Computersimulation: Nur wenn alle egoistisch sind, ist es fair

Schadet Egoismus dem Zusammensein in einer Gruppe? Nicht wenn es alle sind, meint Clemens Bechinger im Interview über Computernetzwerkmodelle.

Egoismus und Fairness sind in einer Gruppe gleichzeitig möglich, sagen Sie. Das ist doch eigentlich ein Widerspruch in sich.

Unsere Computersimulationen sagen nein. Wir zeigen, dass das rein egoistische Agieren von Gruppenmitgliedern, um Vorteile auf Kosten ihrer Nachbarn zu erzielen, zu einer durchaus realistischen Gruppendynamik führt und letztendlich eine faire Situation herstellt, bei der alle Gruppenmitglieder dem gleichen Risiko ausgesetzt sind.

Diese Schlussfolgerungen basieren auf einem Computernetzwerkmodell von Ihnen. Wie sind Sie vorgegangen?

Mit Computersimulationen erforschten wir, wie Herdentiere die Gefahr eines tödlichen Angriffs durch ein Raubtier verringern können. Ausgangspunkt der Studie ist die Vermutung, dass sich Individuen in einer Herde so zu ihren Nachbarn positionieren, dass das eigene Angriffsrisiko auf Kosten der Nachbarn reduziert wird. Dieses Szenario wird als egoistische Herde bezeichnet.

Das angesprochene Netzwerk – in der Forschung heißt es künstliches neuronales Netzwerk – besteht aus Knotenpunkten, die sich gewichten lassen. Sie können es sich als eine Art Blackbox vorstellen. Forschende geben einen Input hinein und es kommt Output heraus.

In unserem Falle bestand unser Input aus wenigen Regeln, die eine große Gruppe von „Teilchen“ oder künstlichen Neuronen dazu befähigen sollten, stets die Nähe ihrer Nachbarn zu suchen, aber nie mit ihnen zusammenzustoßen. Sie sollten in der Gruppe lernen, sich selbst bestmöglich vor Feinden von außen zu schützen.

Sie greifen dabei auf Prinzipien des psychologischen Verstärkungslernens zurück.

Ja, wir haben das Netzwerk so programmiert, dass die Teilchen eine positive Rückmeldung erhielten, wenn sie sich regelkonform verhielten, also stets Schutz suchten.

Was war für Sie überraschend?

Überraschend ist, was geschieht, nachdem sich die Herde gebildet hat. Dann ist nämlich das zeitlich gemittelte Angriffsrisiko aller Individuen exakt gleich. Offensichtlich gelingt es Mitgliedern im Zentrum nicht, ihre günstige Position gegen Individuen, die vom ungünstigen Rand ins Innere drängen, zu verteidigen. Das liegt an der permanenten Bewegung aller Gruppenmitglieder, die die Verteidigung einer optimalen Position innerhalb der Gruppe unmöglich macht.

Als Resultat dieses fortwährenden Kampfs um die besten Positionen innerhalb der Gruppe beginnt diese, um ihren Schwerpunkt zu rotieren. Genau dies findet auch bei vielen Tierherden statt.

Inwieweit lässt sich das auf menschliches Verhalten übertragen?

Unsere Neuronen waren alle gleich programmiert und verhielten sich alle gleich. Dies ist bei Menschen nicht der Fall, sie unterscheiden sich in ihren Motiven und Interessen. Aber viele Forscherinnen und Forscher gehen davon aus, dass das menschliche Gehirn genau wie ein extrem komplexes Netzwerk funktioniert.

Welche Rolle spielen diese neuronalen Modelle und Computersimulationen in Zukunft in der Verhaltensforschung?

Künftig wird es möglich sein, diese Netzwerke mit immer komplexeren Regeln zu versehen, so dass wir mit weniger Aufwand als in der Wirklichkeit das Verhalten von „Individuen“ in einer komplexen Umwelt simulieren und beobachten können.

Quelle

Samuel Monter u.a.: Dynamics and risk sharing in groups of selfish individuals. Journal of Theoretical Biology, 2023. DOI: 10.1016/j.jtbi.2023.111433

Clemens Bechinger ist Professor für experimentelle Physik an der Universität Konstanz.

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