenso wie der Kriegsverbrecher, der für sich einen „Befehlsnotstand“ reklamiert. Aber er will nur die eine Seite der Wechselwirkung sehen. Dadurch macht er sich zum Opfer. Diese dependente Deutung des Geschehens vermeidet die Interdependenz, die im systemischen Denken vorgesehen ist.
PÖRKSEN Das erscheint mir als eine erhellende Klärung. Sie sagen, wenn ich es richtig sehe: Man kann Interdependenz ernst nehmen – und ist dann immer beteiligt, die Einflussrichtungen verlaufen von A nach B und von B nach A. Und man kann faktisch gegebene Interdependenz zwar sehen, aber sie nur in eine Richtung, eben dependent interpretieren. Dann stilisiert man sich zum Opfer. Und die Einflussrichtung verläuft scheinbar nur von A nach B. Eben dies behauptet ja Rudolf Höß in seinem Tagebucheintrag. Lässt sich dieser Gedanke noch auf andere Weise illustrieren?
SCHULZ VON THUN Eventuell taugt hier eine Analogie: Jeder Schachspieler weiß, dass ein einziger Zug im System dieses System selbst verändert und im Spiel eine neue Situation entstehen lässt, die vorher noch nicht bestand. Und genau in diesem Sinne kann man verallgemeinern: Das System wirkt auf mich – und ich wirke auf das System. Und es geht um das Anerkennen einer Wechselwirkung, nicht um die Behauptung einseitiger Abhängigkeit.
Die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen
PÖRKSEN Wenn ich mir unser bisheriges Gespräch vergegenwärtige, dann sehe ich ein stets um den Ausgleich bemühtes Denken, eine Kombination der Perspektiven, die man – je nach konkretem Fall und den Besonderheiten der Situation – unterschiedlich gewichtet: Mal steht der Einzelne im Vordergrund, mal die Abhängigkeiten, die diesen Einzelnen regieren.
SCHULZ VON THUN Das ist wohl wahr. Ein leitender Gedanke meiner Arbeit ist tatsächlich die Integration dieser verschiedenen Betrachtungsweisen, die jede für sich nur eine Teilwahrheit belichten und sich deshalb wunderbar ergänzen können. Es ist ein humanistisch-systemisches Menschenbild, mit dem ich arbeite. Auf der einen Seite steht das humanistische Denken, bestimmt von einem Interesse am inneren Menschen, an der Autonomie des Einzelnen und der sich verwirklichenden Persönlichkeit des Individuums: Sei du selbst, so sagen die humanistischen Psychologen, und werde, der du bist! Auf der anderen Seite dann: die systemische Perspektive, die dazu anregt, Kontexte wahrzunehmen, Wechselwirkungen zu erkennen, Regeln der Interaktion und Interpunktion zu analysieren und Abhängigkeiten in den Blick zu bekommen. Mir ist diese Verbindung der Perspektiven so selbstverständlich, dass ich ungläubig staune, wenn jemand das nicht so sieht.
PÖRKSEN Man könnte jedoch einwenden, dass diese Verbindung des Verschiedenen schlicht widersprüchlich ist. Entweder man sieht sich als Gefangenen des Systems. Oder man betrachtet sich als unabhängig und unbeeinflusst. Wenn ich deterministisch argumentiere, dann negiere ich die Möglichkeit persönlicher Autonomie. Wenn ich aber behaupte, dass das Individuum frei und verantwortlich handelt, dann muss ich die Möglichkeiten der externen Determinierung verneinen. Sonst entsteht ein logischer Widerspruch.
SCHULZ VON THUN Wirklich? Was zwingt Sie, diese verschiedenen Positionen als derart unvereinbar anzusehen, sie in ein Entweder-oder-Schema zu setzen? Ich denke da anders und betrachte den Menschen als mehr oder weniger autonom. Meine Lehrerin und Kollegin Ruth Cohn, eine prominente Vertreterin der humanistischen Psychologie, hat einmal gesagt: „Der Mensch steht im Spannungsfeld von Autonomie und Interdependenz.“ So ist es; das ist eine äußerst aufregende und stetig herausfordernde Spannung der menschlichen Existenz, nicht aber ein in den Begriffen der Logik zu beschreibender Widerspruch, der einem großes Kopfzerbrechen bereiten müsste. Die Rede von der Interdependenz betont gewiss die Dimension der wechselseitigen Abhängigkeit in einem äußeren Kräftefeld, aber die Reifung und Persönlichkeitsentwicklung erlaubt es, den Autonomieanteil zu erhöhen, die eigenen Freiheitsgrade zu steigern. Und eben das ist das Anliegen der humanistischen Psychologie.
PÖRKSEN Das hieße dann, wenn ich Ihre Position weiterdenke: Man muss sich gar nicht entscheiden. Beides stimmt. Und beides stimmt gleichzeitig.
SCHULZ VON THUN Genau. Und indem ich meine Abhängigkeiten erkenne, kann ich selbst ein Stück unabhängiger werden, das Ausmaß meiner Selbstbestimmung erhöhen und Verantwortung für meine Entscheidungen übernehmen.
Bernhard Pörksen, Jahrgang 1969, ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen.
Friedemann Schulz von Thun, Jahrgang 1944, war Professor für Psychologie an der Universität Hamburg und ist als Berater und Trainer tätig.
Kommunikation als Lebenskunst. Philosophie und Praxis des Miteinander-Redens (Carl-Auer Verlag, Heidelberg) ist eine kompakte Einführung in die Kommunikationspsychologie – und gleichzeitig ein lebensphilosophischer Ratgeber in dialogischer Form, der auf wohlfeile Glücksformeln und Fertigrezepte zur Selbstoptimierung verzichtet. Gemeinsam erkunden der Psychologe Friedemann Schulz von Thun und der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen die Verbindung von humanistischer Psychologie und systemischem Denken. Sie diskutieren die Bedeutung von glückender Kommunikation für die berufliche Praxis (Coaching von Führungskräften, Pädagogik, interkulturelle Kommunikation etc.). Das Gespräch ist ein für Psychologie Heute bearbeiteter und gekürzter Vorabdruck aus dem soeben erschienen Buch.