Bleibt man immer das Kind?

Immer länger wird die gemeinsame Lebensspanne von Eltern und ihren Kindern. Entsteht dabei ein gleichberechtigter Umgang zwischen den Generationen?

Ein älterer Mann steht mit seinem erwachsenen Sohn am Strand und hat seine Hand auf die Schulter des Sohnes gelegt, dabei schaut er ihn an und lächelt dabei
Wie verändert sich die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, wenn diese erwachsen sind? Gelingt ein Miteinander auf Augenhöhe? © Oliver Rossi/Getty Images

Eltern und Kinder können heutzutage etwa 50 bis 60 Jahre gemeinsam erleben – einen Zeitraum von 30 bis 40 Jahren davon als Erwachsene. Wie gestaltet sich die Beziehung zwischen den Generationen, wenn die Kinder keine Kinder mehr sind? Gelingt ein Miteinander auf Augenhöhe?

In unserer Arbeitsgruppe an den Universitäten Jena und Paderborn haben wir die Qualität der Beziehung zwischen 25- bis 45-jährigen Erwachsenen und ihren Eltern anhand von ausführlicheren Fragebogenstudien und vertiefenden Interviews mit…

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ihren Eltern anhand von ausführlicheren Fragebogenstudien und vertiefenden Interviews mit erwachsenen Kindern, Müttern und Vätern erforscht. Die zentrale Fragestellung war: Wie ist es mit Abgrenzung und Verbundenheit im Erwachsenenalter bestellt?

Ganz generell fanden wir ein positives Bild: Eltern und Kinder stehen nicht nur in engem Kontakt zueinander, sie fühlen sich einander auch eng verbunden. Zwar schätzen Eltern die Beziehung als enger ein als ihre Kinder. Doch auch für den Nachwuchs rangiert die Beziehung zu den eigenen Eltern in ihrer emotionalen Bedeutsamkeit gleichauf oder sogar höher als die zu guten Freunden. Getoppt wird sie lediglich von der Beziehung zur Partnerin oder zum Partner und zum eigenen Kind.

Beziehungen zur Mutter meist enger als zum Vater

Allerdings gibt es für erwachsene Kinder deutliche Unterschiede in der Beziehung zur Mutter und zum Vater. Die Beziehung zur Mutter wird von den meisten als deutlich enger und emotional näher beschrieben als die zum Vater. Dabei droht sie aber auch leicht, zu eng zu werden. Gefragt, wie sie sich die Beziehung zu den Eltern wünschten, gaben die Kinder mehrheitlich an, zufrieden zu sein. Wenn aber Veränderungen gewünscht waren, dann: größere Nähe zum Vater und größere Distanz und weniger Einmischung der Mutter. Beide Formen der Unzufriedenheit nahmen mit zunehmendem Alter ab. Das heißt, von 25 bis 45 entwickelt sich die Regulation von Nähe und Distanz in den Eltern-Kind-Beziehungen positiv.

Interessant ist auch die Frage, wie sehr sich Eltern und Kinder noch an ihre Rolle gebunden fühlen, also wie sehr sie noch „Kind“ oder „Mutter“ beziehungsweise „Vater“ sein möchten. Können sie, wollen sie nicht aus ihrer Haut? Die Antwort ist: Beide Generationen möchten sich eigentlich lieber seltener in ihrer jeweiligen Rolle sehen. Allerdings fühlen sich die Eltern, besonders die Mütter, noch stärker in ihrer Rolle verhaftet als die Kinder.

Über die Zeit hinweg verändert sich die Symmetrie der Eltern-Kind-Beziehung deutlich. Wir haben die relative Machtverteilung innerhalb der Generationen erfragt: „Wer ist der/die Dominierende?“, „Wer bestimmt, was gemacht wird, wenn Sie zusammen sind?“. Von Müttern wie auch von den Kindern wird die Beziehung schon mit Beginn des Erwachsenenalters als symmetrisch erlebt. Söhne schreiben sich sogar geringfügig mehr Einfluss zu als ihren Müttern, während die Mütter den Kontakt zu den Söhnen wie auch zu den Töchtern als symmetrisch erleben. Die Beziehung zum Vater hingegen beurteilen sowohl die Kinder als auch die Väter erst im mittleren Erwachsenenalter als symmetrisch. Im jungen Erwachsenenalter bis zirka 40 Jahre sind sich Kinder und Väter einig, dass der Vater immer noch dominiert.

Streit: Mit der Mutter über Partnerschaft, mit dem Vater über Politik

Während in der Kindheit und vor allem in der oft schwierigen Pubertätsphase Streit zum Familienleben gehört, ist dies im Erwachsenenalter deutlich seltener der Fall. Trotzdem gehören Konflikte weiterhin zur Beziehung. Sie werden aber etwa nach dem Auszug der Kinder aus dem gemeinsamen Haushalt und mit zunehmendem Alter seltener. Teilweise verlagern sie sich auf andere Streitanlässe. Nach typischen Konfliktthemen gefragt, nannten die Kinder und ihre Eltern Probleme im Alltag und im Beruf, die Lebensführung (vor allem die des Kindes) und den Umgang mit Geld. Mit der Mutter wurde zudem häufig über die Partnerschaft gestritten, mit dem Vater über Politik. Allerdings verfügten erwachsene Kinder und ihre Eltern offensichtlich auch über effektive Strategien, um Streit zu vermeiden: Problematische Themen klammerten sie aus ihren Gesprächen oft aus. Trotzdem berichteten die Befragten, dass zwischen Mutter, Vater und dem Kind mehr Konflikte ausgetragen würden als mit Freunden, allerdings weniger als mit dem Partner oder der Partnerin.

Erwachsene Kinder wünschen sich zu den Eltern eine symmetrische Beziehung – jedoch nicht in allen Bereichen. So sehen Erwachsene ihre Eltern weiterhin gerne als sicheren Hafen und als Ratgeber. Unsere Interviewpartner sagten dazu: „Alles soll so bleiben, wie es ist“, „Meine Eltern sind meine Eltern. Freunde habe ich genug“. Oder, etwas resigniert: „Ich kenne es doch auch nicht anders, das war schon immer so. Warum sollte ich mir dann etwas anderes wünschen?“ Die Kinder schätzen es, zu ihren Eltern kommen zu können, wenn es ihnen schlecht geht oder wenn sie einen Rat brauchen. Gefragt, wer sie beim Übergang vom Studium in den Beruf unterstützt habe, spielten die Eltern im Vergleich zu Freunden eine durchaus bedeutsame Rolle. Dabei gaben die Kinder an, ihre Mutter um Rat gebeten zu haben, weil diese mitdenke und sie verstehe, ihren Vater hingegen, weil er „viel weiß, schon oft gute Ratschläge gegeben hat“ und „sein Wissen respektiert“ werde. Das heißt, dass der Vater nicht nur als gleichberechtigter Gesprächspartner geschätzt wird, sondern weil er mehr weiß als man selbst.

Begegnen sich Familienmitglieder irgendwann auf Augenhöhe, sodass auch die Eltern Ratschläge von ihren Kindern annehmen? Für den Einfluss, den Kinder auf ihre Eltern ausüben, hat sich der Begriff der „reziproken Sozialisation“ eingebürgert. So haben Kinder vor allem auf ihre Mütter, aber auch auf ihre Väter deutliche Einflüsse, wenn es um Einstellungen und Handeln geht. Sie wirken sowohl über den Modellcharakter ihres eigenen Verhaltens als auch über Gespräche. Eltern können etwa beobachten, wie fit ihre Kinder aussehen, seit sie regelmäßig joggen gehen. Die Kinder können aber auch sagen: „Mama, du solltest wirklich mehr Sport treiben.“ Oder: „Papa, lern endlich, wie dein Handy funktioniert!“ Besonders viel Einfluss nehmen die Kinder bereits ab dem Jugendalter in intellektuell offenen und aufnahmefähigen und -willigen Familien. Ihr Einfluss kann sogar gesellschaftliche Veränderungen in Gang setzen, wie beispielsweise in der Bio- und Ökobewegung der 1980er Jahre. Diese Effekte werden sowohl von den Kindern als auch den Eltern gesehen.

Unsere Studie gibt zahlreiche Hinweise, dass die Beziehung zu den Eltern für erwachsene Kinder konflikthafter ist als zu Freunden und dass zumindest die Vater-Kind-Beziehungen als weniger unterstützend und nicht symmetrisch gesehen werden. Klassische Merkmale von Eltern-Kind-Beziehungen bleiben also auch im Erwachsenenalter erhalten. Dies ist ein zweischneidiges Schwert, denn es ermöglicht einerseits den Kindern, bei den Eltern Rat zu suchen, andererseits leben bei nicht gewünschten Einmischungen durch die Eltern schnell alte Widerstände auf. Einflüsse der erwachsenen Kinder auf ihre Eltern scheinen dagegen, möglicherweise weil sie seltener sind, positiver aufgenommen zu werden.

Heike M. Buhl ist Professorin für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie unter Berücksichtigung der Geschlechterforschung an der Universität Paderborn. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Beziehung zwischen Erwachsenen und ihren Eltern.

Zahlreiche Publikationen, darunter:

  • Significance of individuation in adult child-parent relationships. Journal of Family Issues, 29, 2008, 262–281

  • My mother: My best friend? Adults’ relationships with significant others across the lifespan. Journal of Adult Development, 16, 2009, 239–249

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2013: Was haben wir falsch gemacht?