Als ihr Sohn Rowan sechs Jahre alt war, besuchte Kristin Neff mit ihm eine Vogelshow im Zoo. Die beiden nahmen ihre Plätze ein und die Vorstellung begann. Rowan war begeistert. Er stellte sich auf seinen Sitz und redetet laut. Eine Frau in der Reihe vor ihnen, die mit ihren beiden Töchtern gekommen war, drehte sich mehrmals um und signalisierte Rowan mit Schsch-Lauten, er solle ruhig sein. Aber Rowan, der autistisch ist, reagierte nicht. Neff versuchte, ihn zu beruhigen, aber er war so aufgeregt, dass er…
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der autistisch ist, reagierte nicht. Neff versuchte, ihn zu beruhigen, aber er war so aufgeregt, dass er sich nicht beherrschen konnte. Da drehte sich die Besucherin erneut um und fuhr den Jungen an: „Kannst du bitte mal den Mund halten!“ Rowan war verwirrt und fragte seine Mutter mit erschrockener Stimme, wer die Frau sei.
„Wenn irgendjemand meinen Sohn bedroht oder aggressiv behandelt, verwandle ich mich in eine Bärenmutter, die ihr Junges erbittert beschützt“, schreibt Neff in ihrem Buch Fierce Self-Compassion (deutsche Version: Kraftvolles Selbstmitgefühl für Frauen, siehe S.67). Sie sei total wütend gewesen und habe die Frau zurechtgewiesen. Dann verließ sie mit ihrem Sohn die Vorstellung. Selbstmitgefühl ist für Kristin Neff eben nicht gleichbedeutend mit ständiger Sanftmut.
Freundlichkeit, Menschlichkeit, Achtsamkeit
Neff gilt als Pionierin der Forschung zu Selbstmitgefühl. Als sie in den frühen 2000er Jahren mit ihrer Arbeit begann, sprach man vielleicht in buddhistischen Meditationskreisen über Selbstmitgefühl. In der akademischen Psychologie dagegen hörte man den Begriff kaum. Heute liegen nach Neffs Angaben rund 5000 wissenschaftliche Studien dazu vor; etwa 80 davon hat sie selbst durchgeführt. Neffs Ratgeberbücher sind Bestseller und ihr TEDx-Talk wurde mehr als 2,7 Millionen Mal angeklickt. Die Mischung aus fundierter Wissenschaft und intimen Einblicken in ihr eigenes Leben kommt an.
Nach Neff umfasst Selbstmitgefühl drei Komponenten: Selbstfreundlichkeit (sich selbst gegenüber verständnisvoll und einfühlsam sein), geteilte Menschlichkeit (anerkennen, dass alle Menschen unvollkommen sind und leiden) und Achtsamkeit (sich erlauben, alle Gefühle zu spüren, auch die schmerzhaften).
Kürzlich hat sie dieses Konzept noch erweitert. Neben das sanfte Selbstmitgefühl, das auf die Kraft der Fürsorge baut, setzt sie nun das kraftvolle Selbstmitgefühl, das Leid durch mutiges und beherztes Handeln lindert. Dabei hat sie wiederum aus eigenen Erfahrungen geschöpft. „Früher habe ich geglaubt, meine raue Seite sei ein Charakterfehler, den ich überwinden muss“, schreibt sie. „Jetzt weiß ich, dass mein Biss genau das ist, was es mir ermöglicht hat, das Leben zu meistern.“
"Meine Mutter ist meine beste Freundin."
Ich besuche Kristin Neff im texanischen Austin, wo sie seit fast 25 Jahren lebt. Zum Interview hat sie mich zu sich nach Hause eingeladen. Die Fahrt mit dem Bus dauert vierzig Minuten. Ich steige an einer breiten, vielbefahrenen Hauptstraße aus und biege dann in eine Seitenstraße ein, die mit ihren weit auseinanderliegenden Häusern und großen Rasenflächen fast ländlich wirkt. Jetzt um die Mittagszeit ist es wie ausgestorben.
Neff wohnt in einem Einfamilienhaus mit Giebeldach und weißer Kalksteinfassade. An einer Seite des Hauses legen Handwerker gerade einen neuen Zugang. Auf mein Klingeln hin öffnet Neff die Tür und sagt freundlich: „Hi, I’m Kristin.“ Vor mir steht eine 57-jährige Frau in beigem Sweatshirt und dunkler Jogginghose. Sie führt mich in eine offene, in warmem Grün gestrichene Küche und bereitet dort Tee für uns zu, den sie genau vier Minuten ziehen lässt („wie es die Briten machen“). Dann gehen wir weiter ins lichtdurchflutete Wohnzimmer, das mit chinesischen Vasen und Abbildungen des Buddha dekoriert ist. Neff nimmt auf dem cremefarbenen Sofa Platz; ich auf einem Sessel gegenüber.
Im Nebenzimmer höre ich Schritte; ein Fernseher läuft. Das sei ihre Mutter, erklärt Neff. Die Psychologin hat dieses Haus vor zwei Jahren gekauft und ist dabei, es nach den Bedürfnissen von ihr und ihrer Mutter erweitern zu lassen. Seit acht Monaten wohnen die beiden zusammen. „Den Anbau gemeinsam zu planen hat viel Spaß gemacht“, sagt sie. „Ein wunderbares Projekt für uns zwei. Meine Mutter ist meine beste Freundin. Das war schon in meiner Kindheit so.“
Vom Vater verlassen - physisch und emotional
Kristin Neff ist in den Vororten von Los Angeles aufgewachsen. Zunächst bestand die Familie aus vier Personen: Vater, Mutter, der 1966 geborenen Kristin und dem drei Jahre älteren Bruder Parker. Der Vater arbeitete als Manager in einer großen Firma; die Mutter kümmerte sich um die Kinder – damals wie im Bilderbuch. Doch die Zeit war im Umbruch. Als Neff drei Jahre alt war, beschloss der Vater, seinen Traum vom Hippieleben auf Hawaii wahrzumachen. Er verließ die Familie. Die Mutter nahm einen Job als Sekretärin an und zog die Kinder fortan allein groß.
Den Vater sah Neff nur alle zwei oder drei Jahre, wenn sie ihn auf Maui besuchte, wo er in einer Kommune lebte. Die Begegnungen seien nicht ohne Spannungen verlaufen, erzählt sie. Als sie acht war, habe er sie und ihren Bruder gebeten, ihn zukünftig nicht mehr Dad, sondern Bruder Dionysos zu nennen. „Es war wie ein Schlag in den Magen. Es fühlte sich an, als hätte er uns als Vater endgültig verlassen, nicht nur physisch, sondern auch emotional.“ Auf der Habenseite rechnet sie ihm immerhin an, dass er sie schon als Kind an indisch orientierte Spiritualität herangeführt hat.
Vor allem aber ist Neff ihrer Mutter dankbar. Die enge Beziehung zu ihr sei wohl der Grund dafür, dass sie trotz der schwierigen Konstellation keine unglückliche Kindheit hatte. Ähnlich wie ihr Vater interessierte sich auch die Mutter für Astrologie und New-Age-Literatur. Aber sie hatte auch eine pragmatische Seite. Trotz des schmalen Budgets stellte sie sicher, dass die Kinder eine gute Ausbildung bekamen und zog mit ihnen in ein günstiges Apartment am Rand eines wohlhabenden Viertels, wo es erstklassige öffentliche Schulen gab.
Neff beschreibt sich als eher stille, aber selbstbewusste Schülerin mit hervorragenden Noten. Allerdings habe sie Probleme mit Jungen gehabt, sagt sie. „Ich wählte Boyfriends, die mich früher oder später sitzenließen. Es war, als spielte ich immer wieder meine Kindheitserfahrung nach, nicht liebenswert zu sein und verlassen zu werden.“
Die Liebeswirren
Nach der Highschool schrieb sich Neff zunächst an der University of California in Los Angeles in Kommunikationswissenschaften ein und wechselte dann für ein Master- und Promotionsstudium in Psychologie zum Campus in Berkeley.
Als Doktorandin stieß sie erstmals auf die Idee von Selbstmitgefühl. Was sie dorthin führte, waren Ereignisse „wie aus einer soap opera“, erzählt sie. Die Ausgangslage: Da sie sich für anthropologische Psychologie interessierte, wollte Kristin Neff in ihrer Dissertation untersuchen, wie indische Eheleute über ihre Rechte und Pflichten dachten, und hatte einen einjährigen Forschungsaufenthalt in Indien arrangiert. Sie war mittlerweile mit einem Kommilitonen verheiratet, den sie im ersten Studienjahr kennengelernt hatte. („Ich liebte ihn, auch wenn er mir immer wieder sagte, ich hätte viele Unzulänglichkeiten.“)
Dann kamen die Turbulenzen. Sie verliebte sich Hals über Kopf in einen Forscher, der an der Universität arbeitete, ein Mann, dreizehn Jahre älter als sie und ebenfalls verheiratet. Die beiden begannen eine intensive Affäre. Neff fühlte sich so geliebt und verstanden wie noch nie zuvor. Sie verließ ihren Mann. Doch wie sich bald herausstellte, dachte der Geliebte nicht daran, seine Ehe zu beenden. Am Boden zerstört, brach Neff allein nach Indien auf.
Dort ging es nahtlos weiter mit den Liebeswirren. Nach kurzer Zeit lernte sie einen britischen Autor und Menschenrechtsaktivisten kennen. „Ich war nicht auf der Suche nach einer neuen Beziehung, aber Rupert war liebevoll und charmant und eroberte mein Herz im Sturm“, erzählt Neff. „Er lud mich ein, ihn bei einem Trip in den Regenwald zu einem indigenen Stamm zu begleiten. Und wenn mir das Leben ein vielversprechendes Abenteuer anträgt, sage ich selten nein.“ Kristin und Rupert wurden ein Paar. Sie reisten gemeinsam durch Indien und Südafrika und verbrachten dann ein Jahr in London.
Schließlich kehrte Neff zusammen mit dem neuen Partner nach Berkeley zurück. Es war eine unglaublich angespannte Situation, sagt sie, in der sie versuchte, dem Chaos, das sie angerichtet hatte, Herr zu werden und ihre widersprüchlichen Gefühle zu bändigen. „Mein Noch-Ehemann war wütend auf mich und ich schämte mich sehr, ihn betrogen zu haben. Ich grollte immer noch meinem Ex-Geliebten, dass er sich nicht für mich entschieden hatte. Gleichzeitig litt ich mit ihm, denn er war an einem Hirntumor erkrankt und hatte nur noch wenige Monate zu leben.“
Meine eigene Untreue verzeihen
Und inmitten all dieses Aufruhrs, den sie maßgeblich selbst mitverursacht hatte, musste die junge Frau irgendwie die Konzentration finden, um ihre Dissertation fertigzustellen. Um zur Ruhe zu kommen, besuchte sie eine wöchentliche Meditationsklasse in einem buddhistischen Zentrum um die Ecke. Dort wurde nach der Lehre des Zenmeisters Thich Nhat Hanh praktiziert, in der Mitgefühl mit sich selbst eine große Rolle spielt. Es war eine Offenbarung für sie, erzählt Neff. „Ich lernte, meine intensiven Emotionen besser zu regulieren und mich selbst mit freundlicheren Augen zu betrachten. Die Selbstvorwürfe, die mich so quälten, ließen nach.“
Das sei zunächst nicht leichtgefallen, sagt sie. „Ich dachte, mir meine Untreue zu verzeihen bedeute, mich aus der Verantwortung zu stehlen.“ Doch zu ihrem Erstaunen trat genau das Gegenteil ein. „Als ich aufhörte, mich ständig selbst zu attackieren, und akzeptierte, dass es menschlich ist, unreif und schwach zu sein, konnte ich mir mein Fehlverhalten genauer ansehen.
Mir wurde beispielsweise klar, dass ich die Affäre benutzt hatte, um meiner unglücklichen Ehe zu entfliehen. Auf diese Weise hatte ich nicht nur meinem ersten Mann, sondern auch meinem Ex-Geliebten und dessen Frau Leid zugefügt. Und glücklicherweise fand ich vor seinem Tod noch die Gelegenheit, ihm das zu sagen.“
Selbstmitgefühl oder -wertgefühl?
Neff ging zunächst zwei Jahre als Postdoc an die Universität von Denver, wo sie für die bekannte Selbstwertforscherin Susan Harter arbeitete. 1999 dann konnte sie eine Stelle als Assistenzprofessorin am Institut für pädagogische Psychologie der Universität von Texas ergattern. Nachdem sie sich dort eingewöhnt hatte, wandte sie sich dem Thema Selbstmitgefühl zu, jener Haltung, die sie als Rettung in einer großen Krise erfahren hatte.
Sie hatte zunächst durchaus Zweifel. Wie würde man im Kreis der Kolleginnen und Kollegen auf eine Idee reagieren, die damals ziemlich abseitig war? Sie wurde positiv überrascht. Ihre Forschungspläne stießen auf Wohlwollen. „Ein älterer Professor, der so etwas wie mein Mentor war, ermunterte mich geradezu, das Thema voranzutreiben“, erzählt Neff. „Etwas zu erforschen, für das mein Herz schlägt, meinte er, würde wahrscheinlich gute Arbeiten hervorbringen. Und in der Rückschau hat er damit recht gehabt.“
In ihrem ersten Paper, das 2003 im Fachjournal Self and Identity erschien, stellte Neff ihr Konzept von Selbstmitgefühl mit den drei Komponenten Selbstfreundlichkeit, geteilte Menschlichkeit und Achtsamkeit vor. In einem zweiten Paper präsentierte sie eine Skala, mit der man Selbstmitgefühl messen konnte. Auch diese Veröffentlichungen seien positiv angekommen, sagt sie. „Ich habe einen guten Einstieg gefunden.“
Neff stellte das Selbstmitgefühl dem Selbstwertgefühl gegenüber. Über Jahre war die Steigerung von Selbstwert als Heilung gegen allerlei individuelle und gesellschaftliche Probleme propagiert worden. Doch dieser Hype war nun am Abflauen. „In der Psychologie hatte man begonnen, die Probleme dieses Ansatzes offenzulegen“, erinnert sich Neff. „Beispielsweise wurde klar, dass das Streben nach Selbstwert zur Abwertung anderer Menschen und narzisstischem Verhalten führen kann. Ich argumentierte nun, dass Selbstmitgefühl eine wirkungsvolle Alternative darstelle. Das erregte Aufmerksamkeit.“
"Selbstmitgefühl ist doch nur Selbstmitleid."
Auch half ihr, dass Selbstmitgefühl mit dem Konzept der Achtsamkeit verbunden ist, das zu diesem Zeitpunkt in der Psychologie schon recht etabliert war. So hatte Jon Kabat-Zinn in den 1970er Jahren an der Universität von Massachusetts Mindfulness-Based Stress Reduction als Methode zur Stressbewältigung entwickelt. „Hätte die Mindfulness-Bewegung nicht den Weg geebnet, wäre es für mich sicher schwerer gewesen“, sagt Kristin Neff. „Zu Mindfulness lag schon eine anschauliche Menge an Forschung vor und ich konnte mich da in gewisser Weise einreihen.“
Es gab durchaus Einwände, erinnert sich Neff: „Ich hörte immer wieder die gleichen Argumente: Selbstmitgefühl ist doch nur Selbstmitleid; es macht verwöhnt und antriebslos. Ich habe schnell gelernt, auf diese Mythen einzugehen und sie zu entkräften.“ Später gab es auch Kritik an der Konstruktionsweise von Neffs Messskala, zum Teil so heftig, dass sie vom „Skalenkrieg“ spricht. Die Attacken motivierten sie, noch härter zu arbeiten. Sie und andere Forschende legten Studien vor, die die Gültigkeit und Verlässlichkeit des Messinstruments belegten.
2007 veröffentlichte Neff eine Studie zu Selbstmitgefühl und psychischem Wohlbefinden. Darin zeigten sie und andere, dass selbstmitfühlende Menschen weniger ängstlich, gereizt und bekümmert sind als Personen, denen es an Selbstmitgefühl fehlt. Auch eine 2009 veröffentlichte Studie, in der Neff weitere Belege für die Vorteile von Selbstmitgefühl zusammentrug, wurde viel zitiert.
2010 lernte Neff auf einem vom Dalai-Lama organisierten Treffen Christopher Germer kennen, einen klinischen Psychologen, der Psychotherapie mit Meditation kombiniert. Gemeinsam entwickelten sie das Mindful Self-Compassion-Programm für das Training von Selbstmitgefühl und führten es erfolgreich an Schulen und andernorts durch.
Größte Liebe und größte Herausforderung
Mittlerweile war man auch außerhalb der Wissenschaftsgemeinde auf die Psychologin aus Austin aufmerksam geworden. Die New York Times, Marie Claire, der Scientific American und viele andere Medien im In- und Ausland berichteten über ihre Forschung. Neff wurde zu zahlreichen Gastvorträgen und Kongressen eingeladen. 2011 erschien ihr erstes Ratgeberbuch Self-Compassion, das bislang in 17 Sprachen übersetzt ist.
Selbstmitgefühl dominierte Neffs Arbeit. Aber auch in ihrem Privatleben spielte es eine immer größere Rolle. 2002 war Kristin Neff Mutter geworden. Ihr Sohn Rowan sei ein wunderhübsches Baby gewesen, erzählt sie in ihrem Buch Self-Compassion, aber im Laufe der ersten Lebensjahre sei klargeworden, dass er sich nicht wie andere Kinder entwickelte. 2004 wurde bei ihm Autismus diagnostiziert. „Ich liebe meinen Sohn unendlich“, schreibt sie, „aber ihn großzuziehen ist die größte Herausforderung meines Lebens gewesen.“
Anschaulich schildert sie, wie Selbstmitgefühl ihr half, nicht in Verzweiflung zu verfallen. „Wenn Rowan im Supermarkt eine seiner vielen ohrenbetäubenden Schreiattacken hatte und mich die Leute missbilligend ansahen, weil sie annahmen, er sei ein verwöhntes Gör und ich eine schlechte Mutter, sprach ich mir selbst Trost zu. Wenn ich mich angstvoll fragte, ob Rowan jemals selbständig leben würde, lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf meinen Atem. Und wenn ich ihm gegenüber ärgerlich reagierte, erinnerte ich mich daran, dass kein Mensch perfekt ist.“
Bigottes Ungeheuer
Das Leben mit dem Sohn habe ihr auch die Bedeutung des kraftvollen Selbstmitgefühls deutlich gemacht, schreibt sie in ihrem jüngsten Buch Fierce Self-Compassion. „Selbstfürsorge muss stark und mutig sein, wenn sie uns oder unsere Lieben vor Schaden schützen soll. Mütter wissen, wie stark die Momma-Bear-Energie sein kann, wenn ein Bully unsere Kinder beschimpft oder jemand ihre Sicherheit bedroht.“
Sie beschreibt, wie sie einmal in Rumänien einer Gastwirtin die Stirn bot. Diese hatte abgelehnt, Rowan unterzubringen, weil sie Angst hatte, das autistische Kind werde schreien oder Sachen zerstören. Dabei habe er sich überhaupt nicht störend verhalten, schreibt Neff. Sie wünschte, sie hätte die Pensionsbetreiberin nicht ein „bigottes Ungeheuer“ genannt und sich mehr darauf konzentriert, das ungerechtfertigte Verhalten der Frau anzusprechen, räumt sie ein. Aber das Erlebnis habe ihr vor Augen geführt, wie wichtig Bissigkeit ist, um Leid zu lindern.
Der heute 21-jährige Rowan habe sich prächtig entwickelt, sagt Neff. Er wohnt in einer eigenen Wohnung, besucht Kurse an einem Community College und fliegt dreimal im Jahr nach Deutschland, wo sein Vater, von dem sich Neff mittlerweile getrennt hat, mit seiner neuen Familie lebt. „Ob er jemals einem bezahlten Beruf nachgehen wird, da bin ich mir nicht so sicher. Aber dass er überhaupt mal so unabhängig leben würde, hätte ich niemals zu hoffen gewagt.“
Von manchen Kollegen nicht gemocht
Die stolze Mutter verheimlicht nicht, dass sie auch eine weniger fürsorgliche Seite hat: „Besonders im Arbeitsleben bin ich manchmal eher Bulldogge als Momma Bear.“ Wenn beispielsweise ein Student ein unsinniges Argument vorbringt oder eine Doktorandin eine Studie mit großen Mängeln durchführt, sei sie schnell irritiert und reagiere ärgerlich. Eigentlich gehe es ihr nur darum, Fehler auszumerzen und die Arbeit voranzutreiben. Aber auf andere könne ihre unverblümte Kritik wie Gemeinheit wirken, weiß sie. „Menschen, die mich nicht gut kennen, reagieren oft regelrecht sprachlos, wenn sie eine Ladung meiner Schärfe abbekommen, denn die meiste Zeit bin ich freundlich und warm. Ich habe es heute besser im Griff als früher, aber ich finde es immer noch herausfordernd, Gefühle von anderen im Auge zu behalten.“
Wegen ihrer Bulldoggenseite, die manchmal an unangemessener Stelle zum Vorschein komme, werde sie von manchen Kollegen und Kolleginnen an ihrem Institut in Austin nicht gemocht, sagt Neff. Das findet sie verständlich. Die Spannungen gingen allerdings darüber hinaus.
„Wenn ich begeistert erzählte, dass meine Arbeit erneut in den Medien war, unterstellten mir manche Narzissmus und Eigenwerbung. Wenn ich in einer Abteilungsbesprechung eine kritische Frage stellte, wurde mir das als Aggression ausgelegt.“ Gleichzeitig hätten manche das Thema Selbstmitgefühl als wissenschaftlich nicht handfest genug angesehen. Dies habe dazu geführt, dass sie zwar eine Anstellung als Associate Professor erhielt, die Beförderung zur Vollprofessorin aber sei ihr einige Jahre später verweigert worden.
Bislang hat Neff sehr entspannt auf dem Sofa gesessen. Aber als sie über die Probleme im Institut spricht, klingt in ihrer Stimme Frustration und auch Empörung mit. 2021 sei es erneut zum Krach gekommen, erzählt sie. Sie habe beschlossen, in den Vorruhestand zu gehen, und hatte auf den Titel einer professor emerita gehofft, der mit verschiedenen Vergünstigungen verbunden ist. Doch auch dieser sei ihr nicht zugestanden worden, „das erste Mal in der Geschichte des Instituts“, wie sie hinzufügt. Ihre Erklärung: „Ich habe immer sehr mein eigenes Ding gemacht. Anstatt freiwillig Gremienarbeit zu übernehmen oder Konferenzen zu organisieren, habe ich mich darauf konzentriert, Selbstmitgefühl zu erforschen und zu lehren, weil mir dies am wichtigsten ist. Aber in der Universitätswelt kommt das nicht gut an.“
Spirituelle Zugänglichkeit für alle
Als ich die Psychologin nach ihren Zukunftsplänen frage, kehrt ihre Gelassenheit zurück. „Ich bin froh, aus dem Akademikerleben raus zu sein, denn mit Forschung habe ich abgeschlossen“, sagt sie. „Wissenschaftliche Studien sind hilfreich, wenn es um klar definierbare Konzepte und messbare Größen geht. Aber für viele Fragestellungen ist die Methode zu beschränkt.“ Sie beschäftige sich momentan viel mit Nondualismus, also der buddhistischen Idee, dass alles im Universum miteinander verbunden ist und es keinen Unterschied zwischen Subjekt und Objekt gibt. „Über Nondualismus kann man nicht aus einer wissenschaftlichen Perspektive sprechen. Was zählt, ist die subjektive Erfahrung einzelner Menschen.“
Sie werde wohl zukünftig weiter in diese mehr spirituelle Richtung gehen, sagt sie und zeigt auf ein Buch mit dem Titel The Heart of Who We Are, das auf dem Couchtisch zwischen uns liegt. Die Autorin, Caverly Morgan, ist eine ehemalige Zenmönchin, die nun Schüler und Schülerinnen in Oregon erfolgreich in nondualer Meditation unterrichtet. Neff erzählt, dass sie Morgan auf einem Retreat kennengelernt hat und sie nun befreundet sind. „Wir werden uns wahrscheinlich bald zusammentun. Menschen zu vermitteln, dass Spiritualität etwas Zugängliches und Alltägliches ist, wird auch dabei helfen, Selbstmitgefühl zu lehren.“
Auch auf das Leben mit ihrer Mutter scheint Neff sich zu freuen. Als sie mich zum Abschied zur Haustür begleitet, erzählt sie, wie harmonisch die ersten Monate des gemeinsamen Wohnens verlaufen sind: „Wir trinken jeden Morgen eine Tasse Kaffee zusammen und abends ein Glas Wein. Am kommenden Wochenende gehen wir Jalousien für die neuen Räume aussuchen.“ Man merkt ihr an, dass sie sich darauf freut.
Ich verabschiede mich und laufe zurück zu der Bushaltestelle. Als ich mich noch mal zum Haus umdrehe, kann ich Kristin Neff durch ein großes Fenster im Anbau sehen. Ihre Mutter steht neben ihr.
DAS PORTRÄT
In unserer Serie erschienen zuletzt:
Brent Roberts – Der Wandelbare. Heft 8/2023
Tim Lomas – Der Kartograf des Fühlens. Heft 4/2023
Ralf T. Vogel – Der Vielseitige. Heft 12/2022
Ulrike Ehlert – Die Stressforscherin. Heft 8/2022
Steven Hayes – Der Mann, der sich der Angst stellte. Heft 5/2022
Angela Friederici – Die Frau an der Schnittstelle. Heft 2/2022
Sie können diese Hefte auf unserer Website nachbestellen: psychologie-heute.de/einzelhefte
Vier Bücher von Kristin Neff
Kraftvolles Selbstmitgefühl für Frauen
Selbstmitgefühl muss nicht sanft und fürsorglich sein, sondern hat auch eine kraftvolle Seite, so die These in Neffs jüngstem Buch. Es erfordert Mut, gegen Ungerechtigkeiten aufzubegehren und für die eigenen Bedürfnisse mehr Raum einzufordern. Diese Art von Selbstmitgefühl zu entwickeln sei insbesondere für Frauen wichtig, denen Wut und Stärke oft nicht zugestanden würden. Anhand ihrer Forschung und eigenen Geschichte zeigt Neff, wie das gelingen kann. Kailash 2022
Selbstmitgefühl: Das Übungsbuch (zusammen mit Christopher Germer)
Das Buch basiert auf dem achtwöchigen Programm Mindful Self-Compassion (MSC), das Neff und Germer entwickelt haben, um Menschen zu helfen, Selbsthass loszulassen und nachsichtiger mit sich zu sein. Es enthält Übungen für den Alltag, Meditationen und Fallbeispiele, die bei Beziehungsstress, Ängsten, Gewichtsproblemen und in vielen anderen Situationen nützlich sein können. Arbor 2019
Teaching the Mindful Self-Compassion Program: A Guide for Professionals (zusammen mit Christopher Germer)
Ein Leitfaden für Fachleute aus Pädagogik, Psychologie und anderen Bereichen, die das Mindful Self-Compassion (MSC)-Programm durchführen wollen. Neff und Germer liefern einen Überblick zur Theorie und Forschung hinter dem Programm und erläutern seine Anwendung in Gruppen und in individuellen Settings wie einer Psychotherapie. Guilford 2019
Selbstmitgefühl. Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden
„Niemanden behandeln wir so schlecht wie uns selbst“, meint Kristin Neff in ihrem ersten Ratgeberbuch. Wenn wir unseren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden, verfallen wir oft in unbarmherzige und schädliche Selbstkritik. Neffs Gegenmodell: Wenn wir uns selbst freundschaftlich behandeln, tut das nicht nur unserer Seele gut, sondern erlaubt uns auch, ein erfüllteres Leben zu führen. Neben Forschung und persönlichen Erfahrungen enthält das Buch Tests, Fallbeispiele und Übungen. Kailash 2012