„Im Handy ist mein ganzes Leben“

Zwei Bücher über die digitale Lenkung von Konsumentinnen und Konsumenten – und die Angst, etwas zu verpassen.

Ohne sozialen Bezug kann digitale Souveränität, also eine Kontrolle über eigene Daten im Netz und eine eigene Positionierung im Web, nicht stattfinden. Das meinte 2016 der Medienpsychologe Jo Groebel. Und heute, sechs Jahre später, wie verhält es sich da? Das Corona/Post-Corona-Leben zwischen Zoom, LinkedIn, TikTok, WhatsApp hat sich stärker denn je vom „Analogen“ entkoppelt.

Die Techgiganten wie Facebook sind krakenhafter denn je. Umsatz im Jahr 2020: 85,9 Milliarden Dollar. Marktwert: 800 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Der Bundeshaushalt Österreichs – Einwohnerzahl: 8,9 Millionen Menschen – betrug 2020 82,4 Milliarden Euro, umgerechnet damals knapp 94 Milliarden Dollar.

Christian Montags Buch Du gehörst uns! ist flüssig geschrieben. Der Professor für molekulare Psychologie an der Universität Ulm und Gastprofessor an einer technischen Universität in der Großstadt Chengdu in China fragt im Zusammenspiel mit Disziplinen wie Informatik, Ökonomie und Medizin: Wer neigt aufgrund der Persönlichkeits­struktur zu welchen Onlineverhaltensweisen? Welche psychologischen Mechanismen werden seitens Techfirmen eingesetzt, um Konsumentinnen und Käufer auf ihre Websites zu locken, sie dort möglichst lange zu halten und die digitalen Fußabdrücke maßgeschneidert zu vermarkten?

Es geht Christian Montag um die Verantwortung der Techkonzerne in puncto Datensammeln, Eskalieren von Intoleranz und Hass und Bevorzugung greller und radikaler bis extremistischer Meinungen durch Algorithmen. Zudem möchte er aus psychologischer Sicht ergründen, „wieso wir das Gefühl für Zeit und Raum verlieren, wenn wir durch die diversen Newsfeeds scrollen“ und weshalb „wir eine so enge Bindung zu unserer virtuellen Farm entwickeln, dass wir sogar bereit sind, Geld dafür auszugeben“. Auch fragt er: Wie spielen Entwickler von Apps mit der von ihnen kreierten Unruhe, dass man etwas verpassen könnte?

Gratifikation in sozialen Medien

So beginnt der Autor seine neunteilige Gliederung mit der Darstellung von Geschäftsmodellen, worauf eine Analyse der psychologischen Motivationsbündel folgt, warum Menschen neue Technologien nutzen. Dann beleuchtet er die Psychotricks von Websites und Apps.

In den letzten vier Kapiteln geht Montag auf die von Algorithmen geleiteten Suchmaschinen ein, auf Suchtähnlichkeit und generierte Abhängigkeit und entwirft zum Schluss Szenarien und Maßnahmen wider die „Fragmentierung der Welt“ und für die Aufhebung des Quasigefangenenstatus, in den sich so viele bereitwillig begeben. Letzteres entspricht etwa dem vor zwan­zig Jahren undenkbaren Satz: „Im Handy ist mein ganzes Leben.“

Der Autor vereint gängige, leicht zugängliche Informationen mit wissenschaftlichen Studien und Untersuchun­gen, an denen er selbst beteiligt war. Gelegentlich mutet seine Darstellung wie ein Kommentar zu jüngsten politischen Vorgängen an, dem letzten US-Präsidentschaftswahlkampf oder der Kontensperrung Prominenter anlässlich des Verbreitens von Falschinformationen. Hie und da finden sich Gedanken zum Flow und zur Aufmerksamkeitsdisruption infolge des ständigen Checkens von Nachrichten.

Die leichthändige Darstellung von Christian Montag ist als erste Einführung in dieses Themenfeld geeignet, da er vieles geduldig definiert und mit Statistiken unterfüttert. Seine Begründung, den sozialen Medien liege „Gratifikation“ zugrunde, Selbstbeteiligung wie Selbstbestätigung durch eine Peergroup und innerhalb dieser, leuchtet ein.

Smart bleiben

Der habilitierte Psychologe Gerd Gigerenzer, Direktor emeritus des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, fragte 2013 in seinem Buch Risiko: Wieso treten wir Entscheidungen oft, freiwillig und mit Vergnügen an sogenannte Expertinnen und Experten ab? Wer hat heute die Kontrolle über uns und unsere Entscheidungen?

Nun, in Klick, präsentiert Gigerenzer seine Leitthesen gleich zu Beginn. „Smart bleiben“, liest man da, „heißt, die Möglichkeiten und Risiken von digitalen Technologien zu verstehen und entschlossen zu sein, in einer von Algorithmen bevölkerten Welt die Kontrolle zu behalten.“ Es geht um diverse weit gespreizte Aspekte und Perspektiven der Künstlichen Intelligenz, vom Paarungsanbahnungsverhalten und selbstfahrenden Autos zu Persönlichkeitsformung, Ich-Stärkung wie Ich-Demontage.

Bei nicht wenigen Punkten zeigen sich thematische und argumentative Überschneidungen mit Christian Montag. So sind beider Ratschläge zur Kontrolle, zur Reduktion von Vertrauen gegenüber den Techkonzernen und zur Nutzung der sozialen Medien ziemlich deckungsgleich. Der Duktus Gigerenzers, 1947 geboren, somit um eine Generation älter als Montag, ist ruhiger, soignierter, dabei aber nicht weniger zugänglich, auch er verzichtet nicht auf anekdotische Fallbeispiele. Jahrgangsgemäß bedingt ist Gigerenzer technophil unaufgeregter als sein Ulmer Kollege.

Gerd Gigerenzer: Klick. Wie wir in einer digitalen Welt die Kontrolle behalten und die richtigen Entscheidungen treffen. Aus dem Englischen von Hainer Kober. C. Bertelsmann, München 2021, 416 S., € 24,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2022: Frauen und ihre Mütter
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