Transzendenter Trieb

​Ludger Tebartz van Elst zeigt, wie sich unser Bedürfnis, sich selbst zu übersteigen, manifestiert – in der Religion oder im Fußballverein.

Bei Jenseits der Freiheit handelt es sich nicht um die hundertste Neuauflage des Willensfreiheitsproblems. Stattdessen beschäftigt sich Ludger Tebartz van Elst, Neurowissenschaftler und Professor für Psychiatrie und Psychotherapie in Freiburg, mit unserem Bedürfnis, zu etwas Größerem zu gehören. Das nennt er den „transzendenten Trieb“.

Sein Ausgangspunkt ist, dass es im Menschenleben nicht nur um das individuelle Überleben und die Arterhaltung geht. Im einführenden Kapitel diskutiert er hierzu verschiedene Triebtheorien der Biologie und Psychologie. Insbesondere wir Menschen verstünden im Laufe unserer Entwicklung, dass unser Leben endlich ist. Daraus entstehe der Trieb, sich selbst zu übersteigen (wörtlich: zu transzendieren). Dabei denkt der Autor nicht primär an Religion. Auch die Zugehörigkeit zu einer Familie, einem Fußballverein, einer politischen Partei oder das Schöpfen besonderer Werke sind in diesem Sinne transzendent.

Im zweiten Kapitel geht es um die „Psychobiologie der Freiheit“. Was bestimmt unser individuelles Denken und Verhalten? Der Autor unterscheidet hierfür relativ stabile Eigenschaften wie die Persönlichkeit von dem gegenwärtigen psychischen Zustand, der etwa durch Hunger oder Kopfschmerzen beeinflusst werden kann. Mit der Beantwortung wichtiger Fragen – zum Beispiel was Persönlichkeit oder Intelligenz sind – vermittelt er Grundlagenwissen, ohne mit zu viel Details zu ermüden.

Auch eine Zusammenfassung alter Werke

Freiheit ist für ihn kein Entweder-oder, sondern ein graduelles Phänomen: Sie ist gegeben, „wenn ein Subjekt eine bewusste Entscheidung aus benennbaren Gründen für eine Handlungsalternative fällt und das Verhalten umsetzt“.

Dieses Modell wendet Tebartz van Elst genauso auf alltägliche Situationen an – man sieht etwa eine attraktive Person in der Straßenbahn, traut sich aber nicht, sie anzusprechen – wie auf außergewöhnliche historische Ereignisse, etwa von Stauffenbergs gescheitertes Attentat auf Hitler. Hier wird wie im gesamten Buch die Fähigkeit des Autors deutlich, komplexe Sachverhalte in Schaubildern, Tabellen und Kurzzusammenfassungen zu erklären.

Ein Vorteil des kurzen Buchs ist, dass der Autor darin frühere und umfangreichere Werke etwa zur Freiheit (2015), Schizophrenie (2017), Autismus und ADHS (2018) zusammenfasst. Das wesentlich Neue findet sich in den beiden letzten Kapiteln zum „transzendenten Verhalten“. Darin erläutert er etwa, wie von Stauffenberg und seine Helfer ein Zeichen für folgende Generationen setzen wollten – und dafür bereit waren, ihr Leben zu geben. In psychologisch ähnlicher, doch sozial schädlicher Weise bezögen heutige Amokläufer die Berichterstattung über ihre Tat bei ihren Plänen mit ein.

Alles in allem ist Jenseits der Freiheit ein gelungener Ansatz, eine Erklärungslücke in Psychologie und Psychiatrie zu schließen. Schade nur, dass der für Uneingeweihte wenig ansprechende Titel ebenso wie der hohe Preis einige Leserinnen und Leser abschrecken dürfte.

Ludger Tebartz van Elst: Jenseits der Freiheit. Vom transzendenten Trieb. Kohlhammer, Stuttgart 2021, 168 S., € 39,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2021: Sich wieder nah sein
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