Die Ossi-Werdung vieler Nachwendekinder beginnt im Westen. So wie bei der 36-jährigen Beatrice, die für ihren Beruf von Thüringen nach Hessen gezogen ist. Sie begegnet dort den Vorstellungen, dass der Osten Deutschlands voller Ruinen stehe und Häuser mit eingeschlagenen Fenstern die Straßen säumten. Als sie am Arbeitsplatz eine Banane isst, sagt eine Kollegin zu ihr (die die DDR nicht bewusst kennengelernt hat), dass sie sicherlich so gerne Bananen esse, weil sie die früher nicht gehabt habe.
Ähnlich…
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esse, weil sie die früher nicht gehabt habe.
Ähnlich erlebte es Rike, die 2015 zum Studium von Sachsen-Anhalt nach Köln zog. Sie wurde ein Dreivierteljahr nach der Wiedervereinigung geboren, galt in ihrer Familie als erstes gesamtdeutsches Kind. In Köln begegnet sie erstmals Vorurteilen gegenüber Menschen aus den ostdeutschen Bundesländern: „Ihr habt so viele Nazis, was ist nur mit unserem Soli passiert?“ Oder: „Schade, dass die Mauer nicht mehr steht, sonst wären wir vor den Faschisten im Osten wenigstens geschützt.“ Irgendwann ist Rike ihre Herkunft peinlich, sie trainiert sich sogar ihren Dialekt ab.
Westdeutschsein als geltende Referenz?
Die Geschichten von Rike und Beatrice sind keine Einzelfälle. In den vergangenen Jahren häufen sich derlei Erfahrungsberichte von jungen Menschen, die im Osten Deutschlands kurz vor oder nach der Wiedervereinigung geboren wurden. Was sie eint: Diese Nachwendekinder wachsen in einem vereinten Deutschland auf, sie haben die Teilung des Landes nie erlebt. Doch sie stoßen zugleich auf Abwertung und Vorurteile gegenüber ihnen und den Menschen aus ihrer Heimat.
„Junge Menschen aus dem Osten gehen zum Studium in den Westen und stellen fest: Westdeutschsein ist die geltende Referenz, Ostdeutschsein gilt als Abweichung davon“, fasst es Elmar Brähler, Professor für medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Leipzig und leitender Forscher der Sächsischen Längsschnittstudie, zusammen. Die Folge: Ein Spalt tut sich auf.
Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung von 2019 bestätigt: Auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer gibt es deutliche Differenzen zwischen Hier und Dort. Dreißig ethnografische Tiefeninterviews und eine Onlinebefragung unter 2100 Personen zwischen 18 und 29 Jahren aus allen Bundesländern ergaben, dass die innerdeutsche Herkunft vor allem für jene aus den Gebieten der DDR bedeutsam ist. So stimmen der Aussage: „Alles in allem macht es heutzutage keinen Unterschied mehr, ob man aus Ost- oder Westdeutschland kommt“, 57 Prozent der jungen Leute aus dem Westteil des Landes zu, aber nur ein Drittel aus dem anderen Teil der Republik; hier lehnen sogar 65 Prozent diese Aussage entschieden ab.
Anrufung als ostdeutsch
Doch woher kommt es, dass 30 Jahre, nachdem alles wieder zusammenwachsen sollte, noch immer mentale Risse durch die Bundesrepublik gehen und junge Menschen, die die Teilung des Landes nicht miterlebt haben, diese dennoch weiterhin verspüren?
Hört man den jungen Nachwendekindern aus dem Osten zu, dann stellt man fest: Die Himmelsrichtung, in der ihre Heimat liegt, wäre für viele gar kein Thema, würde sie nicht von anderen zu einem gemacht. Was Nachwendekinder wie Rike oder Beatrice erlebt haben, heißt in der Fachsprache Othering. Die eigene Herkunft wird erst dadurch für sie relevant, dass sie auf ihr vermeintliches Anderssein hingewiesen werden: auf ihren Dialekt, auf den Wohnort in der Kindheit, auf die DDR-Erfahrung ihrer Eltern – kurzum auf ihr Ostdeutschsein.
„Diese Anrufung von außen hat einen Einfluss auf das Selbstbild der Personen“, erklärte Naika Foroutan, Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik, im Jahr 2020 auf einer Podiumsveranstaltung der Körber-Stiftung im Rahmen des Projekts „Nachwendekinder: 30 Jahre Deutsche Einheit“. Wenn wir auf der Straße unterwegs wären und eine Polizistin oder ein Polizist würde uns etwas zurufen, so würden wir uns sofort fragen, ob wir etwas verbrochen haben, so Foroutan. Wenn unsere Eltern uns bei unserem Kosenamen nennen, dann rutschten wir automatisch in die Rolle des Kindes. Ebenso funktioniere die Anrufung als „ostdeutsch“. Sie gibt eine Rolle vor.
Wortmeldung vom Rand
Im Falle „ostdeutsch“ ist diese leider noch immer mit negativen Adjektiven behaftet. „Demokratieunfähig, autoritätsgläubig, spießig, rückständig“, fasst die 32-jährige Autorin Valerie Schönian aus Sachsen-Anhalt die typischen Zuschreibungen von Medien gegenüber Menschen aus Ostdeutschland in ihrem Buch Ostbewusstsein zusammen. Die Berliner Sozialwissenschaftlerin Foroutan hat 2019 in einer Studie am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), das sie leitet, sogar Parallelen zwischen jungen Menschen aus Ostdeutschland und Musliminnen und Muslimen gefunden.
Von beiden Personengruppen wisse man, dass sie zum einen von struktureller Ungleichheit betroffen seien, etwa in Bezug auf Bildung, Einkommen und Arbeit, sowie gleichzeitig symbolische Abwertungen erführen, also in besonderem Maße mit negativen Stereotypen gegenüber ihrer Gruppe konfrontiert seien, heißt es in dem Forschungsbericht. Befragt wurden mehr als 7200 deutschsprachige Personen ab 14 Jahren. Beiden Gruppen wird demnach ähnlich oft vorgeworfen, sich nicht ausreichend von Extremismus zu distanzieren und noch nicht im heutigen Deutschland angekommen zu sein. Vor allem junge Menschen verinnerlichen solche Etikettierungen, selbst wenn sie Stereotypen entspringen und nicht der Realität. Die Folge: Eine ganze Bevölkerungsgruppe macht sich klein, wird zur Randgruppe, zu Andersartigen.
Etwas, was die Nachwendekinder nicht mehr hinnehmen wollen. Deshalb suchen sie das Gespräch, manche öffentlichkeitswirksam. Rike etwa unterhält sich in einem WDR-Podcast mit ihrer Kollegin Jule – im Westteil Deutschlands geboren – und weiteren Gästen aus Ost und West über Nachwendekind-Erfahrungen und das Erbe der DDR. Ihr Ziel: Aufklärung und eine Art „Völkerverständigung“ zwischen beiden Landesteilen.
Beatrice wiederum ist eine von zahlreichen Stimmen in dem Buch Nachwendekinder von Johannes Nichelmann, der darin auch von seiner Ossi-Werdung in Bayern erzählt. Dort sind seine Eltern zehn Jahre nach der Wende mit ihm hingezogen. Wie ein Einwandererkind habe er sich gefühlt, der „Quotenossi“, als „Atheist“ und „der Rote“ abgestempelt. Er fordert ebenfalls Aufarbeitung, vor allem innerhalb der Familien, aber auch, dass diese Schieflage zwischen Ost und West anerkannt wird.
Autorin Valerie Schönian schildert in Ostbewusstsein ebenfalls den eigenen Wandel vom gesamtdeutschen Kind zur Ostbürgerin, als sie für die Journalistenschule nach München zog. Sie sieht eine unsichtbare Mauer, die selbst 30 Jahre nach der Wiedervereinigung zwischen den Bürgern dieses Landes zu bestehen scheint, auch bei den jungen, die das Ungetüm aus Stein und Stacheldraht nicht mehr gesehen haben. Ihr Buch: ein Plädoyer für mehr Selbstbewusstsein der Ostdeutschen ihrer Generation sowie für mehr Begegnungen auf Augenhöhe zwischen Menschen aus Ost und West.
In der ARD-Mediathek kommen in der Miniserie hierdrüben Nachwendekinder zu Wort, die entlang der B96 wohnen. Die Männer und Frauen leben zwischen Zittau und Rügen. Sie berichten vom herablassend gemeinten Stempel „ostdeutsch“, der ihnen von außen aufgedrückt werde, oder von dem sie verletzenden Medienbegriff „Dunkeldeutschland“ für die eigene Heimat.
Das kollektive Gedächtnis der Familien
Dass es unabhängig von den Zuschreibungen Mentalitätsunterschiede innerhalb einer Generation eines Landes geben kann, begründet indessen schon die Vergangenheit. Aus der psychologischen Forschung weiß man, dass die Familie als die wichtigste Bildungsinstanz im gesamten Leben gilt – und die Menschen prägt. Die Nachwendekinder wuchsen mit Eltern auf, die entweder in den westdeutschen Bundesländern oder in der DDR gelebt hatten. Ihre Lebensläufe unterscheiden sich schon allein dadurch.
Während in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg eine neoliberale Konsumgesellschaft mit vielen Freiheiten heranwuchs, entstand in den ostdeutschen Regionen mit der Deutschen Demokratischen Republik eine Eineparteidiktatur, die sowohl Täter, Mitläuferinnen als auch Opfer dieses Systems hervorbrachte. Auch ist es möglich, dass Traumatisierungen aus der Elterngeneration an die jüngere weitergereicht werden. So weit ist die Forschung bei den Nachwendekindern allerdings noch nicht.
Deutlich wird aber: Die Unterschiede zwischen den Bürgern aus West und Ost leben in der neuen Generation in Teilen weiter. Von den Nachwendekindern aus dem Osten sind eher beschönigende Ansichten über den Vorgängerstaat zu hören. „Die Kinder übernehmen die Positionen ihrer Eltern aus deren DDR-Erzählungen“, sagt der Leipziger Forscher Elmar Brähler. Typische Narrative seien, dass nicht alles schlecht gewesen, einem aber nach der Wende viel zugemutet worden sei. Erhebungen zufolge hätten viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger unbehelligt vom Staatsapparat gelebt.
Die Nachwendekinder setzen sich dennoch kritischer mit der DDR auseinander als ihre Eltern, aber die Abwertung von außen schafft einen Zusammenhalt – in den Familien und der gesamten Generation, die in diesen Regionen geboren wurde. „Die jungen Leute wollen nicht das DDR-Regime verteidigen, wenn sie sich gegen herablassende Kommentare über die DDR zur Wehr setzen. Sie verteidigen dann ihre Eltern, deren Leben und Geschichte und damit auch ihre eigene Geschichte“, erklärt die Soziologin Hanna Haag, die ihre Dissertation an der Universität Hamburg den Nachwendekindern gewidmet hat und der Frage, wie die Erfahrungen der DDR- und Wendezeit in den Familien verhandelt werden. Es entstehe ein kollektives Gedächtnis der Familie, aus dem die Kinder schöpften.
„Für die jetzige Stimmung in den ostdeutschen Bundesländern ist aber mit Sicherheit die Zeit nach der Wende bedeutsamer als die davor“, betont Elmar Brähler. Viele Eltern der Nachwendekinder seien in diesen Jahren enttäuscht worden. Der Sozialpädagoge Alexander Korittko aus Hannover beschreibt die Wendezeit in einem Fachaufsatz gar als emotionales soziopolitisches Trauma. Er vermutet, dass der Umstand, dass sich die Ostdeutschen innerhalb weniger Jahre „von ihrer Geschichte, ihrer Kultur, ihrer Arbeit, ihrer beruflichen Qualifikation, ihrer Lebenserfahrung und ihrer politischen Orientierung trennen“ mussten, von vielen als „strukturelle Gewalt, als emotionales Entwertungstrauma und traumatischer Verlust erlebt“ wurde. Was sich in dieser Zeit wiederum entwickelte: Misstrauen gegenüber der Regierung, der Wissenschaft und den Medien.
Seine Kollegin Foroutan betont, dass 90 Prozent der DDR-Bürgerinnen und -Bürger nach der Wende ihren Beruf wechseln mussten oder ihn verloren haben und gleichzeitig bis heute die große Mehrheit von Führungskräften in DAX-Konzernen, Universitäten, Medienhäusern oder Ministerien aus dem westdeutschen Raum stammt. „Wie hegemonial Westdeutschland sich Ostdeutschland einverleibt hat, das kann man nicht ungeschehen machen. Aber man kann aufhören, es zu ignorieren“, ist Foroutans Forderung.
Faschismus als rebellischer Akt
Hier findet sich womöglich auch ein Lösungsansatz für ein Phänomen, das dies- und jenseits der alten Mauerlinie für Nachdenken sorgt – und das auch viele öffentlich sprechende Nachwendekinder thematisieren. Bei der jüngsten Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im Juni 2021 wählte ein beträchtlicher Teil der Ostdeutschen, aber vor allem der Nachwendegeneration die rechtsextreme Partei AfD. Sie wurde unter den jungen Menschen die stärkste Kraft. Ähnliche Ergebnisse brachten frühere Landtagswahlen in den östlichen Regionen.
Erklärungen dafür gibt es zahlreiche. Ein Teil sieht die Wurzeln in der DDR-Vergangenheit, aber eben nicht nur dort. Klar ist: So antifaschistisch sich die Regierung des Arbeiter- und Bauernstaates auch darstellte, so wenig wurde die NS-Zeit hier tatsächlich aufgearbeitet. Valerie Schönian schreibt dazu: „All die menschenfeindlichen Einstellungen waren also nie weg. Und dann, Ende der 1980er, hatten immer mehr Menschen genug von der DDR und den Verhältnissen. Und was wird man, wenn man so richtig Rebell sein will im Antifaschismus? Genau. Faschist.“ Dazu habe es sogar staatliche Statistiken gegeben, die aber unter Verschluss gehalten wurden. Der Extremismus konnte ungestört hochkochen.
„Aus Erhebungen zu den Wahlen weiß man auch, dass es im Osten viele Wechselwähler gibt, anders als im Westen. Dort wird auch deshalb seltener AfD gewählt, weil Wähler mit rechtem oder rechtsextremem Gedankengut bereits an andere Parteien gebunden sind“, ergänzt Brähler. Tatsächlich stimmen in Ost wie West erschreckend viele Menschen unter 29 Jahren Aussagen zu wie: „Es sollte einen starken Führer geben, der sich nicht um Parlamente und Wahlen kümmern muss“ (im Osten 26 Prozent, im Westen 23 Prozent), wie die Otto-Brenner-Studie ermittelte.
Die Statistik kippt sogar, wenn man Menschen aus ländlichen Gebieten fragt, jene, die die wirtschaftliche Lage ihrer Region als schlecht bewerten (was vor allem bei ostdeutschen Menschen der Fall ist), oder die ihre Eltern als Wendeverlierer sehen (vor allem Personen aus ostdeutschen Regionen). Letztere Gruppe ist auch mit der Demokratie als Staatsform deutlich unzufriedener als andere Studienteilnehmende. Sozialpsychologen sprechen von relativer Deprivation, also dem Gefühl, benachteiligt worden oder noch immer zu sein, was zu Ärger und Wut führen kann. Ein Gefühl, das in Bevölkerungsteilen bis heute zu tragen scheint.
Nicht nur Runen und Ruinen
„Eine selbst empfundene Zurücksetzung führt oft zur Nichtanerkennung anderer sozialer Gruppen. Dies kann weiterführende Spaltungsprozesse in der Bevölkerung zur Folge haben. Speziell die Abwertung anderer sozialer Gruppen, zumeist von Minderheiten“, heißt es in dem im vergangenen Jahr erschienenen Buch Sachsen zwischen Integration und Desintegration, das Forscherinnen und Forscher aus Leipzig und Dresden herausgegeben haben. Die Wahlergebnisse haben folglich vielleicht im Kern weniger mit tatsächlicher Gesinnung als mit Unzufriedenheit und strukturellen Problemen in den Regionen zu tun.
„Im Osten hatte Pegida von jungen Menschen so großen Zulauf, weil es unter ihnen eine enorme Unsicherheit gibt, vor allem darüber, was die berufliche Zukunft bringt. Die Teilnehmenden auf den Demos erfuhren sich als eine Schicksalsgemeinschaft und bekamen plötzlich deutschlandweit Gehör. Dabei erlebten viele eine Erhöhung ihres Selbstwertes“, erklärt Psychologe Brähler. Für manche seien diese Demonstrationen wie ein Befreiungsschlag gewesen. Es gebe in den letzten Jahren sogar Studien, die zeigten, dass die psychosomatischen und depressiven Beschwerden bei Menschen in den neuen Bundesländern zurückgingen. Wut und Frust werden nun nicht mehr nach innen, sondern lautstark verarbeitet.
Doch Teilnehmer von Pegida spiegeln eben nicht die gesamte Bevölkerung einer Region wider. Junge Menschen, die die AfD wählen, stehen nicht für die ganze Nachwendegeneration des Ostens. „Ja, hier wählen zu viele Menschen eine rassistische Partei. Aber: Die Mehrheit tut es eben nicht“, betont die Buchautorin Schönian. Das bekräftigt auch die Otto-Brenner-Studie: Die unter 30-Jährigen aus allen Bundesländern sind an Demokratie etwa gleich stark interessiert und bei gleichem Bildungsgrad auch ähnlich zufrieden mit dieser Regierungsform, egal woher sie stammen.
Wenn die Heimat stets als Nährboden und Brutstätte für rechtes Gedankengut dargestellt wird, trifft das die jungen Leute. Auch deshalb erheben nun immer mehr ihre Stimme. Sie wollen das schiefe Bild geraderücken. So auch Autor Johannes Nichelmann. Wenn es in einem Stadtteil von Dortmund einen Neonaziaufmarsch gebe, dann sei allen klar, dass dies nicht ganz Dortmund und seine Bürgerinnen und Bürger ausmache. Bei den Aufmärschen in ostdeutschen Städten werde das anders verhandelt.
Nichelmann kritisiert, dass oft zweierlei Maß angelegt werde. Ähnliches beobachtet auch seine Kollegin Schönian. Als in Sachsen der Wahlerfolg der AfD bei der Bundestagswahl 2017 ausgewertet wurde, schauten die Analysten auf die Bürgerinnen und Bürger und fragten: „Was ist mit den Ostdeutschen los?“ Bei den Ergebnissen in Bayern hingegen, wo die AfD damals ihr bestes Ergebnis in Westdeutschland einfuhr, hieß es: „Was hat die CSU falsch gemacht?“
Schönian und Nichelmann sind nur zwei Stimmen von vielen, die betonen: Die wenigsten Nachwendekinder ziehen ihr Ostbewusstsein aus rassistischen oder Deutschland verneinenden Gedanken. Die meisten entwickeln es als Reaktion auf abwertende Kommentare oder Umgangsweisen von anderen, auf ein Ungleichgewicht, das seine Wurzeln in der Vergangenheit hat.
Sie versuchen nun, eine Balance herzustellen, den Begriff „ostdeutsch“ mit positiven Attributen zu füllen und Klischees zu beheben. Sie betonen, dass statt Runen und Ruinen vor allem fidele Städte und kreative Köpfe die Landschaft prägen. Wichtig ist ihnen: Die Nachwendekinder sind nicht nur ostdeutsch. Sie sind Kinder des vereinten Deutschlands.
Quellen
Hendrik Berth, Elmar Brähler u.a.: 30 Jahre ostdeutsche Transformation. Sozialwissenschaftliche Ergebnisse und Perspektiven der Sächsischen Längsschnittstudie. Psychosozial-Verlag, Gießen 2020
Rainer Faus und Simon Storck: Im vereinten Deutschland geboren – in den Einstellungen gespalten? OBS-Studie zur ersten Nachwendegeneration. Otto-Brenner-Stiftung, Frankfurt am Main 2019
Naika Foroutan und Daniel Kubiak: Ausgeschlossen und abgewertet: Muslime und Ostdeutsche. Blätter für deutsche und internationale Politik. 63/7, 2018, 93-102
Naika Foroutan u.a.: Ost-Migrantische Analogien I. Konkurrenz um Anerkennung. DeZIM-Institut, Berlin, 2019
Hanna Haag: Im Dialog über die Vergangenheit. Tradierung DDR-spezifischer Orientierungen in ostdeutschen Familien. Springer VS, Hamburg 2017
Steffen Mau: Eine Skizze zur ostdeutschen Soziopolitik. Aus Politik und Zeitgeschichte, 70/28-29, 2020, 11-16
Steffen Kailitz u.a.: Sachsen zwischen Integration und Desintegration. Politisch-kulturelle Heimaten. Springer VS, Wiesbaden 2021
Daniel Kubiak: Deutsch-deutsche Identitäten in der Nachwendegeneration. Aus Politik und Zeitgeschichte, 70/28-29, 2020, 35-39
Johannes Nichelmann: Nachwendekinder. Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen. Ullstein, Berlin 2019
Valerie Schönian: Ostbewusstsein. Warum Nachwendekinder für den Osten streiten und was das für die Deutsche Einheit bedeutet. Piper, München 2020.