„Liebe deinen Nächsten. Er ist wie du.“
3. Mose 19, 8
Am 5. Juni 1989, einen Tag nach der blutigen Niederschlagung der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, entstand eine kurze Videoaufzeichnung. Ein Mann steht allein auf einer breiten Straße und bringt eine lange Panzerkolonne zum Stillstand. Der vorderste Panzer versucht wiederholt auszuweichen, aber der Mann stellt sich diesem immer wieder in den Weg. Dann klettert er auf das Fahrzeug, um mit dem Fahrer zu sprechen. Schließlich wird er von vier Männern weggezerrt. Bis heute bleibt ungeklärt, wer dieser Tank Man war und was in diesem Augenblick in ihm vorging. Aber ein erstaunliches Detail lässt seine imposante Seelenstärke noch seltsamer erscheinen. Er trägt weder eine Fahne noch ein Transparent, sondern Einkaufstüten. Sie legen nahe, dass der geheimnisvolle Held ein gewöhnlicher Bürger war, der sich auf dem Nachhauseweg völlig unvorbereitet und spontan dazu entschloss, das eigene Leben für die Rechte seiner Mitmenschen zu riskieren.
Biologen und Evolutionstheoretiker betrachten nicht nur spektakuläre Heldentaten wie diese, sondern alle Handlungen, die das Wohl anderer Menschen zum Ziel haben, als erklärungsbedürftige Phänomene. Für sie ist jede Blutspende, jede Wegauskunft und jeder Euro, der im Hut des Bettlers landet, ein kleines Rätsel. Auch jedes noch so schlichte Industrieprodukt, das die disziplinierte Zusammenarbeit einer ganzen Armee von Arbeitern erfordert, stellt eine Herausforderung für die Evolutionstheorie dar. Schon Darwin zerbrach sich den Kopf darüber, wie das Gute in die Welt kommt. Wir Menschen zählen zu den Gewinnern im unerbittlichen Kampf ums Dasein. Wir existieren nur, weil unsere Vorfahren über ihre Feinde triumphierten. Doch wir alle kennen Fairness und Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Mitgefühl aus unserem Alltag. Haben wir eine Lücke in der grausamen Logik der Evolution entdeckt? Ja und nein. Wir können zwar nicht mithilfe des Geistes die Gesetze unserer Natur außer Kraft setzen. Aber wir vermögen unsere evolutionär entstandene Begabung zur Empathie auf unvorhergesehene Weisen einzusetzen. In den letzten Jahrzehnten haben Wissenschaftler zahlreiche Indizien für die These gesammelt, dass unsere sozialen Gefühle ebenso tief in unserer Biologie verwurzelt sind wie der Egoismus. Schon bald könnte es ihnen gelingen, die zentralen Theorien der Soziobiologie wie die Teile eines Puzzles zu einem großen Bild der menschlichen Natur zusammenzufügen. Für die Frage, was richtig oder falsch ist, wäre eine solche Synthese völlig belanglos. Die Natur ist kein moralischer Kompass. Aber die Soziobiologie kann uns helfen, optimale Rahmenbedingungen für Kooperation und Altruismus zu entwickeln.
Martin Nowak, Professor für Mathematik und Biologie in Harvard, und der Wissenschaftsautor Roger Highfield haben ein leicht verständliches und faszinierendes Buch über die Kooperative Intelligenz verfasst, die sie als das „Erfolgsgeheimnis der Evolution“ betrachten. „Das Spektrum und Ausmaß…
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