Ich habe eine Frage an den Chef. Ich verlasse meinen Schreibtisch und laufe durchs Großraumbüro. Ich gehe vorbei an der Kollegin, die in ihre Arbeit vertieft scheint, laufe entlang der Fensterfront, durch die man auf die umliegenden Hochhäuser blickt, bis ins Büro des Vorgesetzten. Der sitzt am Computer. Ich gehe auf ihn zu, er schaut hoch. Gerade will ich zu meiner Frage ansetzen, da blökt er mir entgegen: „Was wollen Sie denn schon wieder? Raus hier, ich habe überhaupt keine Zeit!“
Schnitt.
Das Büro ist…
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entgegen: „Was wollen Sie denn schon wieder? Raus hier, ich habe überhaupt keine Zeit!“
Schnitt.
Das Büro ist nicht echt. Der Chef ist nicht echt, die Kollegin ebenso wenig. Und doch fühlte es sich genauso an: echt. All dies ist Teil einer virtuellen Welt, die man in der Angstambulanz an der Uniklinik Frankfurt am Main betreten kann.
Dafür setzen sich die Patientinnen und Patienten eine Virtual-Reality-Brille auf. Anstelle zweier Brillengläser hat die VR-Brille zwei kleine Bildschirme, auch ein Kopfhörer ist verbaut. Auf den Bildschirmen sieht der VR-Brillenträger schließlich eine virtuelle Welt, die dreidimensional gestaltet ist. Die Brille erkennt es, wenn die Tragende den Kopf hebt, senkt, dreht oder auch, wenn er oder sie durch den Raum läuft. Dadurch kann man mit einer solchen Brille durch virtuelle 3-D-Räume schreiten und fühlt sich beinahe so, als wäre man tatsächlich dort. Man kann herumlaufen, springen, sich drehen – und ins Büro des Chefs gehen.
In den vergangenen Jahren hat die virtuelle Realität – entwickelt in den 1960er und 1970er Jahren, zunächst eingesetzt beim Militär sowie in der Automobil- und Flugindustrie und heute vor allem in der Computerspielbranche bekannt – auch das Interesse der Gesundheitsbranche geweckt. Sie kann die Beschwerden von Schmerzpatienten lindern, in der Reha zum Bewegungstraining eingesetzt werden und angehende Chirurginnen können mit ihr Operationen üben. Und dann ist da noch ein weiterer großer Bereich, in dem die Technik vielversprechendes Potenzial zeigt, um die Therapiemöglichkeiten zu erweitern und zu verbessern: die Psychotherapie.
Bis die Spinne auf die Hand krabbelt
Zum Beispiel bei der Behandlung von Angsterkrankungen. Die Brillen eignen sich nämlich ganz hervorragend dazu, sich in bestimmte Szenarien hineinzuversetzen. Das ist auch die Idee, die hinter einer Expositionsbehandlung steckt, also der Konfrontation mit einem Reiz, der Angst auslöst.
Dabei begeben sich die Therapierenden mit ihren Patientinnen und Patienten üblicherweise in Situationen, die die unangenehmen Gefühle bewirken: Personen mit Angst vor Spinnen werden mit Spinnen konfrontiert, Menschen mit sozialen Phobien sprechen Leute an und wer Flugangst hat, muss fliegen. Dabei tasten sich Therapeutin und Patient langsam heran. Beispiel Spinnenphobie: Erst schauen sie sich eine Spinne aus der Entfernung an, dann gehen sie näher heran, am Ende soll das Tier vielleicht sogar über die Hand krabbeln.
Die technische Brille ermöglicht es den Therapierenden nun, eine solche Konfrontation in einer virtuellen Umgebung durchzuführen. Computeranimierte, aber echt wirkende Spinnen sind ebenso möglich wie der virtuelle Gang über eine hohe Brücke (bei Höhenangst), man kann eine virtuelle Party besuchen (soziale Phobie) oder sich auf einem Jahrmarkt drängeln (Agoraphobie).
Doch nicht nur das: Bei Süchten werden jene Situationen durchgespielt, in denen Betroffene am ehesten zum Alkohol, zur Zigarette oder zur Droge greifen würden. Sie können dann üben, ihr Verlangen zu kontrollieren und nicht zu konsumieren. Und wer an Zwängen leidet, vermag durch Räume mit offenen Schubladen oder ungeschlossenen Türen laufen und Gelassenheit üben.
Zeit, Geld und Sicherheit
Verglichen mit der Konfrontation im echten Leben bringt die Therapie mit VR-Brille den ein oder anderen Vorteil. Zunächst können Therapierende Faktoren steuern, auf die sie im echten Leben nur bedingten Einfluss haben: Sie bestimmen, wie voll Bus oder Jahrmarkt sind, wie lang und hoch eine Brücke ist oder welche Spinne auftaucht, wie groß sie sein soll, ob sie sich bewegt und wie schnell sie das tut. Patientinnen brauchen keine Angst davor zu haben, dass die Spinne unkontrolliert losspringt, das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Behandlungsmöglichkeit überhaupt annehmen.
Außerdem spart die Technik Zeit und Geld. Zur Behandlung von Flugangst sind keine echten Flüge mehr nötig, bei Höhenangst erübrigt sich der Besuch eines Fernsehturms. Und manchen Patienten macht es sogar Spaß, sich durch eine virtuelle Welt zu bewegen – gute Voraussetzung für eine positive Grundstimmung im therapeutischen Miteinander.
Doch genügt die virtuelle Version einer Konfrontation, um die Symptome der Betroffenen wirklich zu lindern oder die Erkrankten gar zu heilen? Ist die VR-Therapie wirksam?
Breite Basis der Einsatzmöglichkeit
Tatsächlich untersuchen Forschende schon seit vielen Jahren, ob sich die virtuellen Realitäten dazu eignen, psychische Erkrankungen zu behandeln. Die Untersuchungen dazu begannen bereits in den 1990er Jahren und das Interesse ist stetig gestiegen. Fanden sich im Jahr 1995 in der medizinischen Datenbank Medline nur 45 Artikel, in denen es um Virtual Reality ging, waren es im Jahr 2010 dann schon 3203 und 2017 immerhin 8890 Beiträge. So weiß die Fachwelt mittlerweile einiges darüber, wann und wie die Technik eine psychotherapeutische Hilfe sein kann.
Im Januar 2023 fasste ein Team der Berliner Charité diese Erkenntnisse in der Fachzeitschrift Der Nervenarzt zusammen. Demnach eigne sich die moderne Technik insbesondere, wenn man mit ihr eine Exposition durchführe. Die virtuelle Expositionstherapie sei bei spezifischen Phobien wie der vor Schlangen oder Höhe und der Agoraphobie mit Panikstörung ebenso wirksam wie eine herkömmliche Konfrontationsbehandlung.
Bei einer sozialen Phobie ist die virtuelle Welt immerhin wirksamer, als nicht oder mit einem Placebo behandelt zu werden. Traumafolgestörungen lassen sich mit der Technik ebenso effektiv behandeln wie mit einer Psychotherapie. Bei Wahn und Halluzination reduziert das Verfahren das Stimmenhören. In der Suchttherapie zeigen sich auch Erfolge.
„Wir haben da mittlerweile eine breite Basis an Forschungsergebnissen, auf die wir bauen können“, sagt Christiane Eichenberg zum Stand der Forschung. Sie ist Universitätsprofessorin und Leiterin des Instituts für Psychosomatik an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien, wo sie hauptsächlich zu E-Mental-Health forscht. „Vor allem in der verhaltenstherapeutischen Behandlung von Angststörungen hat sich die VR als wirkungsvolles Instrument erwiesen. Hier steht sie sogar schon seit 2014 in der Leitlinie“, sagt sie. Damit meint Eichenberg die S3-Leitlinie zur Behandlung von Angststörungen, die auf den neuesten und zuverlässigsten Daten beruht. VR ist demnach ein Mittel, das eingesetzt werden kann, wenn eine herkömmliche Expositionstherapie nicht verfügbar sein sollte.
"Das gibt Ärger!"
Fachleute forschen an weiteren Einsatzmöglichkeiten, etwa um Depressionen zu behandeln. Aus einem solchen virtuellen Szenario für Menschen mit Depressionen stammt die Eingangsszene. Büro und Hochhäuser, die Kollegin, der Chef und sein Herumgeblöke: All das mag nur virtuell sein. Doch eine Sache daran ist echt: das schlechte Gefühl im Magen, nachdem der Chef einen so unwirsch angepampt hat. Kurz nachdem er fertig geschimpft hat, ploppt hinter den Brillengläsern ein weißes Fenster auf, in dem geschrieben steht: „Wie würden Sie das Verhalten Ihres Vorgesetzten interpretieren?“
Gemeinsam mit der betreuenden Therapeutin, die nebendran sitzt, kann man nun besprechen, was dieser Satz in einem auslöst. Scham? Schuld? Verzweiflung? Oder ein Gedankenkarussell: „Warum könnte der Chef das gesagt haben? Habe ich was falsch gemacht? O je, ich habe bestimmt Mist gebaut, er ist stinksauer, das gibt Ärger.“ Oder könnte es auch andere Gründe geben, weshalb der Chef so aufgebracht war? Vielleicht war er nur schlecht drauf oder hatte Zeitdruck?
Ich laufe in der virtuellen Szene zurück zu meinem Schreibtisch und nehme Platz. Kaum sitze ich, da kommt der Chef auch schon aus seinem Büro zu mir gelaufen. Er guckt freundlich, dann sagt er: „Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen. Ich war sehr im Stress und wollte Sie nicht verunsichern. Kommen Sie gerne in einer Stunde vorbei und wir besprechen Ihre Frage.“ Das Szenario geht noch ein bisschen weiter. Es warten noch weitere Situationen, die alle zwischenmenschlich mehrdeutig sind. Büroalltag eben. Letztlich lösen sich alle ins Positive auf.
Modifikation der Denkfalle
„Die Wahrnehmung von depressiven Patienten und Patientinnen ist oft zum Negativen verzerrt“, sagt Martiel Salim-Latzel. Sie ist Psychologin in eigener Praxis und am Uniklinikum Frankfurt am Main. In einer Studie möchte sie herausfinden, ob sich die virtuelle Realität auch für Menschen mit Depression einsetzen lässt. Die Büroszene stammt aus dieser Untersuchung. „Wir zeigen den Patienten solche Situationen und haben gesehen, dass die virtuellen Szenarien tatsächlich depressionstypische Denkfallen auslösen“, sagt Salim-Latzel. „Genau diese Denkweisen wollen wir dann modifizieren.“
Das bedeutet, dass Salim-Latzel und ihr Team im Anschluss an die virtuellen Szenen mit den Patientinnen und Patienten deren reale Gedanken besprechen. Sie überlegen, wie und warum die negativen Sichtweisen zustande kommen, und suchen nach alternativen Interpretationen.
„In der klassischen Verhaltenstherapie führt das gelegentlich zu Problemen, weil man da auf Situationen zurückgreifen muss, die die Patienten aus ihrem Alltag erzählen“, sagt Salim-Latzel. Manchmal könnten die sich aber nicht mehr richtig erinnern oder vergäßen den genauen Wortlaut, der sie so getroffen hat. „Mit der VR-Brille können wir die Denkverzerrung in der Therapiesitzung hervorrufen und direkt besprechen.“
Luft nach oben
Ob diese Psychotherapiemethode ebenso gut funktioniert wie das klassische Besprechen realer Situationen, die die Patienten erlebt haben, muss sich noch zeigen. Zum Einsatz bei Depressionen gibt es noch nicht so viele Studien, als dass sich die Wirksamkeit mit Sicherheit belegen ließe. Sollte Salim-Latzels Studie zeigen, dass die VR-Behandlung wirkt, soll sie dennoch künftig schon in der Frankfurter Ambulanz in die reguläre Versorgung von Patienten mit Depressionen integriert werden. Bereits beschlossen ist das für die Behandlung von Angsterkrankungen. Auch in der Suchtambulanz sind die VR-Brillen schon jetzt im alltäglichen Einsatz.
Hier etabliert ein Universitätsklinikum also gerade eine psychotherapeutische Methode, die schon seit einigen Jahrzehnten erforscht wird, deren Einsatz als Empfehlung in einer Behandlungsleitlinie steht – und trotzdem scheint die Klinik damit eine Art Vorreiter in ganz Deutschland zu sein. Schaut man sich die Kliniken und Ambulanzen sowie die Praxen von niedergelassenen Therapeutinnen und Therapeuten an – die Regelversorgung also –, dann scheint nur ein verschwindend geringer Teil Behandlungen mit VR-Brille anzubieten. Und wenn, dann oft im Rahmen von Studien. In der alltäglichen Behandlung psychischer Erkrankungen scheint die Methode noch nicht angekommen zu sein.
Millionen Angststörungen, kaum VR
Es gibt nicht einmal Erhebungen dazu, ob und wie viele Fachleute die virtuellen Welten in ihre Praxen lassen. Die Bundespsychotherapeutenkammer etwa gibt an, dass sie über keine Statistiken dazu verfügt und auch keine Listen kennt, in denen Nutzer von VR-Brillen in der Psychotherapie aufgeführt wären.
Im Verzeichnis für digitale Gesundheitsanwendungen, in dem Apps und Computerprogramme geführt werden, deren Kosten per Rezept von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden, findet sich nur eine App, mit der Menschen mit Angstproblemen allein oder im Beisein eines Therapeuten verschiedene Ängste per VR-Brille bekämpfen können. Einem Bericht des Spitzenverbandes der Krankenkassen zufolge wurde die App zwischen September 2020 und September 2022 nur knapp 2000-mal verordnet. Behandelt werden ambulant jedes Jahr mehrere Millionen Menschen mit Angststörungen.
Carola Epple ist Gründerin des Anbieters VirtuallyThere, der VR-Pakete für Praxen und Kliniken vertreibt und laut eigenen Aussagen die europaweit größte Virtual-Reality-Mediathek für Psychotherapie besitzt. Sie sagt: „Es ist noch Luft nach oben.“ Mehr als 300 Therapeutinnen und Therapeuten aus Praxen und Kliniken seien bereits ihre Kunden. Zur Einordnung: Ende 2021 gehörten rund 38000 Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zur Kassenversorgung.
„Bisher hat kein breiterer Transfer in die psychotherapeutische Forschungslandschaft stattgefunden“, sagt auch Professorin Christiane Eichenberg aus Wien. „Ich erhalte wegen meiner Forschung in dem Bereich häufig Anfragen von Patienten, die gerne eine VR-Behandlung machen würden. Aber wo sie das tun können, das kann ich ihnen oft auch nicht sagen.“
„Warum sollte ich etwas ändern?“
Doch wieso nutzen Psychotherapeutinnen und -therapeuten die (gar nicht mehr so) neue Technik kaum? Hier dürfte zutreffen, was Carola Epple sagt: „Viele Therapeuten sind lange im Geschäft. Sie arbeiten seit zehn, zwanzig oder gar dreißig Jahren erfolgreich mit denselben Methoden. Die Wartelisten sind ohnehin voll. Warum also sollten sie etwas ändern?“ Dazu kommen mindestens zwei weitere Hürden: Sie müssten lernen, mit der Technik umzugehen. Das kostet Zeit. Und sie müssten sich eine VR-Brille und die Videos kaufen. Das kostet Geld.
Letztlich scheitert der Praxistransfer derzeit wohl an der Pragmatik. Nina Franz von der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie sagt etwa, dass sie bei ihren Mitgliedern immer wieder eine hohe Last durch die erstmalige Beschäftigung mit digitalen Neuerungen beobachtet. Sie geht davon aus, „dass durch hohe bürokratische Belastungen bei dem Großteil der Psychotherapeuten nur wenige zeitliche Kapazitäten für die Einarbeitung in das Thema Virtual-Reality-Expositionstherapie vorhanden sind“.
Dieses Bild bestätigt sich, wenn man mit einer jungen Psychotherapeutin aus dem Saarland spricht, die namentlich lieber nicht genannt werden möchte. Sie steht am Anfang ihrer Karriere, seit ein paar Jahren therapiert sie eigenständig und seit einigen Monaten in der eigenen Praxis. Sie sagt über VR-Therapien: „Das klingt interessant. Aber ich müsste mich erst mal einarbeiten. Die Ressourcen dazu habe ich gerade nicht. Und momentan komme ich auch ganz gut ohne VR aus.“
Quellen
Baej Cielik u.a.: Virtual reality in psychiatric disorders: A systematic review of reviews. Complementary Therapies in Medicine, 52, 2020, 102480
Christiane Eichenberg: Anwendungen mit klinischem Potenzial. Virtual-Reality in der Psychotherapie. Deutsches Ärzteblatt, 11,2021, 515-519
Stefanie Sarkis: Virtual Reality as an Effective Form of Therapy. Virtual reality is a cutting-edge therapeutic treatment. Psychology Today, 21.03.2021
Nikolaos Tsamitros u.a.: Die Anwendung der Virtuellen Realität in der Behandlung psychischer Störungen. Der Nervenarzt, 1/2023, 27-33
Emily Carl u.a.: Virtual reality exposure therapy for anxiety and related disorders: A meta-analysis of randomized controlled trials. Journal of Anxiety Disorders, 61, 2019, 27-36
Borwin Bandelow u.a.: Deutsche S3-Leitlinie Behandlung von Angststörungen, 024/2021,AWMF- Leitlinien-Register