Die Kunst, sich zu begrenzen

Maßlos erscheint vielen unsere Zeit. Maßlos, das sind die anderen, aber wir doch nicht! Hält das einem genaueren Blick stand?

Eine junge Frau liegt auf dem Bauch auf einem Sofa, das Smartphone vor ihr und hält dabei ihre Kreditkarte in der Hand, da sie dem Kaufangebot nicht widerstehen kann
Selbstbegrenzung? Mäßigung? Was hat das Thema mit uns zu tun? © Westend61/Getty Images

Gehen wir einkaufen, eine Standardsituation des modernen Menschen. Wären wir mit Sokrates unterwegs, könnten wir wie er einst 400 v. Chr. beim Gang über den Markt in Athen sagen: „Wie viele Dinge gibt es doch, die ich nicht brauche!“ Aber hier ist kein Sokrates, also sagen wir eher: „Das könnte ich alles brauchen, vieles könnte ich mir sogar leisten, nur ist leider meine Wohnung viel zu klein!“ Das hält uns nicht davon ab, mehr mitzunehmen, als für unsere Wohnung gut ist.

„Was soll ich tun?“ Diese uralte…

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Wohnung gut ist.

„Was soll ich tun?“ Diese uralte ethische Frage heißt heute: „Was soll ich einkaufen?“ Und die Antwort lautet: „Alles, was nur irgendwie möglich ist!“ Wir halten uns damit an die in unserer Kultur vorgegebenen Formen, in die wir hineingewachsen sind oder die wir als Konvention übernommen haben, ohne weiter darüber nachzudenken: So machen es alle.

Einkaufen ist Teil der Selbstbestimmung

Eine Gesellschaft verändert sich in dem Maße, in dem eine wachsende Zahl von einzelnen Menschen sich selbst verändert. Eine freie Gesellschaft bietet eine Fülle von Möglichkeiten dazu, auch beim Einkaufen.

Natürlich kann man kritisch fragen: Ist die dafür nötige Selbstbestimmung möglich? Verfügt der Einzelne über die Freiheit dazu? Wird nicht alles von anonymen Mächten bestimmt, vor allem von der global operierenden Wirtschaft? Zweifellos gibt es Fremdbestimmung, Heteronomie, und dies in nicht geringem Maße: In vielfacher Weise wird Einfluss auf den Einzelnen genommen, auf Schritt und Tritt wird er bestimmt von anderen, von anonymen Strukturen und Institutionen. Es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, 95 Prozent des Lebens eines Menschen seien fremdbestimmt; übrig bleiben 5 Prozent Selbstbestimmung. Ist das nicht entmutigend? Dennoch erweisen sich die Menschen immer noch als eigensinnig, das ist Teil ihrer Selbstbestimmung, ihrer Autonomie. Nie lässt sich vorhersagen, wie sie sich verhalten. Die entscheidende Frage ist: Wo sind meine 5 Prozent? Und was mache ich daraus?

Was ich daraus mache, kommt beispielsweise beim Einkaufen zum Vorschein. Jetzt liegt es allein in meiner Macht, wofür ich Geld ausgebe. Natürlich wissen das auch die Mächtigen auf der anderen Seite, die mein Geld haben wollen und mir dafür Produkte vor die Augen stellen, immer nach dem Eingang rechts beginnend, entgegen dem Uhrzeigersinn, denn Forschungen haben gezeigt, dass die Menschen lieber so herum gehen. Das große Spiel beginnt: Ich stehe vor dem Kühlregal und will Joghurt einkaufen. Aber welchen? Es gibt mindestens zehn.

Die Dilemmatat der modernen Wahlfreiheit

Als Epoche der Freiheit ist die Moderne zwangsläufig eine Epoche der Wahl; als solche ist sie für die Individuen tagtäglich erfahrbar. Das erste Dilemma der modernen Wahlfreiheit besteht darin, wählen zu müssen, die Wahlfreiheit wird zu einem Wahlzwang. Das widerspricht im Grunde der Idee der Freiheit, die mit den Möglichkeiten der Wahl verbunden ist. Mit den Möglichkeiten wachsen aber die Zwänge der Wahl, und damit sind noch nicht die Zwänge gemeint, die zu einer bestimmten Wahl hin drängen: Eigentlich gibt es 1000 Joghurts, aber irgendjemand möchte, dass ich nur zwanzig vorfinde, alle von einer Firma. Ich könnte fragen, wo die anderen 980 sind, kann mich dann aber definitiv nicht mehr entscheiden. Mit der größeren Wahlfreiheit wird der Verdruss größer, ständig wählen und dafür die Verantwortung übernehmen zu müssen.

Mit der Erfahrung, wählen zu müssen, korrespondiert diejenige, es nicht zu könnenzweites Dilemma der modernen Wahlfreiheit: Die moderne Kultur hat sich zwar aufopfernd um eine Ausweitung der Möglichkeiten, nicht aber um eine Ausbildung des Könnens bemüht, wie das geht, eine Wahl vorzubereiten und zu treffen. Mit der Idee der Wahlfreiheit ist schlicht auch die Aufgeklärtheit und Mündigkeit vorausgesetzt worden, die nötig ist, um eine eigene Wahl zu treffen. Welcher Joghurt ist denn nun der richtige für mich? Mangels Vorbereitung auf die Situation der Wahl werde ich geradezu gelähmt von der Zahl der Möglichkeiten, vom völligen Mangel an verlässlichen Kriterien, sodass ich mich nicht in der Lage sehe, überhaupt zu wählen, oder ich falle von einer Wahl in die andere: Diesen, nein, diesen, nein, doch diesen Joghurt – mit der Konsequenz, dass die Wahlakte sich wechselseitig aufheben. Und es geht ja keineswegs nur um den Joghurt: Immer und überall soll ich wählen, Präferenzen bilden, Prioritäten setzen, Grenzen festlegen, den rechten Moment bestimmen. Das alles ist zu viel für mich.

Zu allem Überfluss werden nach der Wahl, wenn sie mir demnächst gelingen sollte, die Probleme noch größer, denn jede Realisierung einer Möglichkeit bedeutet, auf die Realisierung anderer Möglichkeiten verzichten zu müssen. Dieses dritte Dilemma der modernen Wahlfreiheit ist eine besonders schmerzliche Erfahrung in einer Epoche, die eine solche Vielzahl an verlockenden Möglichkeiten bietet, dass die Versuchung naheliegt, sie alle realisieren zu wollen. Da dies nicht möglich ist, bedeutet jede Wahl Verzicht, und das ist schmerzlich: So sehr der moderne Mensch fürchtet, in der Vielzahl der Möglichkeiten zu ertrinken, so sehr liegt es ihm fern, auch nur auf eine einzige zu verzichten oder durch eine selbst gewählte Reduktion die Zahl der Möglichkeiten einzugrenzen. Das Leben erfordert nicht, sämtliche Möglichkeiten zu realisieren, denn dafür reicht keine Endlichkeit aus. Eher kommt es darauf an, ausgewählte Möglichkeiten so weit wie möglich zu verwirklichen. Und hinzunehmen, dass vieles offenbleibt. Was heißt das für den Joghurt? Einer muss es sein! Der Rest ist Verzicht.

Wählerisch vorzugehen bedeutet abzuwägen, einzuschätzen und zu hinterfragen

Sollte ich mich aber für Überlegung und Abwägung entscheiden, muss ich mich eingehender mit Joghurt befassen, um möglichst klug, differenziert und wählerisch vorzugehen. Eine kluge Vorgehensweise berücksichtigt die verschiedensten Aspekte der Ernährung, um sie abzuwägen, einzuschätzen, Sensibilität zu gewinnen, ein Gespür zu entwickeln, auch das verfügbare Wissen heranzuziehen, ohne dabei Wissenschaft mit letzter Gewissheit zu verwechseln, denn morgen wird es vielleicht schon wieder neue Erkenntnisse geben: Jede Aufklärung von Zusammenhängen ist nur so gut, so weit das momentane Wissen reicht.

Wie ist das also bei dem Joghurt, den ich hier mitnehme? Braucht ihn mein Körper oder nicht? Welche Inhaltsstoffe birgt er, und wie werden sie produziert, konserviert, bearbeitet, verpackt und transportiert? Denn der Joghurt hat erwünschte oder unerwünschte Konsequenzen – nicht nur in meinem Körper, sondern auch am Ort seiner Produktion und auf dem Weg zu mir. Mit seiner Aufnahme in mich gehe ich eine engere Beziehung zu seiner Herkunft, zu den Bedingungen von Produktion und Transport ein. Die sozialen Bedingungen der Arbeitsverhältnisse oder die ökologischen Bedingungen einer Freisetzung von Schadstoffen bei Herstellung und Transport wirken auf direkte oder indirekte Weise auf meine eigenen Lebensbedingungen zurück.

Wenn wirklich, wie es heißt, die Liebe durch den Magen geht, dann gilt dies doch auch für die Liebe zu mir selbst: Der Joghurt kann mir nicht egal sein. Die Ernährung ist ein Ausdruck der Selbstbeziehung, ein intimer Akt, den ein Mensch tagtäglich mit sich vollzieht – intimer noch als die zeitweilige innige Berührung eines anderen Menschen.

Was brauche ich wirklich?

Joghurt ist ein banales Beispiel. Es lässt sich auch auf eine weniger banale, fraglos existenzielle Entscheidung fürs ganze Leben beziehen, nämlich: Mit wem soll ich durchs Leben gehen? Sicherlich, es gibt Unterschiede: Die Menschen stehen nicht zur Wahl wie Joghurtbecher. Sollte man jedenfalls meinen. Im Internet aber vielleicht doch. Vielleicht kann die Joghurt-Erfahrung doch helfen, in der Liebe weiterzukommen: Muss ich alle Angebote wahrnehmen, die auf dem Markt sind? Sind alle Angebote auf dem Markt? Weiß ich, was ich wirklich brauche?

Muss ich mit dem anderen alles erleben, wovon ich träume, oder kann es auch nur ein Teil davon sein? Erfahrungsgemäß wachsen die Chancen der Liebe mit der Mäßigung der Ansprüche an den anderen. Dazu animieren könnte die Einsicht, dass ich selbst dessen Ansprüchen ja auch nicht restlos genügen kann.

Ähnlich wie der Joghurt braucht die Liebe zugleich eine Fähigkeit zur Askese, eine Einübung der Fähigkeit zum Verzicht auf Möglichkeiten, jedenfalls gelegentlich, um beispielsweise nicht ständig allen sexuellen Trieben folgen zu müssen. Der Verzicht ermöglicht, damit leben zu lernen, dass nicht alle Wünsche jederzeit wahr werden können, schon weil etwa der andere andere Wünsche hat und weil er, wie ich selbst, nicht zur bloßen Wunscherfüllungsmaschine degradiert werden will.

Intensiver leben dank Verzicht

Unverzichtbar ist der Verzicht nicht aus moralischen Gründen, sondern aus Gründen der Lebbarkeit: Die Konzentration auf die Realisierung weniger Möglichkeiten intensiviert das Leben und verhindert seine Zerstreuung in Beliebigkeit. Abhängig ist das lediglich von einer Einübung in die Zurückhaltung, mit der für mich selbst ein Spielraum der Freiheit entsteht, der im Gegenzug auch dem anderen mehr Freiraum verschafft. Ohne Erwartungsdruck kann der andere nun darauf warten, dass sein eigenes Begehren sich wieder bemerkbar macht.

Mäßigung heißt, auf ein Maß zu achten. Das ist nicht einfach. Wie schwierig es ist, das richtige Maß zu treffen, erweist sich daran, dass es stets aufs Neue verfehlt wird, meist nach wechselnden Seiten hin. In den Versuchen, alles richtig zu machen, erinnert ein Mensch an den Betrunkenen, der mal links und mal rechts in den Straßengraben fällt, sich auf diese Weise aber, statistisch gesehen, genau in der Mitte der Straße hält. Oder wie Aristoteles, der Denker des Maßes, nüchtern meinte: Es sei unvermeidlich, „gelegentlich nach der Seite des Zuviel, dann nach der des Zuwenig auszubiegen, denn so werden wir am leichtesten die Mitte und das Richtige treffen“ (Nikomachische Ethik, Buch 2). Im Wanken zwischen Übermaß (hyperbole) und Untermaß (elleipsis), zwischen Übertreibung und Untertreibung ist das Maß erst zu finden, das als das angemessene erscheint: mal zu viel Nähe in der Liebe, mal zu wenig.

Ein Problem des Lebens in moderner Zeit besteht darin, dass das kulturell vorgegebene Maß in Bezug auf Lüste des Essens, Trinkens, Liebens, Einkaufens nicht den Verzicht, sondern den Exzess vorsieht. Da sich der auf Dauer nicht gut leben lässt, wird es für den einzelnen Menschen zur Arbeit, sein eigenes Maß zwischen Zuviel und Zuwenig zu finden. Das Maß, um das es in der eigenen Lebens- und Liebeskunst geht, steht nicht von vornherein fest; es kann, je nach Situation und persönlicher Konstitution, auch ein Übermaß oder Untermaß damit gemeint sein.

Nietzsche: "Das Uebermaß als Heilmittel gebrauchen"

Alles aber, was im Über- oder Untermaß betrieben wird, erreicht früher oder später von selbst einen Grad der Sättigung oder des Mangels, an dem es in sein Gegenteil umschlägt, und je extremer das Über- oder Untermaß, desto heftiger der Umschlag. Hier geht es also nicht darum, Gegensätze aufzuheben, eher darum, sie zu bekräftigen, denn sie tragen viel zur Spannung des Lebens bei. Das könnte ein Grund dafür sein, Extreme nicht zu scheuen, sondern sie so weit zu treiben, dass sie die Verhältnisse von selbst zum Umschlag bringen: Vom „Übermaß als Heilmittel“ sprach schon Nietzsche (Menschliches, Allzumenschliches; Vermischte Meinungen und Sprüche, 365), und er sah darin einen möglichen Kunstgriff der Lebenskunst: „Man kann sich seine eigene Begabung dadurch wieder schmackhaft machen, dass man längere Zeit die entgegengesetzte übermäßig verehrt und genießt. Das Uebermaß als Heilmittel zu gebrauchen ist einer der feineren Griffe in der Lebenskunst.“

Keine Angst also vor Extremen: Sie sorgen dafür, über Möglichkeiten der Resonanz auch für ausufernde Schwingungen zu verfügen und die Schwankungsbreite dessen, was als „normales Maß“ aufgefasst wird, zu vergrößern. Den Erfahrungen der Askese und Ekstase verdanken wir, „gleichermaßen zum Verzicht wie zum Genuss der Dinge fähig“ zu sein, wie dies der Philosoph Marc Aurel (Selbstbetrachtungen, 1, 16) bei Sokrates zu sehen glaubte, obwohl nicht bekannt ist, dass der außer seinem Satz zu den vielen Dingen, die er nicht brauche, auch mal gesagt hätte: „Wie viele Dinge gibt es doch, die ich mal ausprobieren könnte!“

Möglich wären interessante Überkreuzungen wie etwa der asketische Exzess: durch die Übung des Verzichts und die Einübung einer Verfeinerung den nachfolgenden Genuss zu vervielfachen. Oder die exzessive Asketik: mit dem Verzicht auf vieles und mit der Reduktion auf eines sich ganz und gar nur diesem einen zu widmen und es in höchster Intensität zu erfahren.

Es könnte bei alldem einen untergründigen Bezug zum eigenen Ich und zu den eigenen Vorstellungen vom Leben geben, möglicherweise auch zur Frage nach dem Sinn, von der Menschen mit fortschreitender Moderne immer häufiger umgetrieben werden. Was hat Mäßigung mit Sinn zu tun? Die Suche nach einem Maß für das eigene Selbst ist zugleich eine Frage nach dem Sinn: Was erscheint mir sinnvoll, was nicht? Und eine mögliche Antwort darauf ist: „Eins ist Not. – Seinem Charakter ‚Stil geben‘ – eine große und seltene Kunst“ (Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft). Stil heißt, eines auszuwählen und festzulegen, anderes nachrangig zu behandeln; etwas Bestimmtes vorzuziehen und hervorzuheben, statt die Kräfte zu zerstreuen; sich auf etwas zu konzentrieren, statt vieles oder alles zu wollen; sich in seinen Ansprüchen zu begrenzen und sich nicht irgendwie zu verhalten, sondern der eigenen Haltung und dem Verhalten Formen zu geben und Grenzen zu setzen. Alles ist möglich? Das ist der verführerische Slogan der Moderne, aber sich auf alles einzulassen hieße, nichts mehr zustande zu bringen.

Wilhelm Schmid, geb. 1953, lebt in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. 2013 erhielt er für sein bisheriges Werk zur Lebenskunst einen Preis der Egnér-Stiftung, Zürich. Homepage: www.lebenskunstphilosophie.de.Twitter: @lebenskunstphil. Taschenbuch: Die Liebe atmen lassen. Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen, Suhrkamp, 2013.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2014: Wie geht Erholung?