Der Wandelbare

Er war Konditionstrainer, Kellner, Koch – dann wurde Brent Roberts Persönlichkeitsforscher und postulierte, dass unsere Persönlichkeit wandelbar ist.

Der Persönlichkeitsforscher Brent Roberts
Wenn es um seine revolutionäre Forschung geht, wird Brent Roberts schnell selbstironisch. © Dave Kasnic für Psychologie Heute

Brent Roberts scheint die Langeweile nicht zu schätzen. Ob man ihn für ein Interview an der University of Illinois besuchen könne, einem beschaulichen amerikanischen Hochschul­städtchen, bestehend aus zwei Gemeinden? „Außer Maisfeldern gibt es hier nicht viel zu sehen“, antwortet er per E-Mail. Anderswo wäre ihm lieber. Mehrere Wochen und Vorschläge später – „Wir könnten uns zum Pickleball verabreden“ – sind wir schließlich in der gut 200 Kilometer nördlich gelegenen Metropole Chicago verabredet. Wir…

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– sind wir schließlich in der gut 200 Kilometer nördlich gelegenen Metropole Chicago verabredet. Wir treffen uns im „Ramen-San“, einem japanischen Restaurant zwei Blocks nördlich von Downtown Chicago. Danach wollen wir einen Spaziergang machen durch die Wolkenkratzerschluchten der Stadt, vielleicht noch einen Kaffee trinken. Wir haben also mehrere Stunden für unser Gespräch.

Brent Roberts gehört zu den meistzitierten Persönlichkeitspsychologen der vergangenen 30 Jahre. Seine Kollegin Julia Rohrer von der Universität Leipzig bezeichnet ihn als den „absoluten Rockstar“ ihrer Disziplin. Rockstars haben ja bisweilen etwas Aufrührerisches, sie brechen mit Regeln. Die eherne Regel, mit der Brent Roberts brach, reicht ins Jahr 1890 zurück. Damals schrieb William James, der Vater der amerikanischen Psychologie: „Bei den meisten von uns ist der Charakter im Alter von 30 Jahren wie in Gips gegossen, um nie wieder aufzuweichen.“ Rund hundert Jahre später las man diese These in praktisch allen Lehrbüchern der Persönlichkeitspsychologie: Mit 30 sei die Persönlichkeit so gut wie ausgeformt, in all den Jahrzehnten danach verändere sich nicht mehr viel, jede und jeder bleibe ein Leben lang dem eigenen Charakter treu.

So lustig sein Umgang, so solide seine Forschung

Brent Roberts ist es als jungem Professor gelungen, dieses Dogma tief zu erschüttern. Mit witzigen und nicht ohne Schärfe geschriebenen Aufsätzen. Vor allem aber durch unbestechliche Datensammlungen und sogenannte Metaanalysen. Dabei sichtet man die Ergebnisse vieler Einzelstudien, um eine Art statistisches Fazit zu ziehen aus Jahrzehnten weltweiter Forschung.

„Ich bediene mich gerne bei der harten Arbeit anderer Leute“, sagt Brent Roberts selbstironisch, während wir auf unser Essen warten. Mein erster Eindruck: Brent Roberts ist ein außergewöhnlich schlagfertiger und witziger Gesprächspartner, der ein solides Wortspiel zu schätzen weiß. Er sieht fit und durchtrainiert aus, wie er da in seinem dunklen Sweater vor mir sitzt. Ich muss an eine Anekdote denken, die ich einmal von seiner Doktormutter gehört habe. Bei ihrer ersten Begegnung mit Brent Roberts habe sie Zweifel gehabt, ob „so ein gutaussehender junger Mann“ auf Dauer bei der trockenen Forschung bleiben könne.

So leichtfüßig und spaßig Roberts im Umgang wirken mag, so solide sind seine wissenschaftlichen Arbeiten. Sie haben in der Persönlichkeitsforschung eine kleine Revolution ausgelöst. Heute sind die meisten Fachleute überzeugt, dass Charakter eben nicht starr wie Gips ist. „Unsere Persönlichkeit bleibt wandelbar und ändert sich, so lange wir leben“, sagt Brent Roberts, während seine Stäbchen wendig ein paar Nudeln aus der würzigen Suppe fischen.

Als wichtige Schmiede der Persönlichkeit gilt die Kindheit. Reden wir also über seine. Die Soziologie weiß längst, dass Herkunft eine mächtige Währung ist in der Welt der Wissenschaft, gerade in den USA. Professorenkinder haben es leichter. Ab dem dritten Monat der Schwangerschaft beginnt der Dauerauftrag für einen Sparfonds, um später leichter die horrenden Studiengebühren begleichen zu können. Die guten Kontakte der Eltern ebnen die oft holprigen Zugangswege zu Stipendien und Elitecolleges. Bei Brent Roberts findet sich von alldem: nichts. Sein Vater, so erzählt er, war Offizier bei den Marines und wurde alle paar Jahre an einen anderen Stützpunkt der US-Streitkräfte beordert, während die Mutter bei den drei Kindern in San Diego blieb, im Süden Kaliforniens.

Als der Vater den Unterhalt strich

Der Highschool begegnete Brent Roberts mit einem seltsamen Mix aus Rebellion und Begeisterung. Öde Kurse schwänzte er ohne Hemmung. Doch vom Unterricht seines Lieblingslehrers schwärmt er noch heute, Jim sei „eine Art Ersatzvater“ für ihn gewesen. Er erinnert sich, wie Jim Rollenspiele und ein wenig populäre Psychologie in den Unterricht eingebaut hat. „Er hat uns emotional und intellektuell alle Freiheiten gegeben. Ich hatte eine tolle Zeit bei ihm.“ Genau in diesen Unterrichtsstunden habe er auch den Entschluss gefasst, später Psychotherapeut zu werden. Knapp zwei Drittel der jungen Leute, die in Kalifornien die Highschool abschließen, besuchen anschließend die Universität. An Brent Roberts’ Schule für Soldatenkinder waren es „eher so fünf Prozent“, sagt er.

Zum Studium blieb er zunächst im heimischen San Diego mit seinen Sandstränden und dem ewigen Sommer. Bald jedoch kam es zum Zerwürfnis mit dem strengen Vater. Brent Roberts wohnte auf dem Campus, statt über die Ferien wieder ins Elternhaus zu ziehen. Der Vater verstand das als Affront. „Er hat mir als Reaktion den Unterhalt gestrichen.“

Extravertierter durch das Kellnern

Statt sich von morgens bis abends durch seine Bücher zu wühlen, arbeitete Brent Roberts also in der Gastronomie, um sich sein Studium selbst zu finanzieren. „Ich habe über die Jahre praktisch jeden Job mal gemacht, den man in einem Restaurant überhaupt haben kann.“ Am Ende stand er sogar am Herd. „Kochen ist für mich zu einer Leidenschaft geworden“, sagt er. Auch sein Sauerteigbrot fertigt Brent Roberts seit 27 Jahren selbst – und sieht darin die perfekte Metapher für jeden kreativen Prozess. Gute Ideen, so glaubt er, gedeihen, wenn man sie mal füttert, mal knetet, mal ruhen lässt – und danach den richtigen Moment erwischt, um den Ofen vorzuheizen.

Natürlich reizt es, in alldem eine tiefe psychologische Entwicklungsgeschichte zu wittern. Ist es nicht typisch, dass das jüngste von drei Kindern am stärksten gegen den Vater rebelliert? Hat ihn nicht die militärische Erziehung in den Trotz getrieben und der Trotz wiederum in die Selbständigkeit? Jedenfalls habe ihn seine Zeit als Kellner geprägt und verändert, sagt Brent Roberts. Er erzählt davon, wie er seine Scheu vor fremden Menschen ablegen musste, weil in den USA ohne Lächeln und flotte Sprüche niemand ein gutes Trinkgeld bekommt. Alles nur Fassade? Nein, Roberts sagt, er sei in dieser Zeit tatsächlich extravertierter, also leutseliger und selbstbewusster geworden.

Mit meinen anderen Deutungen allerdings bewege ich mich auf dünnem Eis, wie sich herausstellt. Verantwortungsvolle Erstgeborene, aufsässige Nesthäkchen? „Die Geburtenfolge von Geschwistern hat, wenn man sich sehr viele Lebensläufe ansieht, keinerlei vorhersagbaren Einfluss auf unsere Persönlichkeit“, sagt Brent Roberts. „Es handelt sich um eine Art Zombie-Theorie. Sie ist widerlegt, sie sollte längst tot sein.“ Doch in unseren Köpfen lebt sie fröhlich weiter.

Narzissmus nimmt über die Jahre ab

Das gilt auch für die Vorstellung, dass der Erziehungsstil der Eltern unsere Persönlichkeit massiv prägt. Dabei hinterlässt die Erziehung, so hat es Brent Roberts in einer eigenen Studie gezeigt, so gut wie keine vorhersagbaren Spuren. Was seine eigenen Geschwister so treiben? Brent Roberts lächelt. Der ältere Bruder ist heute bekennender Trump-Fan. Die große Schwester eine Art Schamanin. Drei Kinder – drei völlig unterschiedliche Lebensentwürfe. Da deckt sich seine Erfahrung ganz tadellos mit seinen Daten.

Während wir über all das reden, marschieren wir am Chicago River entlang. Ein Straßenmusiker spielt ein Trompetensolo, die Töne hallen lange nach zwischen den Hochhäusern. Jenseits des Flusses erhebt sich ein Wolkenkratzer, an dessen Glasfassade fünf Buchstaben hängen, jeder mehr als sechs Meter hoch: ein T, ein R, ein U, ein M und ein P – der Name des Hotelbesitzers, der bis zum 6. Januar 2021 Präsident der Vereinigten Staaten war. Ein guter Moment, um über Narzissmus zu sprechen, auch eines von Brent Roberts’ Forschungsthemen. Narzissmus – selbst dieser scheinbar so eingebrannte Persönlichkeitszug, verändert sich im Lauf des Lebens, oft zu unseren Gunsten, wie seine Studien zeigen: Das Gefühl, einzigartig und auserwählt zu sein und nichts anderes als Bewunderung zu verdienen, verliert sich mit den Jahren. Bei den meisten zumindest. Unter dem Trump-Tower spielen wir noch einmal die Fragebogen durch, mit denen man in der Psychologie Narzissmus zu messen pflegt:

„Ich bin ein ganz außergewöhnlicher Mensch.“

„Alle lieben meine Geschichten.“

„Wenn ich das Sagen hätte, wäre die Welt ein besserer Ort.“

Eine Phase voller Niederlagen

Jeder Satz klingt, als käme er direkt aus einer Rede von Donald Trump. Dem Hochschullehrer Brent Roberts hat das die Arbeit zuletzt enorm erleichtert. Ein paar YouTube-Clips von Auftritten des Ex-Präsidenten genügten, so sagt er, um jedem Studierenden das Prinzip des Narzissmus zu erklären. Als Forscher hat Brent Roberts auch dazu ein paar Irrtümer korrigiert. Zum Beispiel die These, die jungen Leute von heute seien selbstverliebter als frühere Generationen. Genau das hatten einige Fachartikel zuvor behauptet. Brent Roberts sammelte dazu Daten aus vielen Jahrzehnten, und seine Auswertung ließ wenig übrig von den Klagen über die Jugend. „Für mich steht seither fest, dass wir in den 1970er Jahren genauso selbstbezogen waren“, sagt er.

Seine eigenen jungen Jahre erlebte er als durchaus krisenhaft. Zwar kam er noch mit Erfolg durchs Bachelorstudium, doch nach seinem Abschluss fühlte er sich ausgebrannt und Psychotherapeut wollte er nun auch nicht mehr werden. „Ich habe ein paar Jahre und mehrere gescheiterte Beziehungen gebraucht, um einzusehen, dass ich in dem Beruf nicht besonders erfolgreich wäre.“ Also verschrieb er sich eine Auszeit zur Selbstfindung. Sie wurde eine Phase voller Niederlagen. Brent Roberts scheiterte in mehreren Jobs, arbeitete gar, ohne es zu wissen, für einen Hochstapler, dessen Büro bald vom FBI auf den Kopf gestellt werden sollte.

„Ich war ziemlich deprimiert und fertig.“ Bis ihm sein Mitbewohner einen Job auf dem Bau vermittelte. „Dort war ich ganz unten in der Hackordnung. Es war harte Arbeit. Aber sie hat mir die Zeit gegeben, innerlich zu heilen. Zeit, um herauszufinden, was ich überhaupt will.“ Und so ging Brent Roberts täglich von 6.30 bis 15.30 Uhr zur Baustelle („Ich war viel besser im Einreißen als im Aufbauen“). Er verdiente für seine Verhältnisse eine Menge Geld. Abends spielte er – immer noch voller Energie – für zwei Stunden Volleyball am Strand. „Dann direkt nach Hause, ich hab mich schlafen gelegt und am nächsten Tag ging alles wieder von vorn los.“

Persönlichkeitsentwicklung als Prozess der Reifung

Nach einem Jahr hatte das Baustellenleben ein Ende und unvermittelt begann der gradlinige Teil von Roberts’ Biografie: Die Universität in Berkeley hatte ihn als Doktorand angenommen. Dort fand er seine Aufgabe. Fortan wollte er erforschen, was uns als Einzelmenschen voneinander unterscheidet, was uns als Person einzigartig macht.

Intuitiv muss Brent Roberts wohl schon auf der Baustelle jene Lektion gelernt haben, die sich durch seine Forschung erst in der Fachwelt etabliert hat: Die unsichtbare Kraft, die unseren Charakter ein Leben lang formt und verwandelt, das sind die anderen. Sie pressen uns in jene sozialen Rollen, die wir nach und nach einnehmen und an deren Anforderungen wir uns unmerklich anpassen. „Dass du auf einmal pünktlich zur Arbeit erscheinen musst, empfindest du natürlich als Konflikt. Aber das musst du auf die Reihe kriegen, um überhaupt so etwas wie eine Karriere zu haben.“ Brent Roberts nennt diesen Mechanismus „das soziale Investitionsprinzip“. Es beschreibt, warum die Entwicklung unserer Persönlichkeit nicht chaotisch verläuft, wir also nicht von den Launen des Schicksals hin und her geworfen werden. Brent Roberts versteht unsere Entwicklung als einen Prozess der Reifung. Die Anpassung an soziale Rollen ist für ihn „der Hauptmechanismus, warum wir als Menschen immer weiter wachsen“.

„Von allem, was ich je gemacht habe, habe ich das am meisten geliebt.“

Wir biegen ab und verlassen die Gegend am Chicago River, die Sonne scheint, wir überholen ein paar junge Männer, es riecht nach Marihuana. Brent Roberts geht in einem tüchtigen Tempo. Als Schüler, so erzählt er, hat er mit Ehrgeiz Football gespielt, danach Tennis, schließlich landete er beim Surfen. „Dafür hab ich eine Zeitlang alles andere aufgegeben“, sagt er. „Du bist da draußen auf dem Meer, das Wasser liegt zwischen dir und dem ganzen Rest der Welt. Und du musst dich in jeder Sekunde konzentrieren. Sonst kriegst du deine Welle nicht oder du verlierst die Welle unterwegs, und wenn die Welle groß genug ist, dann verlierst du vielleicht dein Leben. Ich mochte das sehr. Diese Unmittelbarkeit.“

Als Teenager spielte er außerdem Golf, ein bisschen Basketball, an der Uni ergatterte er einen Nebenjob als Konditionstrainer an der Sportfakultät. Und dann waren da die schicken Beachvolleyballplätze im Sand von San Diego. „Damit hab ich in meinem ersten Bachelorsemester angefangen und am Ende meines Studiums dann wirklich kompetitiv gespielt. Von allem, was ich je gemacht habe, habe ich das am meisten geliebt.“ Ach so: Und Triathlon hat er auch gemacht und einmal den Boston-Marathon durchgestanden. „Ich hab die meisten meiner wütenden Aufsätze beim Laufen geschrieben, dafür war’s gut.“

Brent Roberts redet über seinen Sport mit einer sehr ernsthaften, fast heiligen Begeisterung. Sobald es um seine Forscherkarriere geht, schwingt dagegen stets ein wenig Selbstironie mit. Persönlichkeitsforschung? Sei in seinen Anfangsjahren eine Art Stiefkind der Psychologie gewesen, betrieben von Leuten, die nirgendwo so richtig dazugehörten. Und unter den großen fünf Persönlichkeitsfaktoren – emotionale Stabilität, Extraversion, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Offenheit – habe er sich ausgerechnet die Gewissenhaftigkeit als Spezialgebiet ausgesucht, diesen Mix aus Fleiß, Selbstdisziplin und Ordnungsliebe. „Das ist die langweiligste, spießigste und konservativste Eigenschaft von allen.“

Wie wir Apps nutzen, sagt mehr über uns aus als jeder Fragebogen

Mit seinen Arbeiten hat er dann allerdings gezeigt, dass die Gewissenhaftigkeit es in sich hat. An kaum einem Faktor lässt sich unsere Zukunft besser ablesen. Diese so verstaubt preußisch wirkende Eigenschaft bestimmt mit darüber, wie erfolgreich wir in Schule und Beruf sein werden. Sie hat darauf so viel Einfluss wie unsere Intelligenz oder die Frage, ob wir aus einem wohlhabenden Elternhaus stammen. An der Gewissenhaftigkeit lässt sich auch zu einem gewissen Grad vorhersagen, wie wahrscheinlich wir in der Mitte unseres Lebens erkranken werden und wie hoch wohl unsere Lebenserwartung ist. In den Wirtschaftswissenschaften ist Brent Roberts ein gern gesehener Kooperationspartner. Denn mit seinen Daten können große Firmen kluge Personal- entscheidungen treffen. Weiche Fähigkeiten schaffen manchmal harte Fakten.

Brent Roberts seufzt, während die Hochhäuser längere Schatten über den Asphalt werfen. Wir diskutieren über ­einen Vorwurf, den er als Persönlichkeitspsychologe häufig zu hören bekommt: Sein wichtigstes Werkzeug ist noch immer der Fragebogen. Man gibt einer Versuchsperson zehn Adjektive und fragt: „Wie sehr trifft diese Eigenschaft auf Sie zu?“ Ist unsere Persönlichkeit nicht viel zu komplex, um sie mit so einem schlichten Verfahren zu erfassen? Brent Roberts zuckt mit den Achseln. „Natürlich. Fragebögen sind ein grobes Instrument. Doch was niemand bestreiten kann: Wir können damit Aussagen über die Zukunft machen. Ich meine: Ich kann dir nach zehn Adjektiven sagen, wie alt du vermutlich wirst. Das muss man erst mal hinkriegen.“

Inzwischen jedoch tüfteln Brent Roberts und viele seiner jüngeren Kolleginnen und Kollegen an völlig anderen Methoden. Sie nutzen zum Beispiel Apps, die – nach deren Einverständnis – viele Handydaten der Userinnen sammeln. Diese Daten können mehr über uns, unsere Gewohnheiten und unser Verhalten verraten als jedes psychologische Experiment und jeder Fragebogen. „Die Verfahren sind noch ganz am Anfang. Aber wir werden damit besser als je zuvor bestimmen können, was uns als Einzelpersonen voneinander unterscheidet. Erst damit werden wir wirklich verstehen, was Persönlichkeit eigentlich bedeutet“, glaubt er.

Können wir unsere Persönlichkeit gezielt verändern?

Inzwischen sitzen wir an einem kleinen Tisch bei „Philz“, einem Café in der Chicago Avenue. Brent Roberts bestellt einen grünen Tee. Keinen Kaffee mehr am Nachmittag. Vor wenigen Jahren ist Brent Roberts beim Joggen plötzlich ohnmächtig geworden. Die Herzkranzgefäße! Die Ärzte in der Klinik legten ihm mehrere Bypässe. Er hat seither den Fuß vom Gaspedal genommen, weniger Forschungsprojekte, weniger Lehrverpflichtungen. Statt für den nächsten Triathlon zu trainieren, gehen er und seine Frau jetzt regelmäßig zum Pickleball, einem Mix aus Tennis, Badminton und Tischtennis für ältere Semester. „Wir haben das eher aus Jux angefangen, halb selbstironisch, aber seither haben wir echt eine Menge Freude daran.“

Brent Roberts entschied sich, kürzerzutreten. Mag sein, dass er darüber auch in seiner ganzen Art ruhiger geworden ist. Schicksalsschläge prägen uns. Doch können wir unsere Persönlichkeit womöglich auch ganz gezielt ein wenig verändern, mit Plan und Absicht? Dafür hat Brent Roberts in einer seiner Metastudien die Daten aus mehr als 200 wissenschaftlichen Aufsätzen analysiert und dabei entdeckt, dass sich bei Menschen während einer Psychotherapie die Persönlichkeitsdimension der „emotionalen Stabilität“ ganz erheblich verbessert. Wir lassen uns dann unter Stress weniger leicht umhauen, machen uns weniger Sorgen und gehen nicht mehr so ängstlich durch den Alltag. Diese Veränderungen ereignen sich innerhalb der ersten paar Wochen der Behandlung und bleiben danach über viele Monate hinweg wirksam, ohne zu verblassen – und all das unabhängig von der Therapierichtung. „Normalerweise sind es die gelebten Jahre, die unseren Charakter auf diese Art verändern. Eine Psychotherapie leistet dasselbe – wenige Wochen verändern uns dabei so sehr wie ein halbes Leben“, sagt Brent Roberts.

Inspirierend für eine ganze Generation

Heute ist er einer der großen Stars der Persönlichkeitspsychologie. Wenn man ihn darauf anspricht, winkt er ab. Viele seiner Forschungsthemen hätten sich für ihn eher aus Zufall ergeben. Etwa weil gerade bestimmte Daten verfügbar waren oder weil es für manche Studien eben Fördergelder gab. „Und ich hatte vom Timing her ein Riesenglück“, sagt er.

Seit mehr als zehn Jahren pflegt er eine besondere Beziehung zu Deutschland: Er kommt regelmäßig als Gastprofessor an die Universität Tübingen. Gemeinsam mit dem dortigen Psychologen Ulrich Trautwein hat er mehr als zwei Dutzend Studien veröffentlicht. „Wir haben eine bemerkenswert produktive und vergnügliche Form der Zusammenarbeit und sind gute Freunde geworden“, sagt Brent Roberts.

Die Genies von Morgen

Die große Brent-Roberts-Erzählung von der wandelbaren Persönlichkeit inspirierte schnell eine ganze Generation junger Psychologinnen und Psychologen. Etwa Jule Specht, die als Professorin an der Berliner Humboldt-Universität arbeitet. „Brent Roberts und seine vielen sowohl theoretischen als auch empirischen Arbeiten sind von zentraler Bedeutung für die Persönlichkeitspsychologie“, sagt sie. „Meine Forschung baut in vielfacher Hinsicht auf seinen Arbeiten auf. Auch die Idee zu meiner ersten wichtigen Studie in diesem Bereich war maßgeblich durch ihn beeinflusst.“

Wiebke Bleidorn von der Universität Zürich sieht sich ebenfalls in den Fußstapfen von Roberts: „Seine Forschung hatte einen enormen Einfluss auf meine Entscheidung, im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung zu promovieren. Seine Arbeiten erschienen mir absolut revolutionär und intuitiv zugleich. Ich habe alle seiner Artikel verschlungen.“ Im Jahr 2010 hat sie ihn dann endlich persönlich getroffen, bei einem Besuch an der Duke University in North Carolina. „Er hat mich seitdem unterstützt und gefördert“, sagt Bleidorn.

Brent Roberts hat einen Forschungspfad angelegt, den es vor ihm noch überhaupt nicht gab. Und er selbst? Sieht er sich als Pionier? „Das war nie meine Absicht. Ich wollte einfach nur einen Job an der Uni kriegen – und dann möglichst eine Lebenszeitprofessur.“ Es scheint sein voller Ernst zu sein. „Es läuft am Ende wie beim Triathlon“, sagt er. „Wenn man nirgendwo der Beste ist, aber über dem Durchschnitt liegt in allem, dann gewinnt man womöglich das Rennen in seiner Altersklasse.“

Brent Roberts’ beruflicher Triathlon ist sicher noch nicht vorbei. Eine Frage, die ihn derzeit umtreibt: Wie können wir es als Gesellschaft hinkriegen, das kreative Potenzial junger Menschen besser zu erkennen und zu fördern? Die kreativen Überflieger, so glaubt er, ließen sich mit den Methoden der Persönlichkeitspsychologie gut identifizieren. „Das Profil ist recht eindeutig: Man braucht Offenheit für neue Erfahrungen, vermutlich Intelligenz, dazu ein gewisses Maß an Unangepasstheit, an Eigensinn und Ehrgeiz.“ Das derzeitige Schul- und Hochschulsystem jedoch sei zu eng und zu streng, um Menschen mit diesem Profil den nötigen Freiraum zu geben. „Ich musste dabei zusehen, wie meine kreativsten Doktoranden die schlechteste Karriere gemacht haben“, klagt er.

Seinen Platz in der Welt finden

Und noch etwas stört ihn: „In der Welt der Forschung sehen wir noch immer zu wenige Frauen und kaum people of color.“ Deren kreatives Talent werde derzeit sträflich verschwendet. „Überhaupt stehen wir beim Thema Kreativität noch vor vielen ungeklärten Punkten.“ Etwa vor der Frage, ob es für die kreativen Genies von morgen so etwas wie einen kritischen Punkt im Leben gibt. Also ein Alter, in dem die Förderung begonnen haben muss, damit das Talent nicht verkümmert. „Darauf würde ich gerne ein paar Antworten finden“, sagt er.

Sein Handy klingelt. Brent Roberts muss weiter, wir zahlen und verabschieden uns an der nächsten Straßenecke. Ein Jammer. Wir hätten noch lange weiterphilosophieren können. Was hat mir Jule Specht über ihn geschrieben?

„Besonders schätze ich an Brent Roberts seine überaus herzliche und offene Art, auf Menschen und ihre Ideen und Studien zuzugehen.“ Wiebke Bleidorn sieht in ihm sogar noch ein Stück mehr als einen inspirierenden Gesprächspartner: „Brent Roberts gehört zu den wichtigsten Mentoren in meiner Karriere und ist ein enger Freund der Familie.“

Brent Roberts hat mit seinen Arbeiten das Bild der Persönlichkeit verändert, indem er zeigte, wie wandelbar sie ist. Persönlich wirkt er auf mich wie ein Mensch, der über das Kellnern, den Sport, die Baustelle irgendwann seinen – durchaus festen – Platz in der Welt gefunden hat. Und der seither alles dafür tut, damit auch andere ihren Platz finden können.

DAS PORTRÄT

In unserer Serie erschien zuletzt:

Tim LomasDer Kartograf des Fühlens. Heft 4/2023

Ralf T. VogelDer Vielseitige. Heft 12/2022

Ulrike EhlertDie Stressforscherin. Heft 8/2022

Steven HayesDer Mann, der sich der Angst stellte. Heft 5/2022

Angela FriedericiDie Frau an der Schnittstelle. Heft 2/2022

James PennebakerDer Schriftgelehrte. Heft 11/2021

Susan FiskeDie Forscherin, die Stereotype entschlüsselt. Heft 8/2021

Wolfgang SchmidbauerDer hilfreiche Helfer. Heft 5/2021

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2023: Das ewig hilfreiche Kind