„Haben Sie schon mal im Dunkeln geküsst?“ Diese Kuss-Frage, 1942 aufgeworfen, war damals unerhört. Wohl deshalb mutierte der Schlager zu einem Gassenhauer. Der Medien- und Kommunikationswissenschaftler Hektor Haarkötter stellt sich als ein profunder Experte in Natur- und Kulturfragen und der Geschichte des Küssens vor und führt Leserinnen und Leser in die Philematologie, die Wissenschaft vom Küssen ein.
Das Ende des Kusses naht
Anlass für diesen Streifzug durch Theorie und Praxis des Küssens sei eher ein melancholischer. Er möchte, da er das Ende des Kusses kommen sieht, den Zauber des Küssens noch einmal beschwören. In einer Zeit, in der Kinofilme auf dem Sofa konsumiert und Zweierbeziehungen per App hergestellt würden, sei es an der Zeit für einen innigen Abschiedskuss.
Diese Elegie auf den Kuss geht auch der eher prosaischen Frage nach, ob das Küssen ein biologisches Faktum sei, wie es Freud in seinen Abhandlungen zur Sexualtheorie 1905 dargelegt hat. Freud habe das Küssen als Perversion, als eine Abirrung verstanden. Dazu habe er alle Formen des Betastens und Beschauens eines Sexualobjektes gezählt. „Eine bestimmte dieser Berührungen, die der beiderseitigen Lippenschleimhaut, hat ferner als Kuss bei vielen Völkern (die höchstzivilisierten darunter) einen hohen sexuellen Wert erhalten…“
Küssen als Todsünde
Den Verdacht, dass das Küssen nicht ohne das Geschlechtliche, das Sündige zu denken ist, hatten auch die Kirchenlehrer. Küsse seien Todsünde, wenn sie auf „ungewöhnliche Körperteile“ wie zum Beispiel Brüste appliziert würden.
Dass Küssen nichts Angeborenes ist, konnte 2015 empirisch bestätigt werden: Nur 46 Prozent aller Kulturen tauschten intime Küsse aus. In Malaysia, Indien, Indonesien etwa sei das öffentliche Küssen bei Strafe verboten. Wenn Küssen nichts Natürliches, Biologisches ist, was ist es dann?
Philosophisch betrachtet sei das „Küssen der Ausgang der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Einsamkeit, die Verwandlung von Singular zu Plural“. Küssen sei Kommunikation und insofern „sozial“ – und mehrsprachig, eine kulturelle Praxis, die allerdings in ein Ordnungssystem eingepasst sei. Wer diese Ordnung stört – durch einen Kuss, der nicht dorthin gehört –, der stelle die Gesellschaft vor ein Problem. Ob es sich um einen Fußballverbandspräsidenten oder um einen geistlichen Würdenträger handele, der den Asphalt küsst: „Küssen kann Ordnungen ins Wanken bringen.“
Hat das Küssen die Leichtigkeit verloren?
Gegen Ende wird dieser abwechslungsreiche, inspirierende Gesang über das Küssen ein wenig zu melodramatisch. Liebe und Sexualität seien „unendlich komplizierter“ geworden, das Küssen habe die Leichtigkeit der 1960er und 1970er Jahre verloren. Genderverhältnisse und Missbrauchsängste durchzögen das Liebesleben.
An ein Aussterben dieser einzigartigen Kommunikationsform mag man trotzdem nicht glauben. Zu groß ist die Sehnsucht nach einem Kuss. Zu gerne erinnern wir uns an Ilsa, die Rick im legendären Film Casablanca zuflüstert: “Kiss me! Kiss me as if it were the last time.”
Hektor Haarkötter: Küssen. Eine berührende Kommunikationsart. S. Fischer 2024, 289 S., € 24,–