Wenn sich die Tür des Aufbahrungsraums schließt, wird es still. Die Lüftung der Kühlanlage setzt summend ein. Die unüberwindbare Kluft zwischen Leben und Tod ist architektonisch auf den Punkt gebracht: Im Raum wird die verstorbene Person häufig hinter einer Glasscheibe präsentiert, in ihren besten und letzten Kleidern. Ein Deckenspot beleuchtet das Gesicht. Vom glänzenden PVC-Boden her riecht es schwach nach Reinigungsmitteln. Neben dem Sarg steht eine Stele, bezogen mit rotem Samt, darauf ein saisonaler…
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nach Reinigungsmitteln. Neben dem Sarg steht eine Stele, bezogen mit rotem Samt, darauf ein saisonaler Blumenstrauß. Daneben flackert monoton die LED-Kerze. Ein in Pastelltönen gemaltes naives Bild hängt zu hoch an der Wand. Die abgegriffenen Holzstühle laden nicht zum Sitzen ein. Draußen spürt man Erleichterung: endlich zurück in der Welt der Lebenden.
Die Totenaufbahrung ist ein Trauer- und Abschiedsritual mit langer Geschichte. Infolge der Professionalisierung des Sterbens droht dieser Brauch in seiner ursprünglichen persönlichen Form in Vergessenheit zu geraten. Dabei erfüllt er wichtige soziale Funktionen im Trauerprozess der An- und Zugehörigen. Wurden Verstorbene ehemals in der eigenen Stube für mehrere Tage aufgebahrt und besucht, kuratieren heute Institutionen die meist kurze Abschiednahme. In den Zimmern der Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern, Alten- oder Pflegeheimen wird oft behelfsmäßig versucht, eine Atmosphäre des Abschieds zu schaffen. Bestattungsunternehmen, Krematorien und Friedhöfe bieten spezielle Aufbahrungsräume an.
Ein Raum, der Trost spendet
Oftmals begleitet die Besucherinnen und Besucher die Ungewissheit vor dem Bild der Gewissheit, das sich ihnen dort bieten wird. Die Tür zu öffnen bedeutet, einer toten Person zu begegnen – ein Umstand, dem wir uns in heutiger Zeit nur selten stellen müssen. Der Raum muss viele Emotionen aushalten. Kleinste Details können eine starke Wirkung entfalten, werden symbolisch aufgeladen. Die trauernden Angehörigen sind extremen Gefühlen ausgesetzt, das beeinflusst ihre Wahrnehmung. Selbst das Motiv des Wandbilds kann zu Irritationen führen – oder im besten Fall Trost spenden. So schwierig es ist, diesen Raum zu betreten, so schwierig ist es auch, ihn wieder zu verlassen. Der Abschied ist endgültig: Die Tür zu schließen bedeutet, den geliebten Menschen ein letztes Mal gesehen zu haben.
Das wohl wichtigste Element, das die Atmosphäre dieses Ortes der letzten Begegnung bestimmt, ist die Kerze. In den Legenden fast aller (Glaubens-)Gemeinschaften verschmilzt der Prozess der Schöpfung unmittelbar mit dem der Lichtwerdung. So findet man Kerzen und Licht kulturübergreifend in Aufbahrungsritualen. Kerzen spenden warmes, weiches Licht, sind Tröster und Begleiter in der schwierigen Situation. Und auch wenn keine Besuchenden im Raum sind – die Kerze brennt für die Verstorbenen: Sie soll dem Menschen „über die dunklen Pforten des Todes in das Land des Lichtes und des Friedens“ hinüberleuchten. Eine LED-Kerze mag zwar praktisch und umweltfreundlich sein, kann jedoch die Wärme, die von einer echten Wachskerze ausgeht, nicht ersetzen.
Kerzen, Blumen, Grenzen
Blumen sind ebenfalls bedeutend. Früher dienten beispielsweise Lilien mit ihrem starken und süßlichen Duft dazu, unangenehme Gerüche des Leichnams zu überdecken. Das wäre heute nicht mehr nötig, da der Leichnam kürzer aufgebahrt und direkt im Katafalk – dem Podest, in dem der Sarg eingelassen wird – gekühlt wird. Trotzdem bleiben Blumen aufgrund ihrer symbolischen Bedeutung von Vergänglichkeit und ihrer dekorativen Wirkung fester Bestandteil von Aufbahrungen.
Aufbahrungsräume sind zentral für die Verarbeitung des Verlustes. Oft wirken sie in ihrer gegenwärtigen Gestaltung aber lieblos und unpersönlich, das Fachwissen über ihre Wirkung scheint unberücksichtigt zu bleiben, auch der gesellschaftliche Wandel, Pluralisierung und veränderte Bedürfnisse von Trauernden schlagen sich in ihnen oft nur wenig nieder. Friedhofsmitarbeiter, Bestatterinnen oder das Pflegepersonal stoßen häufig an institutionelle Grenzen wie Brandschutzregelung, Öffnungszeiten, vorgegebenes Mobiliar oder Dekoration, eine fixe Lichtführung und Farbhaltung. So gehört das Ausreizen rechtlicher Grauzonen und institutioneller Regelungen, um den Wünschen und Bedürfnissen der Angehörigen gerecht zu werden, mittlerweile zum Alltag im Bestattungsgewerbe.
Aneingnung muss möglich bleiben
Einen adäquaten Abschiedsraum zu gestalten ist eine höchst anspruchsvolle Aufgabe. Er muss ein scheinbares Paradox vereinen: universell und gleichzeitig individuell sein. Das gelingt nur, wenn sich die Architektur zurücknimmt und sich auf einige allgemeingültige atmosphärische Determinanten beschränkt wie stimmiges Licht und Naturbezug, etwa durch Fenster mit Blick ins Grüne. Ausgeprägte räumliche Übergänge und Schwellen – etwa eine schwere Tür, ein Absatz, eine sich ändernde Farbhaltung oder Lichtsituation – unterstützen dabei, sich langsam auf die Ausnahmesituation vorbereiten zu können.
Vor allem aber muss die Architektur so viel Raum lassen, dass die Trauernden diesen Ort individuell gestalten und sich aneignen können. Wie relevant Abschiedsräume sind, verstehen wir, wenn wir zum ersten Mal einen betreten.
Andrea Jäggi-Staudacher ist Kulturwissenschaftlerin und Designforscherin an der Zürcher Hochschule der Künste und der Kunstuniversität Linz. In ihrem Promotionsprojekt Abschiedssphären untersucht sie, wie die Gestaltung von (Aufbahrungs-)Räumen das Erleben von Tod und Trauer beeinflusst.
Quellen
Dominik Akyel: Die Ökonomisierung der Pietät: Der Wandel des Bestattungsmarkts in Deutschland. Campus 2013
Gernot Böhme: Atmosphäre – Essays zur neuen Ästhetik. Suhrkamp 2013
Dagmar Hänel: Bestatter im 20. Jahrhundert: zur kulturellen Bedeutung eines tabuisierten Berufs. Waxmann 2003
Jane Mowll u. a.: I dressed her up in her best dress: The experiences of the dead body for bereaved relatives in the context of palliative care. SSM – Qualitative Research in Health, 2, 2022, 100058
Katrin Seidel: Die Kerze. Motivgeschichte und Ikonologie. Georg Olms 1996
Katharina Voigt. Über eine neue Sichtbarkeit des Sterbens in der Architektur. Bielefeld: Transcript, 2020.