Die historische Zahl: 1999

Sich selbst kitzeln, das funktioniert nicht! Und wenn man einen Roboterarm dafür einsetzt? Das probierten Sarah-Jayne Blakemore und ihr Team 1999 aus.

Die Illustration zeigt ein Karton, aus dem ein Apparat herausspringt mit einer weißen Feder, dahinter ein lachender Mund und Menschen die am Karton herumlaufen
Ein Roboterarm kann uns kitzeln - auch wenn wir ihn selbst steuern? © Klawe Rzeczy für Psychologie Heute

Sarah-Jayne Blakemore kitzelt per Roboterarm. Natürlich fing alles mal wieder mit Aristoteles an. Für ihn war der Mensch nämlich nicht nur das rationale (zoon echon logon) und das politische (zoon politikon), sondern irgendwie auch das kitzlige Tier. Im Reich der Natur, so schrieb der antike Philosoph, seien wir Menschen „die einzigen Wesen, die lachen“ – zum Beispiel, wenn wir gekitzelt werden. (Wie wir heute allerdings wissen, sind auch andere Spezies kitzlig, zum Beispiel Ratten.) Aristoteles warf jedenfalls als erster die Frage auf, warum sich der Mensch nicht selbst kitzeln kann.

Unser Gehirn rechnet bei jeder Bewegung

Mehr als 2300 Jahre später, anno 1999, gingen Sarah-Jayne Blakemore, Chris Frith und Daniel Wolpert vom University College London dem alten Rätsel experimentell auf den Grund. Sie dachten sich dazu eine gewiefte Vorrichtung aus: Ein Roboterarm, an dessen Spitze ein Stück weichen Schaumstoffs angebracht war, strich in sanften Wellenbewegungen über die rechte Handfläche von 16 Versuchspersonen. Der Clou: Die Bewegung wurde entweder von dem Roboter selbst automatisch ausgeführt, oder aber die Gekitzelten konnten sie mit ihrer linken Hand über eine gesonderte Vorrichtung indirekt lenken; dann kitzelten sie sich praktisch selbst.

Doch nicht immer wurde die Bewegung der Getesteten originalgetreu übertragen. Manchmal wurde sie leicht zeitversetzt ausgeführt, um bis zu eine Drittelsekunde. Dann wieder übertrug der Roboterarm die Wellen zwar simultan auf die Handfläche, aber in einem anderen Winkel, als von den Versuchspersonen vorgegeben. Das Ergebnis: Kitzelte der Roboter eigenmächtig, war die Kitzelempfindung am stärksten. Kitzelten sich die Getesteten hingegen selbst, war das eher reizlos. Je stärker ihre Bewegung zeitlich oder räumlich verzerrt wurde, desto kitzliger wurde es. Doch nichts kam an das Fremdkitzeln heran.

Blakemore und ihr Team erklären das in etwa so: Sobald das Gehirn der Muskulatur einen Bewegungsauftrag erteilt, berechnet es automatisch den zu erwartenden Effekt. Wenn wir zum Beispiel die Augen nach links wenden, ruckt die Umgebung nicht etwa subjektiv nach rechts – weil das Gehirn eben diese Bewegung schon einkalkuliert und aus dem Wahrnehmungseindruck „herausrechnet“. Ähnlich könnte es auch beim Selbstkitzeln sein: Wir antizipieren das Bewegungsmuster der Berührung – und ein vorausberechnetes Kitzeln kitzelt halt nun mal nicht.

Timeline

2022 Sandra Proelss u.a.: Je stärker es kitzelt, desto schneller, lauter und heller das Gelächter

2014 George Van Doorn u.a.: Auch mit einer einverleibten Gummihand kann man sich nicht selbst kitzeln

1999 Sarah-Jayne Blakemore kitzelt per Roboterarm

1962 James Gibson: Selbstberührung wird als fremd empfunden, wenn eine andere Person die Hand führt

1897 Stanley Hall, Arthur Allin: Fußsohle, Achselhöhle und Hals im Experiment am kitzligsten

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2023: Paartherapie
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