Ich fahre bei Sonnenuntergang dem Fudschi entgegen – und draußen regnet es. Ich fahre durch die Tube der London Underground – und draußen ist Kleinstadt. Zuschauer feuern mich an – und mein Rennrad steht im Wohnzimmer. Ich zwifte.
Zwift ist die nach eigenen Angaben weltweit größte virtuelle Trainingsplattform. Wie tausende andere schwitze ich zu Hause und schaue zu, wie mein Avatar auf dem Bildschirm vor mir über die Fantasieinsel Watopia fährt. Während das Indoorradfahren lange Zeit als Höchststrafe galt,…
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vor mir über die Fantasieinsel Watopia fährt. Während das Indoorradfahren lange Zeit als Höchststrafe galt, haben Apps wie Zwift oder Wahoo Systm, Rouvy oder Bkool Spaß in das Training gebracht.
Es ist nicht nur die Computerspielumgebung, die Nutzerinnen und Nutzer antreibt, sondern auch das Ineinandergreifen von Realität und Virtualität – die Interrealität: Was ich in der realen Welt tue, beeinflusst nicht nur, wie mein Avatar auf dem Bildschirm agiert. Was ich auf dem Bildschirm sehe, verändert auch mein reales Erleben hier und jetzt. Ein Beispiel: Natürlich weiß ich, dass Virtualität nicht Realität ist, und doch macht mich der Sonnenaufgang auf Watopia glücklich, während draußen Tristesse herrscht.
„Unser Gehirn liebt es, stimuliert zu werden.“
„In unserem Gehirn verschwimmen Realität und Vorstellung“, sagt die Schweizer Neuropsychologin Barbara Studer, „es unterscheidet nicht, ob das Bild real ist oder virtuell.“ Unser klügstes Organ, so einfach gestrickt? „Im Gegenteil“, sagt sie. „Unser Gehirn ist komplex und liebt es, stimuliert zu werden.“ Als Neuropsychologin übersetzt Studer Wissen aus der Gehirnforschung in die Alltagssprache. Sie wird mir verraten, wie wir unser Gehirn stimulieren können, um uns für Sport zu motivieren und den Alltag zu erleichtern. Aber erst muss ich schwitzen.
Ich klicke meine Radschuhe in die Pedale und trete los. Zwift bietet zahlreiche Work-outs an, für Anfängerinnen und Profis, für die Grundlagenausdauer und für Sprints. Ich wähle ein 42-minütiges Work-out mit zwei Hauptsets, je fünfmal eine zweiminütige Steigerung von mittelanstrengend bis verausgabend. Am Ende werde ich 22,7 Kilometer gefahren sein und dabei 1,6 Stück Pizza verbrannt haben.
Aber ums Kilometerabspulen geht es mir nicht, Kilometer spule ich draußen ab. Hier drinnen werden Watt gedrückt. Wähle ich ein Work-out aus, gibt mir der Widerstand der Pedale eine bestimmte Wattzahl vor, mal höher, mal lockerer. So radle ich durch Watopia. Durch die staubige Wüste, durch den schattigen Wald, durch einen heißen Vulkan. Bergauf ist hart, bergab ist leicht, hügelig kitzelt im Bauch.
Moment!
Warum kitzelt es im Bauch, wenn mein Avatar eine wellige Strecke fährt, obwohl sich mein Rad nicht bewegt? Was geschieht da in meinem Gehirn, Frau Studer?
„Ein Reiz, in diesem Fall ein visueller, breitet sich im Gehirn über das neuronale Netzwerk kaskadenartig aus“, erklärt Barbara Studer. „Dabei aktiviert dieser Reiz verschiedene Hirnareale, die Erinnerungen und Emotionen gespeichert haben.“ Als Radfahrerin habe ich in der realen Welt schon oft das Kribbeln im Bauch gespürt, ich weiß, wie anstrengend es ist, bergauf zu fahren, und wie gut sich der Wind im Haar anfühlt, wenn das Rad fast von allein bergab rollt. „Ihr Körper erlebt diese Erinnerungen und Emotionen wieder, mit allen Sinnen, obwohl Sie nur ein Bild gesehen haben“, sagt Studer.
Durch andere gleiten, anstatt sie umzustoßen
Die Grafik von Zwift ist nicht vergleichbar mit den fotorealistischen Videogames. Sie erinnert eher an Computerspiele aus den Nullerjahren. Die Landschaft bewegt sich etwas ruckelig, die Blumen sind etwas zu bunt und die vorbeihüpfenden Tiere könnten Waschbären oder Füchse sein, man weiß es nicht so genau.
Das hat technische Gründe. Die Trainings-App ist über das Mobiltelefon abspielbar und wird per Bluetooth auf den Bildschirm vor mir geschickt. Und erstaunlicherweise stören die Ungenauigkeiten und fantastischen Elemente gar nicht: Unterwasserfahrten, Avatare, die durch andere gleiten, anstatt sich umzustoßen, der Tyrannosaurus Rex, der mich brüllend zu einem Rennen herausfordert.
„Warum soll das Bild überhaupt realistisch sein?“ Diese Frage stellt Lena Falkenhagen, Autorin von Computerspielen und leidenschaftliche Gamerin. Sie erzählt von Beholder 3, einem prämierten Computerspiel. Man ist dabei ein Hausmeister, der in einem totalitären Staat seine Mieter bespitzelt. „Als ich das erste Mal durch das Schlüsselloch in eine fremde Wohnung geguckt habe, dachte ich: ,O Gott, wenn mich jetzt jemand erwischt!‘ Diese Beklemmung war real. Trotz einer eher comichaft abstrahierten Grafik.“
Eintauchen in eine fremde Welt
Immersion – Eintauchen – ist das Schlagwort. Ist ein Spiel immersiv, verfliegen die Stunden im Nu. Es gibt viele Studien darüber, wodurch Menschen tief in ein Spiel eintauchen: glaubwürdiges Storytelling, Interaktion, Detailtreue. Natürlich spielen auch persönliche Vorlieben eine Rolle. Schon der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga hat 1938 in seinem Buch Homo ludens – der spielende Mensch – den magic circle beschrieben, in dem die normalen Regeln der realen Welt aufgehoben und durch die künstliche Realität einer Spielwelt ersetzt werden.
Mein Work-out ist zu anstrengend, als dass es im Nu verfliegen würde, aber die Spielumgebung treibt mich durch das erste Hauptset. Auf dem Bildschirm wird jede neue Intensität mit einem Bogen angezeigt, durch den ich fahren muss. Beginnt eine harte Phase, leuchtet der Bogen rot wie das Tor zur Hölle. Ich trete und schnaufe und starre auf den Sekundencountdown, bis der Widerstand unter dem hellblauen Bogen sofort nachlässt. Hellblau wie das Himmelstor.
Mit jedem Kilometer komme ich dem nächsten Level näher, mit meinen Schweißtropfen kann ich meinem Avatar im Drop Shop ein Profirad kaufen, habe ich eine Strecke geschafft, regnet es Konfetti. Gamification sorgt dafür, dass ich länger dranbleibe.
Ein Daumenhoch, das motiviert
„Spielen ist Leben lernen“, sagt Jens Junge, Direktor des Instituts für Ludologie, eines Instituts für Spielforschung an der privaten Berlin University of Applied Sciences. Er erklärt: Durch das Spielen lernen wir, Herausforderungen zu meistern. Das findet auch unser Gehirn gut, deshalb belohnt es uns mit Glückshormonen, wenn wir ein Level geschafft haben. Regnet es Konfetti, bin ich glücklich. Dass dies in einer virtuellen, zweidimensionalen Welt funktioniert, erstaunt Junge nicht. Denn Spielen findet in unserem Kopf statt.
Um die spielerische Motivation durch eine virtuelle Trainingsplattform zu erklären, zieht Junge die Gamification-Bibel von Yu-kai Chou heran. Chou hat 2015 in seinem Konzept Octalysis Framework Elemente beschrieben, die mehr Spiel ins Leben bringen – und uns so helfen dranzubleiben. Zum Beispiel: Erhalte ich nach einem geschafften Level eine Belohnung, treibt mich das an, ein neues Level zu beginnen. Mit den erfahrenen Schweißtropfen kann ich mir virtuell das Profirad einer Topmarke kaufen, das ich mir im echten Leben nicht leisten kann. Es motiviert mich, wenn mir andere Fahrerinnen ein „Daumenhoch“ geben. Ich habe die Möglichkeit, mich an Profis zu messen. Trainiere ich dagegen eine Woche lang nicht mit der App, verliere ich Punkte.
So hat das Spiel seinen Weg in verschiedene Bereiche des Lebens gefunden. Serious Games vermitteln Wissen spielerisch, Exergames (von exercise, Übung) bewegen Menschen. Dank dieser beiden Kategorien werden Computerspiele zunehmend auch bei medizinischen oder psychologischen Therapien genutzt. Sogar das Nudging aus der Verhaltenspsychologie – das Anstupsen zu einer besseren Entscheidung – ist Gamification.
Mein muskulöses Ich
Pause. Jetzt fünf Minuten locker treten. Meine Trainings-App sagt, ich solle die Schultern fallenlassen und einen Schluck Wasser trinken. Mangels Sauerstoffs im Kopf kann ich nicht anders, als es sofort zu tun. Ich lächle sogar auf Kommando und fühle mich gut.
Auf dem Bildschirm blicke ich meinem Avatar über die Schultern. Sie trägt einen Pferdeschwanz, ein buntes Trikot und eine Fahrradcap anstelle eines Helmes. Mein Avatar ist die coolere Version von mir. Und das ist genau richtig, sagt Martin Kocur, Professor für Interactive Experiences an der Fachhochschule Oberösterreich: „Der Avatar soll etwas athletischer sein, damit er mich antreibt. Aber nicht zu athletisch, damit er mich nicht abschreckt. Er soll aussehen wie ich, damit ich mich mit ihm identifiziere. Aber lieber etwas abstrakt, sonst wird er gruselig.“
Martin Kocur hat den Proteus-Effekt weitererforscht, benannt nach dem griechischen Gott Proteus, der verschiedene Gestalten annehmen kann: Ist unser Avatar attraktiver oder größer, verhalten wir uns selbstsicherer und selbstbewusster. Ist unser Avatar Einstein, schneiden wir bei kognitiv anspruchsvollen Aufgaben besser ab.
Aus einer früheren Studie wusste Kocur bereits, dass ein muskulöser Avatar eine körperliche Übung leichter erscheinen lässt – gemessen mit der sogenannten Borg-Skala der subjektiven Erschöpfung. „Und da die Borg-Skala mit der Herzfrequenz korreliert, haben wir uns gefragt, ob nicht nur rein subjektiv, sondern auch physiologisch etwas passiert“, sagt er. Tatsächlich: Die Herzfrequenz von Studienteilnehmenden mit athletischen Avataren war signifikant tiefer als bei weniger athletischen Avataren. Sie meisterten die Anstrengung mit weniger Aufwand.
Doch in einem zweiten Versuch konnte Kocur das Resultat nicht wiederholen. Egal wie der Avatar aussah, die Herzfrequenz veränderte sich nicht signifikant. „Über die Gründe können wir nur mutmaßen“, sagt er. „Der relevanteste Unterschied war, dass sich die Teilnehmenden beim zweiten Versuch kaum mit ihren Avataren identifizieren konnten.“ Eine mögliche Erklärung: Je stärker ich glaube, ich bin der Avatar, umso stärker ist vermutlich der Effekt des Avatars auf mich.
„Ich will“ ist immer mächtiger als „ich muss“
Das gilt so lange, bis der Effekt kippt. Der japanische Roboteringenieur Masahiro Mori hat das bereits 1970 beschrieben: Ein Roboter wird uns immer vertrauter, je menschenähnlicher er ist. Kurz vor hundert Prozent Menschenähnlichkeit stürzt die Vertrautheit aber auf Zombieniveau ab. Irgendwann ist mir der Avatar so ähnlich, dass mich sein Lächeln gruselt oder dass mich eine kleine Diskrepanz übermäßig irritiert. Die virtuelle Welt behilft sich hier mit etwas Abstraktion. Zwift macht das mit meinem Avatar ganz gut. Nie blicke ich diesem ins Gesicht, nie könnte mich mein eigenes Lächeln abschrecken.
„Du bist in einer Ausreißergruppe.“ Der Satz auf dem Bildschirm reißt mich aus den Gedanken. „Gleich bist du dran, vorne zu fahren.“ Das zweite Hauptset meines Work-outs ist eine Rennsimulation. „Zwanzig Sekunden voll im Wind. Jemand aus der Gruppe attackiert, das hat das Feld schrumpfen lassen. Die Siegerin muss aus dieser Gruppe kommen.“
Beim Wort Siegerin sehe ich mich automatisch auf einem Podest. Warum hilft mir das Visualisieren des Ziels dabei, das Ziel zu erreichen? „Wenn Sie sich etwas möglichst realistisch vorstellen, dann meint das Gehirn, es sei Realität, und verlangt nach dieser Realität“, erklärt Neuropsychologin Barbara Studer. „Ich will“ ist immer mächtiger als „ich muss“.
Absturz auf Zombieniveau
Die Virtualität ist so gut, ich muss kaum mehr raus. Und genau das ist Barbara Studers Kritik: „Manchmal vergessen wir, wie wichtig reale Erlebnisse sind. Je mehr Sinne wir ansprechen – die Umarmung eines Freundes, Waldgeruch, das Rascheln des Laubes –, je mehr Gehirnareale aktiviert werden, desto mehr Glückshormone werden ausgeschüttet.“
Was in der virtuellen Welt funktioniert, können wir uns laut Barbara Studer auch in den Alltag holen: „Bieten Sie Ihrem Gehirn ein Erlebnis, bringen Sie Humor, Farbe, Bewegung in Ihr Leben, aktivieren Sie möglichst viele Hirnareale, dann ist es voll dabei.“ Ist das Lernen mal wieder zäh? „Erstellen Sie Gamepläne, jede Aufgabe ist ein Level mit neuen Hindernissen.“ Haben Sie etwas geschafft? „Feiern Sie abgehakte To-dos mit einem Tänzchen.“
Man kann versuchen, sich die virtuelle Realität mit etwas Fantasie selbst zu erschaffen, und sich so das Indoorrad und die 20 Euro sparen, die das monatliche Abo auf Zwift kostet.
„Los, voller Einsatz bis zur Ziellinie“, ruft mir der Bildschirm entgegen. „Jawohl! So beendet man eine Fahrt. Heute Abend trinkst du Champagner.“
Ich richte mich auf, ich tänzle zur rhythmischen Musik. Ich spüre den Fahrtwind, das Ausrollen fühlt sich leicht an – und ich weiß doch: Virtualität ist und bleibt zweidimensional. Was ich spüre, spüre ich nur, weil ich die Welt da draußen kenne. Die Realität, die wir rekonstruieren, die müssen wir erst einmal erleben.
Quellen
Marit Bentvelzen u.a.: Tailor my Zwift: How to design for amateur sports in the virtual world, Proceedings of the ACM on Human-Computer Interaction, Volume 6, Issue MHCI, Article No.: 216, 2022, 1–23
Niklas Johannes u.a.: Video game play is positively correlated with well-being, Royal Society Open Science, 8(2), 2021: 202049
Yu-Kai Chou (Hg.): Actionable Gamification. Beyond Points, Badges, and Leaderboards. Sanage Publishing, 2023
Adrian Devine u.a.: An examination of the virtual event experience of cyclists competing on Zwift, Event Management, Vol. 28, Number 1, 2024, pp. 151-167(17)
Martin Kocur u.a.: Physiological and perceptual responses to athletic avatars while cycling in virtual reality, Proceedings of the 2021 CHI Conference on Human Factors in Computing Systems, Article No.: 519, 2021, 1-18
Jack Reed u.a.: E ‚Ride on!‘: The Zwift platform as a space for virtual leisure, Leisure Studies, Vol. 42, 2022, 188-202