Augen zu und durch

Schnell von einem Ort zum anderen: Das geht in Städten oft auf unterirdischen Wegen – mit gemischten Gefühlen. Über die Psychologie der Unterführung.

Unterführungen gelten als düster, schmuddelig, gefährlich. © Magdalena De Jonge Malucha/EyeEm

Mit einem Schritt geht es ins Dunkle, das Tageslicht ist nur noch ein helles Quadrat in der Ferne. Autolärm klingt dumpf durch die Wände. Die Schritte hallen nach. Es zieht, ist feucht und kühl. Am Boden liegen Blätter und Abfall. Es riecht nach Urin. Botschaften zieren die schmutzigen Wände: RAF forever. Sigi, ich liebe dich. I was here.

Unterführungen sind typische urbane Orte mit ebensolchen Merkmalen. Es gibt sie zwar auch in ländlichen Räumen, besonders häufig finden sie sich aber in (Groß-)Städten, wo…

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Räumen, besonders häufig finden sie sich aber in (Groß-)Städten, wo sie helfen sollen, Barrieren wie vielbefahrene Straßen zu über- oder genau genommen zu unterwinden.

In Anlehnung an den französischen Ethnologen und Anthropologen Marc Augé lassen sich Unterführungen als Nicht-Orte betrachten, also Orte ohne Identität, die nur für den Durchgang bestimmt sind. Die Menschen, die sie nutzen, sind typischerweise in Bewegung. In der Regel gibt es dort kein Mobiliar, keine Bänke oder andere Sitzgelegenheiten. Wer die Unterführung als Rückzugsort nutzt, ist gezwungen, auf dem Boden oder der Straße zu sitzen oder zu liegen.

Manchmal sind wir auf Unterführungen angewiesen, um von A nach B zu kommen; manchmal haben wir die Wahl und können – unter Inkaufnahme eines Umwegs oder vielleicht einer längeren Standzeit an einer Ampel – darauf verzichten. Für viele Menschen hängt diese Entscheidung auch von der Tageszeit und den Lichtverhältnissen ab, denn: Unterführungen gelten als düster, schmuddelig, gefährlich.

Mythos und Wirklichkeit

Kriminologische Befragungen in der Bevölkerung zeigen regelmäßig, dass vor allem Frauen Unterführungen als typische „Angst-Räume“ wahrnehmen. Für viele Menschen stellen sie daher selbst eine Barriere dar, deren Nutzung sie insbesondere im Dunkeln vermeiden. Nicht zuletzt deshalb sind sie aus stadtplanerischer Sicht längst ein Auslaufmodell. Streng genommen wird hier jedoch nicht das Bauwerk selbst zur Barriere, sondern das subjektive kriminalitätsbezogene Unsicherheitsgefühl, die Furcht, von fremden Menschen angesprochen zu werden oder Opfer einer Gewalttat zu werden, welche auf solche Örtlichkeiten typischerweise projiziert wird.

Dies erscheint zunächst paradox, denn die überwiegende Mehrzahl von (sexualisierten) Gewalttaten findet in privaten Wohnungen und unter einander gut bekannten Täterinnen oder Tätern und Opfern statt. Hier klaffen Mythos und Wirklichkeit weit auseinander – was nicht zuletzt daran liegen dürfte, dass unser Bild von Kriminalität und Gewalt stark durch den Konsum von Medien beziehungsweise Erzählungen über Kriminalität geprägt ist.

So erregt die äußerst selten vorkommende überfallartige Vergewaltigung durch eine fremde Person bei Dunkelheit im öffentlichen Raum im Vergleich zu den alltäglichen Vergewaltigungen in Ehen oder Partnerschaften typischerweise eine sehr hohe mediale Aufmerksamkeit. Rein statistisch betrachtet ist das Risiko, Opfer einer Gewalttat zu werden, in einer dunklen Unterführung oder nachts im Park jedoch am geringsten.

Überbleibsel aus der Urzeit

Trotzdem dürften sich die meisten Men­schen schwertun, des Nachts eine einsame Unterführung zum Schutz aufzusuchen. Eine verängstigte Person würde sich durch solchen Rat bestenfalls nicht ernst genommen fühlen. Wie lassen sich derartige Befürchtungen also auflösen? Die Antwort lautet ganz nüchtern: gar nicht. Dies mag auch daran liegen, dass es sich bei diesen Ängsten um eine anthropologische Konstante, gewissermaßen ein Überbleibsel aus unserer Urzeit handelt.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit hatten schon die ersten oder frühen Menschen Furcht, sich bei Dunkelheit im (ungeschützten) Freiraum aufzuhalten. Damals war dies vermutlich durchaus rational, denn bei Dunkelheit ist unsere Sehfähigkeit stark eingeschränkt, und die Begegnung mit einem nachtaktiven Säbelzahntiger hätte sicherlich das schnelle gewaltsame Ende bedeutet.

Aushalten der Unsicherheit

Hinzu kommt, dass das Leben im Großstadtdschungel ebenfalls seit jeher mit subjektiven Unsicherheiten behaftet ist. In den öffentlichen Räumen der Städte begegnen wir permanent dem Abweichenden und Fremden, und Fremdheit wirkt immer auch verunsichernd. Gerade dort, wo kulturelle Vielfalt und Differenz ständig zunehmen, gehört ein gewisser Grad an Verunsicherung zum alltäglichen Leben.

Das Aushalten dieser Unsicherheit ist eine wichtige urbane Kompetenz der Bewohnerinnen und Bewohner. Ohne diese Fähigkeit und jene zur Toleranz („Ich lehne es ab, aber ich halte es trotzdem aus“) wird das urbane Leben schnell unerträglich oder führt zu Schutzversuchen wie abgesicherten Wohnanlagen. Die Idee der Freiheit in der Großstadt wird damit ad absurdum geführt.

Ändern wir dagegen unser Denken und wechseln vom Modus der Gefahr in den Modus des (relativ geringen) Risikos, können räumliche Barrieren verschwinden und Ängste bewegt werden. Wer sich in diesem Sinne öffnet und einlässt auf das urbane Abenteuer, hat die Chance, die Unterführung mit anderen Augen zu sehen – als genuin urbanen Ort mit eigenem Sound und häufig voller spannender Spuren und Zeichen der Nutzung und Aneignung.

Dr. Joachim Häfele ist Professor für Kriminologie an der Polizeiakademie Niedersachsen mit den Forschungsschwerpunkten urbane (Un-)Sicherheit, Vorurteilskriminalität und empirische Polizeiforschung. Er studierte Soziologie, Psychologie, Rechtswissenschaften und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Wuppertal und Hamburg.

Literatur

Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. S. Fischer, Frankfurt a.M., 1994.

Herbert Glasauer: Stadt und Unsicherheit. Entschlüsselungsversuche eines vertrauten Themas in stets neuen Facetten. In: Georg Glasze u.a. (Hg.): Diskurs – Stadt – Kriminalität. Städtische (Un-)Sicherheit aus der Perspektive von Stadtforschung und Kritischer Kriminalgeographie. Transkript, Bielefeld 2005.

Joachim Häfele: Die Stadt, das Fremde und die Furcht vor Kriminalität. Springer, Wiesbaden 2013.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2022: Burn on