Zwischen Magie und Elektrizität

Wofür sind Träume da? In seinem Buch „Warum wir träumen“ erklärt Neurochirurg Rahul Jandial, was uns die Hirnforschung übers nächtliche Träumen lehrt.

Ein Bücherstapel mit den Büchern, die in Ausgabe 11/2024 vorgestellt werden
Das ist der Bücherstapel der Rezensionen aus der Novemberausgabe 2024. © Psychologie Heute

Nur wenige Themen beschäftigen die Menschheit derart nachhaltig wie der Traum. Die alten Ägypter bauten Tempel für den Zweck, im Schlaf Kunde aus dem Götterreich zu empfangen. Im antiken Griechenland deuteten Orakel Träume, die die Zukunft weissagen sollten. Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhob Sigmund Freud den Traum zu jenem Nicht-Ort, an dem die verdrängten Teile unserer Psyche beheimatet sind, als das Tor zum Unbewussten.

So beliebt das Thema ist, so auserzählt scheint es. Die Traumliteratur ist so umfangreich, dass man sich die Frage stellen muss: noch ein Buch zum Traum? Wozu? Der Hirnchirurg und Neurowissenschaftler Rahul Jandial gibt mit Warum wir träumen darauf eine Antwort. Nach Kult, Philosophie und Psychologie ist es nun an der Reihe der Hirnforschung, Anspruch zu erheben auf die Deutungshoheit über eine der großen Unbekannten des menschlichen Geistes.

Dass die Neurowissenschaft das „darf“, dafür liefert Jandial bestechende Evidenz. Er hat zahllose Operationen am Gehirn bewusster Patienten durchgeführt. Und er weiß: Setzt man die obere Hirnschicht schwachen elektrischen Reizen aus, erleben Patientinnen und Patienten die verrücktesten Dinge: Gerüche, Erinnerungen, ja sogar sexuelle Erregung und – nicht zuletzt – Traumbilder erwachen zum Leben. Darum kann Jandial „mit absoluter Gewissheit sagen, dass Träume unserem Gehirn entspringen – genauer gesagt seiner elektrischen Aktivität“.

Der Traum als janusköpfiges Wesen

In dieser Perspektive liegt die Stärke des Buchs. Man lernt beim Lesen etwas über die identitätsstiftende Funktion von Albträumen, was erotische Träume bedeuten, wie Träumende mit der Außenwelt kommunizieren können und warum wir überhaupt träumen.

Rahul Jandial stellt den Traum dar als ein janusköpfiges Mischwesen aus Magie und elektrischer Reizübertragung. Aber als Neurowissenschaftler bleibt ihm das Wundersame am Traum vor allem eines: wunderlich. Das abschließende Kapitel behandelt die Traumdeutung, also jene Domäne, über die die Hirnforschung wohl am wenigsten Aufschluss geben kann. Der Autor entwickelt zwar einen Ansatz, Träume zu interpretieren – allein: Interpretieren heißt bei ihm vor allem zuordnen: Wenn ich einmal darauf ­gekommen bin, dass das leerstehende Haus in meinem Traum für den Tod meiner Mutter steht, ist der Traum ausgedeutet.

Um nicht nur an der Oberfläche zu kratzen, wäre hier dann doch ein Blick in die gern stiefmütterlich ins Abseits gestellte Psychoanalyse lohnenswert gewesen. Dennoch: Wer etwas über seine – so Jandials liebevolle Bezeichnung – „vier Pfund denkendes Fleisch“ lernen möchte, Aufschluss über die wohl sonderbarsten zwei Stunden der Nacht bekommen und nebenbei gut unterhalten sein will, für den ist das Buch definitiv lesenswert.

Rahul Jandial: Warum wir träumen. Was uns das Gehirn im Schlaf über unser Leben offenbart. Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Liebl. Rowohlt 2024, 304 S., € 26,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2024: Sind die anderen glücklicher? Streiten nur wir so viel? Passen wir noch zusammen?
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