Von sanft bis kraftvoll

Kristin Neff hat Pionierarbeit in der Erforschung von Selbstmitgefühl geleistet. Nun hat sie eine neue Seite dieser mentalen Fähigkeit entdeckt.

Im Jahr 2011 wurde Kristin Neff für einen Artikel in der New York Times interviewt – und war überrascht, wie negativ dieser kommentiert wurde. Neff ist Psychologieprofessorin an der University of Texas und hat mit einer Skala zur Messung von Selbstmitgefühl im Jahr 2003 den Grundstein für dessen Erforschung gelegt. Als die New York Times 2011 auf sie aufmerksam wurde, stand die Veröffentlichung ihres ersten erzählenden Sachbuchs Self-Compassion kurz bevor.

Worüber haben sich die Menschen im Kommentarbereich in jener Zeit so echauffiert? Eine Sorge war, dass die Praxis des Selbstmitgefühls Amerika zu einem Land voller Feiglinge mache. Das bedient ein Narrativ, das Neff entkräften möchte. Am Anfang ihrer Karriere war Selbstmitgefühl kaum erforscht, die westliche Psychologie widmete sich eher dem Selbstwertgefühl. In der buddhistischen Lehre hingegen ist Ersteres seit langem etabliert. Durch sie inspiriert, entwickelte Neff ein Modell, das drei Komponenten des Selbstmitgefühls eruiert: Freundlichkeit, geteilte Menschlichkeit und Achtsamkeit.

Kraftvoll Veränderungen anstoßen

In ihrem aktuellen Buch konzentriert sich die Psychologin auf eine bislang von ihr unentdeckte Seite des Selbstmitgefühls: das kraftvolle Selbstmitgefühl. Es ist das Pendant zum sanften Selbstmitgefühl, das Neff auch Yin-Energie nennt. Sie befähigt Menschen, sich selbst Halt zu geben, wenn sie sich verletzt oder unzulänglich fühlen. Die Yang-Eigenschaft des kraftvollen Selbstmitgefühls hingegen stößt wichtige Veränderungen an. Aber beide Energien antworten auf dieselbe Frage: Was brauche ich, um mein Leiden zu lindern?

Die MeToo-Bewegung sei ein gutes Beispiel für kraftvolles Selbstmitgefühl, schreibt Neff. Sie hat ihr Buch speziell für Frauen verfasst, denn entgegen der Annahme, dass Frauen als stereotyp sanftmütige Geschöpfe Meisterinnen des Selbstmitgefühls sein müssten, sind sie eher besonders selbstkritisch. Die Härte sich selbst gegenüber, eine Gefahrenabwehrreaktion, soll das Sicherheitsgefühl erhöhen, so die Hoffnung. Selbstmitgefühl kann das auch, motiviert jedoch durch Liebe und nicht durch Angst.

Neff erzählt sehr persönlich, gibt Einblicke in ihre gescheiterten Beziehungen und in die Erziehung ihres autistischen Kindes. Jede Aussage über die Wirkung von Selbstmitgefühl unterstützt sie durch Studien und Experimente (es gibt 522 Fußnoten), deren Aufbau sie ausformuliert, so dass uns auf knapp 400 Seiten häufig „Teilnehmerinnen und Teilnehmer“ oder „Bewerberinnen und Bewerber“ begegnen – oder die Übersetzung überambitioniert aus female manager „weibliche Managerinnen“ macht.

Ein Blick ins amerikanische Original zeigt, dass es mit 100 Seiten weniger auskommt. Es braucht eine Weile, bis diese Fülle bewältigt ist, dafür sind die zahlreichen Übungsanleitungen etwas, das eine jede Person sofort umsetzen kann.

Kristin Neff: Kraftvolles Selbstmitgefühl für Frauen. Klar für sich selbst einstehen, engagiert handeln und Erfüllung finden. Aus dem Amerikanischen von Heide Lutosch. Kailash, München 2022, 448 S., € 22,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2022: Angstfreier leben
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