Als ein amerikanischer Lokalsender vor einigen Jahren seine Hörer und Hörerinnen an Silvester aufforderte, dem Moderator ihre guten Vorsätze fürs neue Jahr mitzuteilen, meldeten sich 213 Menschen und erzählten bereitwillig von ihren Plänen. Manche wollten lernen, nein zu sagen, andere mehr Verantwortung für ihre Entscheidungen übernehmen, und wieder andere wünschten sich mehr Zeit für sich. Natürlich waren auch die „Veränderungsschlager“ darunter: ein paar Pfunde abnehmen, mit dem Rauchen aufhören,…
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Pfunde abnehmen, mit dem Rauchen aufhören, geduldiger werden, weniger trinken. So weit, so gut. Doch die Radiomacher waren „fies“ – sie fragten in regelmäßigen Abständen bei den Veränderungswilligen nach dem Stand der Dinge: Hatten sie ihre guten Vorsätze eingehalten?
Eine Woche später hielten noch 77 Prozent ihr Vorhaben ein, nach zwei Wochen waren es 66 Prozent. Als ein Monat vergangen war, hatte fast die Hälfte den Veränderungswunsch aufgesteckt, nach sechs Monaten waren nur noch 40 Prozent ihren Vorsätzen treu geblieben (aber auch diese Zahl könnte geschönt sein, da es sich um Selbstangaben handelte).
Das Phänomen ist wohl jedem vertraut: Man will ernsthaft etwas an sich und seinem Leben verändern und nimmt oft guten Mutes das Ziel in Angriff – nur um über kurz oder lang die Flinte ins Korn zu werfen. Veränderungswillige erleben regelmäßig eine große Kluft zwischen guten Absichten und deren Umsetzung, eine Kluft, die unüberwindbar scheint und demotivierend wirkt. Wenn man sich vornimmt: „Ich jogge ab sofort jeden Morgen 30 Minuten“, und es dann nicht tut, hat das negative Folgen. Nicht nur verschwendet man jeden Morgen viel Energie, um mit dem inneren Schweinehund zu kämpfen („Nun steh schon auf, du hast es dir vorgenommen“, „Ooch, es ist doch noch dunkel draußen, und außerdem regnet es“), man fühlt sich auch als Versager, wenn er siegt.
„An Gewohnheiten können auch die besten Absichten nichts ändern“
Warum scheitern so viele Veränderungspläne? Fehlt es an Willenskraft? „Wir sollten nicht uns oder unserem Willen die Schuld geben“, meint der Autor Stephen Guise, „sondern den Strategien, die wir einsetzen.“ Wenn wir etwas verändern wollen, dann glauben und hoffen wir, dass diese Veränderung allein durch den Entschluss zu bewerkstelligen ist. Manchmal sind Hauruckverfahren wie „Ab morgen rauche ich nicht mehr“ durchaus erfolgreich. Immer wieder erzählen Menschen, dass sie von einem Tag auf den anderen ein Verhalten ändern oder die Weichen in ihrem Leben neu stellen konnten – wundersame Geschichten, die den Glauben stärken, dass ein fester Wille Berge versetzen kann. Aber das ist ein Irrtum. Denn bei den meisten Verhaltensweisen oder Denkstrukturen, die wir verändern wollen, handelt es sich um Gewohnheiten. Und diese können wir eben nicht von heute auf morgen umwandeln. Gewohnheiten bilden sich mit der Zeit durch Wiederholung heraus. Sie sind nicht plötzlich da. Deshalb kann man sie auch nicht schnell von heute auf morgen wieder loswerden.
„Menschen scheitern oft in ihren Veränderungsversuchen, und dieses Scheitern ist verständlich, denn äußere Signale wie Zeit oder Umgebung verleiten zu einer Wiederholung vertrauter Verhaltensweisen“, schreiben David Neal, Wendy Wood und Jeffrey Quinn von der Duke University, Durham (USA). „Gewohnheiten sorgen dafür, dass wir tun, was wir immer schon getan haben, daran können auch die besten Absichten nichts ändern.“
Der Gehirnforscher Manfred Spitzer, Ärztlicher Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie am Universitätsklinikum Ulm, erklärt an einem schönen Beispiel, wie unser Gehirn Gewohnheiten und andere Dinge lernt: „Stellen Sie sich vor, Sie stünden auf einem Aussichtsturm in einem frisch verschneiten Park. Unter Ihnen liegen 20 Zentimeter unberührter Neuschnee. Jetzt kommen Menschen, und Sie beobachten, wie diese scheinbar ziellos im Park umherlaufen. Es geht ein leichter Wind, und die Fußstapfen der einzelnen Fußgänger werden rasch wieder verweht. Stellen Sie sich nun weiter vor, dass sich an der einen Ecke des Parks eine Glühweinbude befindet und an der anderen eine Toilette. Das hat zur Folge, dass Sie nach ein paar Stunden aus Ihrer Vogelperspektive eine Spur von der Glühweinbude zur Toilette ausmachen können. Und ein einmal ausgebildeter Pfad wird sich selbst erhalten, weil die Leute lieber auf ihm laufen – ganz einfach, weil das leichter geht. Eine Spur, die entstanden ist, sorgt schon durch ihre Existenz für ihren Erhalt.“
Das Gehirn liebt Automatismen
Solche „Trampelpfade“ gibt es auch in unserem Gehirn. Sie entstehen im Prinzip genauso wie die Spuren im Park – durch ständige Benutzung. Bestimmte Verbindungen zwischen Nervenzellen werden durch wiederholte Erfahrungen gestärkt. „Wenn Sie jeden Morgen nach dem Aufwachen duschen, existiert eine neuronale Bahnung für diese Handlung“, erklärt Stephen Guise. „Sobald Sie aufwachen, feuern die zuständigen ‚Duschneuronen‘, und Sie gehen ganz automatisch unter die Dusche. Sie müssen nicht viel denken.“ Ähnliche neuronale Verbindungen gibt es für viele Handlungen im Alltag: Autofahren, Zähneputzen, das Öffnen der Flasche Wein am Abend, den Griff zur Chipstüte im Supermarkt … Über 45 Prozent unserer täglichen Handlungen beruhen nicht auf bewusstem Nachdenken, sondern sind Gewohnheiten, wie die Forschergruppe um David Neal in Tagebuchstudien mit Studierenden festgestellt hat.
Das Gehirn liebt diese Automatismen, es geht gerne ausgetretene Pfade. Auf diese Weise spart es Energie und bewältigt komplexe Abläufe – wie zum Beispiel beim Autofahren oder Klavierspielen –, ohne jede einzelne Handlungssequenz bewusst planen zu müssen. Wenn man beschließt, einen oder mehrere dieser bequemen Trampelpfade zu schließen, wird sich das Gehirn zur Wehr setzen. Denn für die neue Verhaltensweise, die man ihm anbietet (zum Beispiel ab sofort nur noch Gemüse statt Fleisch zu essen), gibt es noch keine neuronale Bahnung. Die muss erst angelegt werden. Und das gelingt nur mit der richtigen Strategie.
Der Wunsch allein, etwas Neues zu wollen, reicht dabei nicht aus. Denn auf die Motivation „kann man sich nicht verlassen“, sagt Stephen Guise. „Sie hängt davon ab, wie wir uns fühlen.“ Und Gefühle sind negativ beeinflussbar – vom Wetter, von Misserfolgen, von Ärger – und können jede Motivation auf null herunterfahren. Verlässlicher als die Motivation ist unsere Willenskraft, sagt Guise, wohl wissend, dass der Sozialpsychologe Roy Baumeister zusammen mit Kollegen in vielen Studien die Begrenztheit des menschlichen Willens nachweisen konnte (siehe Heft 2/2012: Willenskraft. Nehmen Sie sich nicht zu viel auf einmal vor!). Wie ein Muskel, so Baumeister, ermüdet auch die Willenskraft, wenn man sie überstrapaziert: „Wenn wir unsere Willenskraft ausgeschöpft haben (zum Beispiel indem wir viele Entscheidungen getroffen haben), geben wir früher oder später nach.“ Dann tritt „Ego-Depletion“, Selbsterschöpfung ein. Diese „verlangsamt den präfrontalen Kortex, der für die Selbstregulation entscheidend ist“, so Baumeister. Ein erschöpfter präfrontaler Kortex reagiert träge und macht es einem Menschen schwer, seine Reaktionen zu kontrollieren. Dann können Menschen der Schokolade nicht widerstehen und „vergessen“ unangenehme Aufgaben.
„Stupider Wiederholer“ gegen „smarten Manager“
Wenn dieser bewusste Teil im Gehirn, Stephen Guise nennt ihn den „smarten Manager“, müde wird, tritt der „stupide Wiederholer“ auf den Plan: Die Basalganglien übernehmen dann das Steuer. Und die interessieren sich nicht für höhere und langfristigere Ziele. Sie denken nicht an Lungenkrebs, wenn man sich eine Zigarette ansteckt. Sie vergessen die Waage im Bad, wenn sich Appetit auf Süßes meldet.
Wie der Hirnforscher Gerhard Roth erklärt, sind Basalganglien „eine Art Handlungsgedächtnis“. Dort sind „alle Bewegungsmuster niedergelegt, die sich irgendwann einmal als erfolgreich erwiesen haben“. Hier, so könnte man sagen, sind die Gewohnheiten zu Hause. Und deshalb muss man diese Basalganglien erreichen, wenn man schlechte Gewohnheiten ändern und neue installieren will.
Das ist nicht einfach: „Alles, was wir an Bewegungen ausführen, insbesondere wenn es neu und ungewohnt ist, muss mit diesem Handlungsgedächtnis abgeglichen werden“, erklärt Roth. „Das ist am Anfang schwierig, und deshalb laufen viele neue Bewegungsweisen holprig ab. Je häufiger wir aber diese Bewegung ausführen oder intensiv üben, desto flüssiger geht es und – das ist ganz wichtig – desto weniger müssen wir darauf achten, und schließlich machen wir die Bewegung oder Handlung wie im Schlaf.“
Kleine Schritte führen zum Ziel
Konkret bedeutet das: Wenn ein Verhalten zu einer guten Gewohnheit werden soll, müssen wir im Gehirn einen „Trampelpfad“ dafür anlegen. Und das gelingt am besten mit kleinen ständigen Wiederholungen – und für diese brauchen wir Willenskraft.
„Eine Reise von tausend Meilen beginnt unter deinem Fuß“, wusste schon der chinesische Philosoph Laotse. Ausgehend von dieser Erkenntnis, hat Stephen Guise ein Konzept der kleinen Schritte, sogenannter mini habits, entwickelt. Er ist überzeugt: „Ein wenig zu tun ist besser, als nichts zu tun.“ Und: „Jeden Tag wenig zu tun hat größeren Einfluss, als wenn wir an einem einzelnen Tag ganz viel tun. Wenn wir jeden Tag wenig tun, ist die Chance groß, dass das, was wir tun, zu einer Gewohnheit wird.“
Ein „Mini-Habit“ ist die kleinste Version einer Gewohnheit, die man erwerben möchte. Zum Beispiel:
Sie wollen Ihren Körper durch regelmäßige Liegestützen in Form bringen? Statt gleich mit 50 oder gar 100 Übungen zu beginnen, nehmen Sie sich vor: „Ich mache jeden Tag nur eine Liegestütze.“
Sie wollen endlich mehr Zeit zum Lesen haben? Wenn Sie jeden Tag eine halbe Stunde früher ins Bett gehen (oder früher aufwachen), ergibt das pro Jahr über 180 zusätzliche Stunden – wie viele Bücher können Sie in dieser Zeit lesen!
Wenn Sie mehr Gemüse essen wollen, stellen Sie nicht gleich die ganze Ernährung um. Ein fester Veggietag pro Woche reicht für den Anfang völlig aus.
Wenn Sie abnehmen wollen, streichen Sie nicht gleich alle geliebten Genüsse aus dem Speiseplan. Fangen Sie klein an und lassen zum Beispiel nur die Marmelade beim Frühstück weg.
Erfolgserlebnisse garantiert
Diese kleinen Schritte klingen zunächst lächerlich und lassen den Eindruck entstehen, dass man auf diese Weise niemals sein Ziel erreicht. Doch Mini-Habits haben viele Vorteile. Erstens: Wenn man einmal in Bewegung ist, macht man möglicherweise freiwillig mehr, als man sich vorgenommen hat. Statt einer werden es dann vielleicht zehn Liegestütze, denn wenn man mal begonnen hat, ist es gar nicht so schwer weiterzumachen. Zweitens: Mini-Habits garantieren Erfolgserlebnisse. Solch kleine Vorhaben können gar nicht scheitern. Und drittens: Mini-Habits erschöpfen nicht die Willenskraft. Denn diese, so haben Forscher in einer Metastudie herausgefunden, schwächelt nur dann, wenn folgende vier Faktoren vorhanden sind: Anstrengung, wahrgenommene Schwierigkeit, negative Gefühle, subjektive Müdigkeit. Inwieweit treffen diese Faktoren auf Mini-Habits zu?
Anstrengung: Mini-Habits sind nicht anstrengend. Eine Liegestütze, um bei diesem Beispiel zu bleiben, schafft jeder. Wenn man mehr leistet, ist das ein Bonus. Man fühlt sich dann nicht erschöpft, sondern ist stolz auf die eigene Leistung. Man kann frei entscheiden, ob man mehr tun will. Nur der Entschluss verlangt Willenkraft. Also: Mini-Habits verursachen keine Ego-Erschöpfung.
Wahrgenommene Schwierigkeit: Kleine Schritte sind nicht problematisch. Wenn eine Stunde Workout im Sportstudio vor einem liegen oder vier Wochen strikte Diät, dann sind das schwere „Brocken“. Aber die Minuten für eine Übung oder die Kraft, ein einziges Lebensmittel wegzulassen – das schafft man. Weil Mini-Habits nicht beschwerlich sind, ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Willenskraft dafür nicht ausreicht.
Negative Gefühle: Wenn man sich nach einem langen Arbeitstag nicht auf ein schönes Essen freuen kann, weil man sich vorgenommen hat, die Abendmahlzeit ausfallen zu lassen, ist die Stimmung wahrscheinlich nicht gut. Mini-Habits dagegen haben keinen Einfluss auf das Befinden.
Subjektiv empfundene Müdigkeit: Wenn das Ziel, das man anstrebt, groß und weit entfernt ist, tritt schneller subjektive Müdigkeit ein. Der Berg, der vor einem liegt, scheint unbezwingbar. Wer sich vornimmt, 50 Kilo in einem Jahr abzunehmen, leidet unter der Belastung. Und wenn man nur ein Kilo in einem Monat schafft, fühlt man sich als Versager. Doch wer pro Woche 250 Gramm abnehmen will und das auch schafft, fühlt sich erfolgreich.
Mini-Habits erschöpfen also nicht die Willenskraft. Sie sind daher der perfekte Weg, um neue Gewohnheiten zu entwickeln. Die Gewinne mögen am Anfang klein sein, aber, wie Stephen Guise sagt: „Ein kleiner Sieg über unser Gehirn ist ein großer Sieg.“
66 Tage bis zur neuen Gewohnheit
Bleibt noch die Frage: Wie lange dauert es, eine neue Gewohnheit zu etablieren? Wann wird aus den Mini-Habits eine richtige, stabile Gewohnheit? In einer Studie des University College in London wurden 96 Teilnehmer gebeten, ein Verhalten zu wählen, das zu einer Gewohnheit werden sollte. Manche wollten „täglich Obst essen“, andere hofften auf „15 Minuten Bewegung täglich“. Über 84 Tage hinweg notierten die Teilnehmer dann, ob sie das gewünschte Verhalten ausführten und ob sie es mit der Zeit automatisch taten.
Je nach Vorhaben dauerte es unterschiedlich lang, bis ein Verhalten zur Gewohnheit wurde. Der Vorsatz, ein Glas Wasser nach dem Essen zu trinken, war bereit nach 20 Tagen eine Gewohnheit, das Ziel „15 Minuten Bewegung am Tag“ erreichten die Versuchsteilnehmer erst nach 50 Tagen. Komplexere Vorhaben benötigten noch mehr Zeit. Im Durchschnitt, so registrierten die Londoner Forscher, dauert die Geburt einer Gewohnheit 66 Tage – wobei es keinen Rückschlag bedeutet, wenn man mal einen Tag aussetzt.
Doch eigentlich spielt es gar keine Rolle, wie lange es dauert, bis eine gewünschte Veränderung zur Selbstverständlichkeit geworden ist, meint Stephen Guise. „Denn Sie wollen doch die neue Gewohnheit Ihr Leben lang beibehalten.“
Quellen
Stephen Guise: Mini habits. Smaller habits, bigger results. Amazon Distribution, Leipzig 2013
David T. Neal, Wendy Wood, Jeffrey M. Quinn: Habits – A repeat performance. Current Directions in Psychological Science, 15/4, 2006, 198–202
Gerhard Roth: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. Klett-Cotta, Stuttgart 2007