Was sehen Sie hier, Emilia Roig?

Ein alter Mann sitzt auf der Treppe vor einem Hauseingang. Auf wen wartet er? Autorin Emilia Roig deutet die Szene in einer Geschichte.

Ein älterer Mann sitzt im Anzug, Hut und Sonnenbrille auf einer Treppe vor einem Hauseingang und hält dabei einen geschlossenen Regenschirm zwischen seinen Beinen
Auf wen dieser mysteriöse, alte Mann wohl wartet? Emilia Roig deutet die Bildszene. © Andrea Ventura für Psychologie Heute

„Ein alter Mann sitzt vor der Wohnung seiner Ex-Frau, von der er schon seit über 25 Jahren getrennt ist. Die Liebe, die er für seine Frau empfand, hatte sich rasch nach der Trennung in Hass verwandelt. Wie konnte sie ohne ihn weiterleben wollen? Er hatte in jungen Jahren gelernt, dass Frauen keine vollständigen Menschen sind, sondern einer Ergänzung bedürfen – seine Frau hieß vor der Heirat nicht zufällig ‚Fraulein‘ (kleine Frau).

Wie glücklich, aber auch wie machtvoll er sich bei der Hochzeit gefühlt hatte: Jetzt hatte er auch eine Frau für sich, seine Frau! Erst nach und nach erkannte er nach der Trennung, welch' wichtige Rolle sie für ihn erfüllt hatte: Sie machte sich klein, sprach nicht zu viel, hörte ihm gut zu. Sie bestätigte ihn tagtäglich. Doch hat er ihre Aufmerksamkeit je erwidert? Als sie sich trennte, zerbröckelte sein Selbstwertgefühl, zerbrach seine innere Welt: Wer war er ohne sie? Ironischerweise war er derjenige, der einer Ergänzung bedurfte, so realisierte er schmerzhaft.

Seit einigen Jahren arbeitet er nun daran, ein Selbst zu entwickeln, das stark genug ist, sich ohne Überlegenheitsgefühl zu entfalten. Der Auslöser war ein Zitat von Toni Morrison, das ihm seine Tochter geschickt hatte: „Wenn du dich nur groß fühlen kannst, weil dein Gegenüber kniet, hast du ein ernstes Problem.“ Der Hass ist längst verflogen. Heute will er sich bei der Frau, die er seine nannte, dafür entschuldigen, dass er sie nie wirklich gesehen hat.“

Was könnte Ihre Bildbeschreibung mit Ihnen persönlich zu tun haben?

„Männer und Frauen sind in unserer Gesellschaft immer noch nicht gleichgestellt. Diese Ungleichheit beeinflusst heute noch die romantischen Beziehungen. In meinem Buch Das Ende der Ehe zeige ich, wie die Institution der Ehe die Ungleichheit der Geschlechter verstärkt und wie Liebe auf Augenhöhe gelingen kann.“

Emilia Roig ist Politologin, Autorin, Aktivistin. Sie stammt aus Frankreich und lebt in Berlin. Ihr neues Buch Das Ende der Ehe erschien soeben bei Ullstein.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2023: Woher weiß ich, wer du bist?
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