Verbinden, was nicht passt

Wie kann man Kreativität trainieren, auch wenn viele Forscher sie nicht für trainierbar halten? Indem man Dinge verbindet, die nicht zusammengehören.

Angenommen, Ihre Firma schickt Sie nächste Woche zu einem Seminar, das in völliger Dunkelheit stattfindet. Sie sehen nicht einmal die Hand vor Ihren Augen. Außerdem sind auch noch die Wände schallgedämpft. Sie sollen zusammen mit Kollegen über ein Problem in Ihrer Abteilung sprechen und sich dann möglichst kreative Lösungen überlegen. Können Sie sich vorstellen, in dieser Finsternis vernünftig zu denken, geschweige denn kreativ zu werden?

Absolute Dunkelheit ist ein neuer Trend auf dem großen Markt der…

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Trend auf dem großen Markt der Kreativitätsseminare. Firmen wie das Atelier für Ideen oder Lichtlos behaupten, dass totale Dunkelheit den Zusammenhalt besonders gut stärke, die Teilnehmer sich besser konzentrieren und mehr auf andere eingehen könnten. Als Nachweis dient eine Studie, die 2013 von Wirtschaftswissenschaftlern der Universität Dortmund mit großem PR-Aufwand in die Medien lanciert wurde. Die Probanden, die im Finstern saßen, sollen 30 Prozent mehr Ideen hervorgebracht haben als die diejenigen, die im Hellen denken mussten.

Die neue Methode steht in Konkurrenz mit Dutzenden von Kreativitätstechniken. Eine der bekanntesten ist sicherlich das Brainstorming. Häufig genutzt wird auch die Sechs-Hüte-Methode, bei der die Teilnehmer vor einer Diskussion verschiedene Rollen übernehmen. Der weiße Hut steht für Sachlichkeit, Rot für Emotionalität, Schwarz für Problemorientierung, Gelb für Optimismus, Grün für Kreativität, Blau für Disziplin. Eine andere beliebte Methode ist nach Walt Disney benannt und arbeitet mit drei Rollen. Zunächst darf der Träumer fantasieren, dann weist der Realist auf die Kosten hin, der Kritiker nimmt die Schwächen der Idee aufs Korn. Die Reihenfolge der Rollen muss immer eingehalten werden, ansonsten stirbt die Idee, bevor sie das Licht der Welt erblicken kann.

Kreaktivität und Technik: ein Widerspruch?

Kreativität soll, so definieren Kreativitätsforscher den Begriff, etwas Neues und Nützliches schaffen. Lässt sich eine solche Fähigkeit überhaupt trainieren? Für den Kreativitätsforscher Karl-Heinz Brodbeck beinhaltet schon das Wort Kreativitätstechnik einen logischen Widerspruch, weil Kreativität ein offener Prozess ist. Was am Ende herauskommt, weiß man nicht. „Eine Technik ist dagegen ein Hilfsmittel, um ein Ziel zu erreichen. Doch dazu muss das Ziel schon bekannt sein. Deshalb kann man Kreativität nicht machen; es gibt keine Herstellung zur Fertigung von etwas Neuem“, schreibt der Wirtschaftsethiker Brodbeck. Wie soll, so fragt er, eine genormte Technik für viele unterschiedliche Menschen und Organisationen funktionieren?

Für den Psychologen und Literaturwissenschaftler Norbert Groeben (siehe Heft 3/2014) sind die Methoden nur ein Hilfsmittel, weil sie unter Umständen Hindernisse für die Ausschöpfung der kreativen Kompetenz eines Menschen beseitigen können. Anders gesagt, sie helfen nur, das abzurufen, was bereits im Kopf vorhanden ist. „All die Techniken sind im Prinzip nur eine Entgrenzung der Inkubationsphase, sie verlängern also die Zeit um die Spanne, die jemand braucht, um etwas Neues auszubrüten“, meint Groeben. Inkubation heißt: sich aus gewohnten Denkstrukturen lösen, sich spielerisch und doch dann wieder konzentriert mit dem Problem und der Aufgabe beschäftigen, um vielleicht später auf eine Lösung zu stoßen.

Kreativität: eine Frage der Persönlichkeit?

Auch die Erkenntnisse der Persönlichkeitspsychologie widersprechen der Methodengläubigkeit, wonach man Kreativität einfach mittels einer Technik hervorzaubern kann. Denn kreative Menschen verfügen über ganz bestimmte Eigenschaften, unter anderem Flexibilität im Denken, Selbstbewusstsein, große Frustrationstoleranz und Risikobereitschaft. Der amerikanische Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi wies nach, dass in der Persönlichkeitsstruktur von Kreativen scheinbar gegensätzliche Merkmale eine fruchtbringende Koexistenz eingehen: zum Beispiel Fantasie und Realitätssinn, Extraversion und Introversion, Leidenschaft und Objektivität, Rebellion und Konservatismus.

Wenn aber Kreativität eine Eigenschaft der Persönlichkeit ist, nützen Seminare zur Kreativitätssteigerung wenig oder nichts. Denn vor allem bei Erwachsenen lässt sich die Persönlichkeit, so zumindest die Überzeugung der älteren Persönlichkeitspsychologie, kaum mehr verändern und formen. Die üblichen Kreativitätstechniken seien nicht transferierbar, weil sich das Gelernte nicht übertragen lasse, sagt der Persönlichkeitspsychologe Ernst Hany von der Universität Erfurt. Wer also zum Beispiel den berühmten Ziegelsteintest trainiert, um möglichst viele Verwendungsmöglichkeiten zu finden – der Stein ist nutzbar als Waffe, Türstopper, als Kunstobjekt und so weiter –, wird damit in anderen Situationen nicht kreativer.

Lässt sich im Dunkeln origineller munkeln?

Andererseits scheint es doch kreativitätsfördernde Situationen zu geben, wie Studien aus der Sozialpsychologie nahelegen. Schon in den sechziger und siebziger Jahren zeigten Experimente, dass Menschen in positiver Stimmung kreativer sind als mit einer negativen Einstellung. Auch ReizentzuDeprivation kann positive Auswirkungen haben. Mit Reizentzug arbeiten Seminare, in denen Manager zunächst einige Zeit schweigend im Kloster verbringen oder sich zum Gipfel des Kilimandscharo hochkämpfen. Oder eben im Dunkeln sitzen.

„Die Studien über Deprivation haben widersprüchliche Ergebnisse erbracht“, sagt Kreativitätsforscher Jens Förster. Völlige Dunkelheit ist dabei wohl eher kontraproduktiv. Auch die Dunkelheitsstudie der Dortmunder Wirtschaftswissenschaftler überzeuge nicht, meint Norbert Groeben. „Bei dem Test wird nur die Flexibilität und die Quantität der Einfälle geprüft, mit den üblichen Fragen. Also etwa: Was kann man mit einem Brikett alles machen, und was sind die ungewöhnlichsten Verwendungsmöglichkeiten für eine Zeitung? Aber schon wenn es um die Originalität der Einfälle geht, gibt es keinen Unterschied zwischen Dunkelheit und Nichtdunkelheit“, kritisiert er.

Naturerfahrungen steigern Kreativität

Eindrucksvollere Ergebnisse kommen aber offenbar bei leicht schummrigem Licht zustande. So untersuchten die Wirtschafts- und Organisationspsychologinnen Anna Steidle und Lioba Werth von der Universität Hohenheim die kreativen Ideen ihrer Probanden sowohl bei hellem Büro- als auch im Dämmerlicht. Die Gruppe in schwacher Dunkelheit hatte generell die originelleren Einfälle. Bei einem der Tests sollten die Probanden zum Beispiel Außerirdische malen. Saßen die Maler im Halbdunkeln, sahen ihre Produkte Menschen viel weniger ähnlich als die Zeichnungen, die bei normaler Beleuchtung entstanden.

Die Wissenschaftlerinnen haben dafür zunächst eine ganz profane Erklärung: Im Dunkeln fühlten sich die Probanden weniger beobachtet und konnten daher freier denken. Doch auch die Farbrezeptoren im Auge spielen wohl eine Rolle. Weil sie in dunkler Umgebung nicht aktiv sind, haben Menschen im Laufe der Evolution gelernt, bei Dämmerlicht mehr auf den großen Zusammenhang als auf Details zu achten. Diese Erweiterung des Blickfelds, so die These der Psychologinnen, könne kreative Ideen fördern.

Eine besondere Form von Reizentzug untersuchten Wissenschaftler der amerikanischen Universitäten Utah und Kansas. Sie schickten 56 Studenten vier oder sechs Tage zum Wandern in die Wildnis. Eine Hälfte der Teilnehmer machte vor dem Ausflug einen der üblichen Tests für kreatives Denken. Dabei mussten sie zehn Reihen aus je drei Wörtern mit einem weiteren passenden Wort ergänzen. Die andere Hälfte der Wandergruppe löste die Aufgaben, als sie schon vier Tage unterwegs war. Ihre Ergebnisse waren signifikant besser als die der Vergleichsgruppe. „Wir konnten so zeigen, dass vier Tage Eintauchen in die Natur und die damit einhergehende Abgeschnittenheit von Medien und Technik die Leistungen in einer Kreativitäts- und Problemlösungsaufgabe um volle 50 Prozent erhöhen“, erklärt David Strayer von der University of Utah.

Voraussetzung für Ideen: ein sicheres soziales Umfeld

Der Sozialpsychologe Jens Förster bezweifelt, dass Kreativitätstrainings allgemein für alle funktionieren. Entscheidend sind für ihn die Bedürfnisse des Einzelnen. „Ich frage danach, was braucht die Person, welche Eigenschaften hat sie und welche nicht. Unsere Forschungen haben zum Beispiel gezeigt, dass Menschen eine sichere Arbeitsumgebung benötigen, damit kreative Leistungen begünstigt werden.“ Techniken nützen nur dann etwas, wenn sie zur psychischen Prägung und Situation des einzelnen Teilnehmers passen. Vertrauen Menschen einander nicht, bringen Seminare wenig. Personalplaner sollten daher erst einmal die Stimmung in ihrem Betrieb untersuchen. Fehlt die Sicherheit, muss zunächst einmal Sicherheit hergestellt werden. Fehlt das Vertrauen, braucht es vielleicht eine Gruppensitzung, damit die Mitarbeiter sich wieder kennenlernen.

Ähnliche Überlegungen gelten auch für Seminare, die auf Reizentzug beruhen. Unsichere Menschen reagieren unter Umständen ängstlich und verkrampft auf den Trip in die Einsamkeit. Dagegen entspannt sich vielleicht bei der gleichen Reise ein gestresster Manager, weil endlich einmal die ständige Reizüberflutung gestoppt wird, unter der er normalerweise lebt. In bestimmten Situationen kann Reizentzug daher helfen, dass Menschen aus Automatismen und Routinen ausbrechen und so ihr Potenzial für Kreativität erhöhen. Zu schwache Reize können aber auch Gift für Kreativität sein. Weil es dann an Herausforderungen fehlt, bleiben neue Ideen in der Regel Mangelware. Entscheidend ist also das Vorhandensein eines spannungsvollen Gleichgewichts von Reizintensität und -distanz.

Aufgabe und eigene Leistungsfähigkeit müssen zusammenpassen

Norbert Groeben betrachtet Kreativität als eine Art Lebensstil, der sich über einen längeren Zeitraum entwickeln und zu einem zufriedenen Leben verhelfen kann. Genau wie die kulturell „hochwertige“ Kreativität großer Künstler und Wissenschaftler „kann die alltägliche Kreativität Sinn im Leben schaffen, weil sie über die Flüchtigkeit des Augenblicks hinausweist“, erklärt er. Eine solche Einstellung ist nicht im üblichen Sinne trainierbar. Allenfalls lassen sich günstige Rahmenbedingungen schaffen.

Eine der wichtigsten Voraussetzungen dabei ist die Fähigkeit, eine intrinsische Motivation zu entwickeln, also aufgrund eines inneres Anreizes, der in der Tätigkeit selbst liegt, zu handeln. Eine andere Voraussetzung: lernen, im luftleeren Raum zu schweben und sich unabhängig von Belohnungen zu machen. Der Kreativitätsforscher Csikszentmihalyi benannte drei Bedingungen, die ineinander greifen müssen, damit Ideen sprudeln können: einen Bereich, in dem man sich gut auskennt, das gesellschaftliche Umfeld, das die Idee beurteilt, und drittens das Überzeugtsein von dem, was man da tut.

So gesehen, können wir Zufriedenheit und Erfüllung in allen Lebensbereichen finden – sei es beim Austüfteln neuer Gerichte, beim Züchten einer neuen Rosensorte oder der Choreographie von Fangesängen bei Fußballspielen. Die Aufgabe, die einen fordert, und die eigene Leistungsfähigkeit müssen allerdings zusammenpassen. Wenn es gutgeht, entwickelt sich dann auch der Flow, ein Zustand, den Mihaly Csikszentmihalyi als besonders günstig für kreative Prozesse beschrieben hat: Der Mensch geht ganz in seinem Tun auf, Handeln und Gefühl sind eins geworden.

Ein Künstlertreff mit sich selbst

Zumindest in begrenztem Maße einüben kann man auch eine Fähigkeit, die nach Auffassung von Kreativitätsforschern beim Lösen von Aufgaben besonders hilfreich ist, nämlich Dinge miteinander zu kombinieren, die eigentlich nicht zusammenpassen. Wenn also Innenarchitekten und Designer einen Empfangssaal gestalten sollen, könnten sie beispielsweise an ein Schwimmbad, eine Höhle, einen Friseursalon denken und sich überlegen, welche Elemente aus diesen Räumen sich für den Saal eignen würden.

Auch wenn die gewohnten Erwartungen von Menschen durchbrochen werden, also etwas passiert, mit dem sie nicht gerechnet haben, steigen die originellen Einfälle. Das bewiesen kürzlich in mehreren Tests die Psychologin Simone Ritter und ihr Team von der Universität Nimwegen (siehe Heft 5/2014: Wie wir auf gute Ideen kommen).

Jens Förster glaubt, dass jeder Einzelne selbst herausfinden kann, unter welchen Bedingungen er neugieriger, offener und ideenreicher wird. Das kann eine beinahe therapeutische Rückwirkung haben. „Ich stelle in meinen privaten Coachings zum Beispiel immer wieder fest, dass Menschen mit leichten depressiven Verstimmungen am Ende unserer Treffen ein erhöhtes Selbstbewusstsein und auch wieder ganz neue Ideen haben.“ Mit etwas Unterstützung ist es möglich, sich von gewohnten Denkstrukturen zu lösen und divergentes Denken, also ein Ausschweifen der Gedanken in vielerlei Richtung, ebenso zuzulassen wie freies Assoziieren. Wobei es manchmal schon helfen kann, einen anderen Weg zur Arbeit zu nehmen, um dem Alltagstrott, dem Feind jeglicher Kreativität, zu entfliehen.

„Man kann auch einmal oder zweimal die Woche zwei bis drei Stunden lang mit sich selbst eine Art Künstlertreff vereinbaren“, schlägt Förster vor. Etwas unternehmen, das Spaß macht und was man sich sonst nicht gönnen würde, zum Beispiel einen Kinderfilm anschauen oder allein einen längeren Spaziergang machen. Oder man klebt eine Collage. Es soll ein Spiel sein, und daher kann die Collage später auch im Papierkorb landen. „Es geht darum, bei sich zu sein, vor allem wertfrei bei sich zu sein. Das Ziel dabei ist ja meistens, sich besser zu fühlen. Das sind alles Möglichkeiten, die letzten Endes dazu führen, dass man wieder kreativer wird.“

Literatur

  • Norbert Groeben: Kreativität. Originalität diesseits des Genialen. Primus, Darmstadt 2013

  • Mihaly Csikszentmihalyi: Flow. Das Geheimnis des Glücks. Klett-Cotta, Stuttgart 2013 (16. Auflage)

  • Karl-Heinz Brodbeck: Mythos Kreativitätstechniken, www.khbrodbeck.homepage.t-online.de

  • Anna Steidle, Lioba Werth: Freedom from constraints: Darkness and dim illumination promote creativity. Journal of Environmental Psychology, 35, 2013, 67–80

  • Ronald S. Friedman, Jens Förster: Implicit affective cues and attentional tuning: an integrative review. Psychological Bulletin, 136/5, 2010, 875–893

  • Alice M. Isen, Kimberly A. Daubman, Gary P. Nowicki: Positive affect facilitates creative problem solving. Journal of Personality and Social Psychology, 52/6, 1987, 1122–1131

  • Torsten Norlander, Anette Kjellgren, Trevor Archer: Effects of flotation versus chamber-restricted environmental stimulation technique (REST) on creativity and realism under stress and non-stress conditions. Imagination, Cognition and Personality, 22/4, 2002, 343–359

  • Ruth Ann Atchley, David L. Strayer, Paul Atchley: Creativity in the wild: Improving creative reasoning through immersion in natural settings. PLOS, Dezember 2012, DOI: 10.1371/journal.pone.0051474

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2014: Richtig entscheiden