„Bereit sein, loszulassen“

Der Schriftsteller David Wagner lebt mit einer fremden Leber. Sein Roman "Leben" erzählt von Angst, Hoffnung und dem Leben nach der Transplantation.

Zwei Kinder springen frei und ausgelassen an einem weißen Strand und der Junge schlägt dabei ein Rad
Dem Schriftsteller ist nach der Transplantation eine quasi zweite Kindheit geschenkt worden. © Shapecharge/Getty Images

PSYCHOLOGIE HEUTE Herr Wagner, Sie haben ein vielbeachtetes Buch über Ihre Lebertransplantation geschrieben. Würden Sie ohne das Buch im Alltag überhaupt noch daran denken, dass Sie mit dem Organ eines anderen Menschen leben?

DAVID WAGNER An meine eigene Transplantation, meine eigene Geschichte denke ich schon. Die ist ganz eng bei mir, und die Gedanken an das Geschenk, dank dessen mir ein Weiterleben ermöglicht wurde, wird es immer geben. Mit dem Buch ist es etwas anderes, das Buch ist ein Roman. Ich habe…

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ermöglicht wurde, wird es immer geben. Mit dem Buch ist es etwas anderes, das Buch ist ein Roman. Ich habe meine Geschichte fiktionalisiert, um freier darüber sprechen zu können. Die Erzählerfigur ist zwar ein Ich-Erzähler und heißt auch mal Herr W., aber das ist eine Kunstfigur, jemand anderes. Es war mir wichtig, Leben und Fiktion deutlich zu trennen, weil es mir unangenehm wäre, ständig über mich persönlich zu sprechen. Das ist meine Art, mich zu schützen. Es gibt natürlich Veranstaltungen, da wird diese Trennung unterlaufen. Auf der einen Seite gibt es die literarische Rezeption des Buches, aber daneben gibt es ja auch so etwas wie eine thematische Rezeption. Wenn ich vor Gruppen spreche, die mich aufgrund des Themas eingeladen haben, zählt natürlich das Authentische. Da muss ich dann immer sagen: Ja, die Geschichte ist schon wahr, aber sie ist auch fiktionalisiert. Meine eigene Geschichte ist etwas anderes. Aber das Buch war ganz sicher ein Versuch, das Erleben zu verarbeiten. Abgeschlossen ist das Ganze damit nicht.

PH Auf der letzten Seite Ihres Buches klingt an, dass es auch als ein Dankesbrief an den Menschen gelesen werden kann, der Sie gerettet hat. Ist das so?

WAGNER Das ist eine Lesart, die der Text am Ende nahelegt. Und in gewisser Weise ist das Buch ein solcher Dankesbrief. Transplantierte können ja den Angehörigen des Spenders anonym schreiben. Aber da man nichts über sich sagen darf, wäre das ja ein sehr eigenschaftsloser, inhaltsloser Brief. An dieser Aufgabe scheitert der Erzähler im Buch, und auch ein Schriftsteller müsste wohl daran scheitern. Ein Aspekt des Buches ist sicher der Dank, obwohl es nicht richtig wäre, das Buch nur darauf hinunterzubrechen. Ich habe mich natürlich mit der Frage befasst, wie so ein anonymer Dank aussehen könnte, dessen Adressaten man nicht kennt, und fand, dann kann ich auch gleich ein Buch schreiben – da weiss man auch nicht, wo es ankommt, aber es kommt irgendwo an. Ich habe schon eine Art Auftrag gespürt, dieses Buch zu schreiben. Ein Auftrag, dem ich mich glaubte stellen zu müssen und mit dem ich mich auch gequält habe. Die Beschäftigung mit dem Buch hat ja fast fünf Jahre gedauert. Weil ich mir nicht sicher war, wie ehrlich ich darin sein kann, was ich preisgeben soll, wie ich es hinbekomme, dass nicht eine mitleiderregende Krankengeschichte daraus wird.

PH Könnte man sagen, Ihr Buch hält im übertragenen Sinn den Menschen am Leben, dessen Organ wiederum Sie am Leben hält? Liegt darin der Versuch, eine Parität zwischen Geber und Nehmer herzustellen?

WAGNER Ja. Das entspricht in etwa auch dem Gedanken, der im Buch einmal geäußert wird, dass ja nicht nur der Transplantierte durch den Spender, sondern auch der Spender ein Stück weit weiterlebt – im Transplantierten. Der Organempfänger ist ja auch ein Aufbewahrungsbehälter für ein Organ, das auf diese Weise weiterlebt. Dieser Gedanke hat mich ziemlich fasziniert, und die Vorstellung einer Parität ist sehr schön. Denn grundsätzlich haben wir es hier ja mit einem sehr asymmetrischen Vorgang zu tun: Es geht um ein großes, lebensrettendes Geschenk, das man nicht erwidern kann. Darum ist die Anonymität des Spenders auch so wichtig.

PH Ist diese Anonymität nicht auch schwer zu ertragen?

WAGNER … schwer zu ertragen, aber auch schön. Weil man sich so alles ausmalen, vorstellen kann, wie und wer der andere gewesen sein mag. Das zieht mich vielleicht besonders an, weil ich Schriftsteller bin.

PH Ein anonymes Geschenk von lebensrettendem Ausmaß ruft unweigerlich die Frage nach dem Spender wach. Wer war, wie lebte, wie starb er? Sie haben sich eine Spenderin ausgemalt. Warum eine Frau?

WAGNER Das Bild war eigentlich sofort da. Es liegt ja auch eigentlich nicht so fern, sich – als Mann zumindest – weibliche Erlöserfiguren vorzustellen. Ob das nun der Fliegende Holländer ist oder Lohengrin, alle müssen sie von Frauen erlöst werden, die sich opfern. Das ist wohl kulturell bei uns so figuriert, und ich nehme das dankbar an.

PH Vielleicht wählt die Fantasie auch das begehrte Geschlecht, weil es ja sicher Verschmelzungsfantasien gibt?

WAGNER Ja, die gibt es natürlich und die fantasiert man sich dann je nachdem lieber heterosexuell aus. Es stehen da verschiedene Phantasmen im Raum, auch die inzestuöse Konnotation gibt es da, Stichwort „Wälsungenblut“. Das Fantasieren hilft jedenfalls, mit dem Geschehen fertigzuwerden. Es ist notwendig, sich eine Geschichte vorzustellen und auszumalen, die den ganzen Vorgang erträglich macht. Und die Vorstellung vom schönen jungen Mädchen, das einen rettet und erlöst, erleichtert diesen Prozess – mehr als der Gedanke eines fremden, feindlichen Eindringlings. Für den eigenen Seelenfrieden ist es wichtig, sich ein schönes, freundliches Wesen vorzustellen, mit dem man sich verbindet.

PH Das Wort „einpflanzen“ ist viel bildhafter als der Begriff „transplantieren“. Ein Stück eines anderen verwächst mit dem eigenen Körper und soll gemeinschaftlich mit diesem funktionieren. Das ist ja auch unheimlich. Es entsteht etwas, das Sie mit dem Begriff der Chimäre bezeichnen. Chimären sind Mischwesen, wie sie etwa die griechische Mythologie mit der Sphinx kennt. Was bedeutet dieser Vorgang für das Ich, die eigene Identität?

WAGNER Das ist unheimlich, ja. Interessant ist, dass es diesen Chimärismus auch während der Schwangerschaft gibt, und da sind wir schon bei einem weiteren Phantasma, dem Gefühl, man trage eine Schwangerschaft aus. Ich stelle mir vor, dass Frauen, die Kinder haben, in ihren Fantasien Ähnliches erleben, wie ich es erfahren habe. In Berichten von weiblichen Transplantierten taucht der Gedanke der Schwangerschaft häufiger auf. Im Buch spielt dieses Element keine starke Rolle mehr, aber auch bei mir war so etwas vorhanden.

PH Das Gefühl der körperlichen Einverleibung belebt ja auch noch andere mythisch- archaische Vorstellungen. Sie erwähnen in Ihrem Buch eine Frau mit ihren kannibalistischen Fantasien. Kannibalistische Vorstellungen leben von der Idee, dass auf magische Weise die Fähigkeiten und Eigenschaften des anderen einverleibt werden.

WAGNER Ja, solche Vorstellungen gibt es. Es gibt zum Beispiel viele Beschreibungen von Geschmacksveränderungen bei Transplantierten, wie es das ja übrigens auch bei Schwangerschaften geben kann. Es ist aber sehr schwer messbar, wie sich ein Mensch verändert. Wir verändern uns ja alle ständig. Wobei die Leber insofern ein besonderes Organ ist, weil sie tatsächlich andere Stoffe bilden kann, als es der Körper des Empfängers bisher konnte. Sie beeinflusst (und verändert) damit die biologischen Vorgänge im Körper. Das hat etwas Unheimliches. Aber obwohl ich als Schriftsteller gewohnt bin, mich selbst zu beobachten, könnte ich jetzt nicht sagen, inwiefern die Transplantation mich verändert hat.

PH Verschwindet dieses Gefühl, den eigenen Körper mit einer zweiten Person zu teilen, wieder? Wird man irgendwann wieder „ganz der Alte“?

WAGNER Das Ganze vollzieht sich in Wellen, würde ich sagen. Direkt nach der Transplantation ist das noch kein Thema, da ist man bloß mit Überleben beschäftigt, mit dem rein körperlichen Geschehen und den medizinischen Aspekten. Und irgendwann setzen diese Fragen dann ein. Es kann aber auch sein, dass sie gar nicht einsetzen, es gibt Patienten, die das ganz nüchtern sehen, so wie die meisten Chirurgen – dass mit der Leber eine biologische Fabrik erneuert worden ist, dass ein Ersatzteil ausgewechselt wird. Nicht jeder muss den Vorgang überhöhen –wobei ich persönlich nicht finde, dass das ein „Überhöhen“ ist.

PH Wie intensiv solche Fragen auftauchen, hängt vielleicht auch vom transplantierten Organ ab. Kulturell ist sicher in unseren Breiten das Herz am stärksten mit symbolischen Bedeutungen beladen. Im Chinesischen ist allerdings die Leber der Sitz der Seele.

WAGNER Genau, und bei den Alten auch. Die Gefühle, die kommen schließlich frisch von der Leber weg … Aber alles ließe sich eben auch mit der nüchternen Metapher vom Ersatzteil erklären. Der Körper war in der Werkstatt, und nun ist er repariert und funktioniert wieder. Manche Menschen finden auf diese Weise ihren Seelenfrieden. Auf jeden Fall befindet man sich nicht ständig in diesem Diskurs, das Leben normalisiert sich; wenn alles gutgeht, herrscht Alltag. Und trotzdem kehrt immer mal wieder der Gedanke zurück: Es ist nicht selbstverständlich, es hätte auch anders kommen können.

PH Gibt es so etwas wie einen Abschied vom eigenen kranken Organ?

WAGNER Für mich gab es das eigentlich nicht. Das ist das Merkwürdige bei einer Erkrankung, wie ich sie hatte, der Autoimmunhepatitis – da wird schon das eigene Organ als „fremd“ wahrgenommen, abgestoßen und durch eine autoimmune Reaktion zerstört. Man könnte sagen, ich hatte schon etwas Fremdes im Körper. Der Abschied fiel mir daher nicht so schwer, wie man es vielleicht empfindet, wenn ein Organ bis zu einem bestimmten Zeitpunkt wunderbar funktioniert hat und dann plötzlich aus irgendeinem Grund versagt. Aber natürlich gibt es trotzdem Fantasien, wo ist jetzt dieses Stück von mir … oder den Gedanken, sich davon verabschieden zu wollen …

PH Eine schwere, lang dauernde Krankheit, gerade wenn sie seit der Kindheit besteht, formt die Identität – Charakter, Empfindungen, Ziele und Träume. Was bedeutet der Abschied vom alten, durch Krankheit geprägten Leben?

WAGNER Das ist eine große Frage für den Protagonisten meines Romans, seine Angst vor der Heilung. Wer wird er denn dann sein am Ende, wo doch die Krankheit zuvor einen so großen, bestimmenden Teil seines Lebens ausmachte? Wird er die Welt plötzlich anders sehen, wenn er nicht mehr ständig müde ist, die phasenverschobenen Wahrnehmungen, die tranceartigen halluzinogenen Zustände fehlen? Die Krux ist, dass die Krankheit ihn auch zu etwas Besonderem macht. Ist die Welt hinterher noch so schön, wie er sie in der Krankheit sehen kann? … Aber er betrachtet sie hinterher dann wohl doch ziemlich ähnlich. Es kommt mir jetzt der Gedanke, ob es hier nicht auch etwas gibt, was mit einer Schwangerschaft vergleichbar ist. Bevor man das erste Kind hat, weiß man nicht, wie es sein wird, ein Kind zu haben. Es gibt das große Davor und Danach. Und ganz grob gesehen, ist es mit meiner Geschichte wohl auch ein bisschen so. Es kommt schon nicht von ungefähr, dass ich dieses Buch geschrieben habe. Es gibt solche Schnittstellen, Kipppunkte im Leben, plötzlich steht man auf der andern Seite. Bevor man ein Kind bekommt, ist man selbst immer noch Kind, und danach muss man die Welt von der andern Seite aus anschauen.

PH Und man kann nie mehr in das „Davor“ zurück.

WAGNER Ich gebe gern zu, das war auch meine Angst vor der Operation, dieses lange Aufschieben und keine Lust darauf haben, weil ich aus dem Eigenen, dem Vertrauten nicht weg will. Nicht loslassen möchte. Es ist ja auch nicht garantiert, dass danach alles rosig ist, es kann einem ja auch noch schlechter gehen.

PH Ihr Ich-Erzähler lehnt beim ersten Angebot die Transplantation ab. Sie können sich diese Situation jedenfalls gut vorstellen?

WAGNER Ja, und die Situation kommt auch gar nicht so selten vor. Das kann verschiedene Gründe haben, man kann zufällig grade eine Grippe haben, aber auch darüber hinaus: Man muss bereit sein. Bereit sein, alles loszulassen. Zurückzulassen, was war, ohne zu wissen, was sein wird.

PH Bei einer lebensbedrohlichen Krankheit setzt man sich zwangsläufig mit dem Tod auseinander. Und wenn auch nicht unbedingt ein Einverständnis, so entwickelt sich doch vielleicht in vielen Fällen ein Hinnehmen der Situation. Das ist eine schwer errungene seelische Leistung, die bei der Entscheidung für eine Transplantation wieder rückgängig gemacht werden muss. Ist nicht auch das schwierig?

WAGNER Vor allem ist eine große Aufgabe damit verbunden – das gerettete Leben mit Sinn zu erfüllen, die Aufgabe, sich des geschenkten Lebens auch würdig zu erweisen! Bei mir persönlich war das, was Sie ansprechen, weniger gravierend, weil ich nicht final mit meinem Leben abgeschlossen hatte. Ich war ja noch sehr jung, und der junge Mensch denkt nicht so superendlich. In dem Alter macht man ja auch Dummheiten, sucht das Risiko, fordert den Tod geradezu heraus. Die Vorstellung, jung zu sterben, hat auch etwas Attraktives …

PH Wen die Götter lieben …

WAGNER … genau, den nehmen sie jung zu sich. Vielleicht kann ich es so sagen: Mit der Unsicherheit, der Ungewissheit hatte ich mich abgefunden – die Unwägbarkeiten bleiben ja auch mit einer Transplantation bestehen –, und ich habe mir nie große Vorstellungen darüber gemacht, was ich mit siebzig, achtzig wollen könnte und wie ich dann leben würde. Die Krankheit hat mich gelehrt, in sehr kurzen Fristen zu denken. Zu sagen: In den nächsten drei Jahren könnte ich dies oder jenes vielleicht noch tun. Die Vorstellung, Karriere zu machen, einen tollen Job zu suchen und mich für ein Haus zu verschulden, das lag außerhalb meiner Sichtweite. Daraus ergab sich wiederum der Freiraum, ein Buch zu schreiben. Die Krankheit half mir, mich aus bürgerlich vorgeprägten Zwängen abzukoppeln – das ist dann die schöne Seite einer solchen Krankheit. Die Krankheit hat mir ermöglicht, mich auf das zu konzentrieren, was ich wirklich machen wollte. Man vertrödelt nichts – wenn ich die Möglichkeit habe, dieses und jenes zu machen, zum Beispiel nach Barcelona zu gehen, dann mache ich es jetzt.

PH Als Organempfänger kommt man auf eine Warteliste. Mit jedem Tag des Wartens rückt man auf der Empfängerliste nach oben und dem Leben näher, weil die Wahrscheinlichkeit wächst, ein Organ zu bekommen, aber gleichzeitig rückt man auch dem Sterben näher. Wie hält man diesen Zustand aus?

WAGNER Das ist eine große Zerrissenheit, die man nach Möglichkeit wegdrängt. Es herrschen da zwei absolut gegensätzliche Bewegungen, und man möchte natürlich nicht auf den Tod eines Menschen hoffen. Es ist eine absurde Situation. Literarisch konnte ich das nur darstellen, indem ich diese Sammlung absurder Todesfälle in den Text eingebaut habe. Sie machen auf die Absurdität des Lebens und seines Endes aufmerksam.

PH Der Erzähler in Ihrem Buch hadert nicht wie Hiob mit seinem Schicksal. Er legt sein Schicksal in die Hände anderer, „gibt seinen Körper ab“, fast wie einen Gegenstand. Ist das die erträglichste Art, mit der Situation umzugehen?

WAGNER Zum einen versteht man nicht alles, was medizinisch bei einer Behandlung notwendig ist, zum anderen hatte ich auch ein großes Vertrauen in die Medizin. Ich habe mich gern abgegeben. Die medizinischen Prozeduren haben mir nicht so viel ausgemacht, das musste halt sein, dagegen habe ich nicht rebelliert. Auch diese Frage „Warum ich?“ habe ich nie gestellt. Ich habe das Geschehen mit einer gewissen Distanz von außen betrachtet, als sei es schon eine Geschichte. Es hat mich auch interessiert, was da jetzt wieder alles gemacht wird, es war auf eine gewisse Art auch spannend. Und davon abgesehen rettet die Intensivmedizin Leben, ohne die Krankenhaustechnologie wäre ich, wäre mein Protagonist schon nicht mehr da. Die Dankbarkeit überwiegt, diese Technologie ist für mich positiv besetzt. Das Negativklischee von der Apparatemedizin stört mich ein bisschen.

PH Spenderangehörige stehen vor der Aufgabe, den Leib eines geliebten sterbenden Menschen in einen Körper, in ein Objekt umzuwandeln, das mit der geliebten Person nichts mehr zu tun hat. Muss der Transplantierte andersherum seinen Körper erst wieder zu seinem Leib machen?

WAGNER Ja, in dem Sinn, wie wir gerade darüber gesprochen haben. Die Instrumentalisierung entspricht der Krankenhausmethodik und -logik. Und allmählich eignet man sich den Körper dann wieder an, das Sexuelle erwacht wieder. Für eine gewisse Zeit ist die nüchterne instrumentelle Betrachtungsweise vielleicht gut, und dann wird der Körper langsam wieder zum eigenen.

PH Es gibt immer wieder Suizidgedanken in Ihrem Buch, und zwar vor und auch nach der Transplantation.

WAGNER Die biochemische Erklärung liegt da am nächsten. Die Leber ist dieses Stimmungsding, die kann das auslösen. Und nach der Transplantation ist da diese übergroße Aufgabe: Mein Gott, jetzt hab ich ein neues Leben. Bin ich dem überhaupt gewachsen? Kann ich dieses Leben jetzt auch sinnvoll und würdig ausfüllen? Es ist ja ganz normal, dass es da Abstürze geben muss. Tot sein ist eigentlich die süßere und einfachere Lösung. Und die anfängliche Euphorie nach der Transplantation hält natürlich nicht ewig an.

PH Sie stehen jetzt mit Ihrem Buch in der Öffentlichkeit. Und das ist sehr wichtig, denn es gab in Deutschland noch nie so wenige Spender wie heute. Nur zwölf Personen pro eine Million Einwohner haben einen Spenderausweis.

WAGNER Damit kommen wir zum Dankesbrief zurück. Mit Leben habe ich auch ein Anliegen! Wenn sich jemand aufgrund der Lektüre überlegt, ob er Spender werden möchte, freue ich mich natürlich.

PH Herr Wagner, fürchten Sie den Tod jetzt mehr als vor der Transplantation?

WAGNER Das weiß ich nicht. Fürchte ich ihn überhaupt? Eine gewisse Todessehnsucht ist nicht ganz verschwunden. Aber so einiges würde ich gern noch weitererzählen. Ein paar Kapitel könnten gern noch kommen.

INTERVIEW: DÖRTHE BINKERT

David Wagner wurde 1971 geboren und wuchs im Rheinland auf. Er studierte Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bonn, Paris und Berlin und verbrachte längere Zeit in Rom, Barcelona und Mexiko-Stadt. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Sein Debütroman Meine nachtblaue Hose erschien im Jahr 2000, es folgten Kurzgeschichten (Was alles fehlt, 2002), Gedichte und andere Erzählungen. Sein Roman Vier Äpfel stand 2009 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis, gleichzeitig erschien das Buch Spricht das Kind. Leben wurde 2013 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2014: Geheimnisse