Was bringt Gendern?

Denken wir an Frauen, wenn wir Kund*innen lesen? Bewerben wir uns eher auf Stellen mit Binnen-I oder Sternchen? Ein Blick auf die Gender-Forschung

Die Illustration zeigt verschiedene männlihche und weibliche Figuren zusammen mit dem Genderstern
Gendern erhitzt die Gemüter immer wieder stark. Dabei soll es Frauen in der Sprache sichtbar machen. © Jonathan Hoffboll für Psychologie Heute

Drei Viertel der Deutschen lehnen Genderformen wie Binnen-I und Sternchen ab. Zu diesem Ergebnis kommt zumindest eine Umfrage aus dem Jahr 2023. Dabei ist der Glottisschlag inzwischen den meisten Menschen ein Begriff. Sogar im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, etwa schon vor Jahren bei Anne Will und im Tatort, wird die kleine Sprechpause vor dem „-in“ wie bei Schüler*in mitgesprochen. Die Debatte um angemessene Sprachformen wird indes sehr hitzig ausgetragen.

Ingenieur*innen statt Ingenieure

Aber was wissen…

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um angemessene Sprachformen wird indes sehr hitzig ausgetragen.

Ingenieur*innen statt Ingenieure

Aber was wissen wir überhaupt über das Gendern – was bewirkt es? Forschung dazu gibt es in Deutschland seit den neunziger Jahren. Die ersten Wiederholungsstudien wurden vor wenigen Jahren veröffentlicht. Was löst es also in uns aus, wenn wir Ingenieur*innen statt Ingenieure lesen? Stellen wir uns mehr Frauen vor? Haben wir Probleme mit dem Lese- und Hörverständnis? Hat die Sprachform einen Einfluss darauf, ob junge Frauen Ingenieurinnen werden wollen?

Zunächst ein Blick auf das Problem: Worüber wird überhaupt gestritten? Ausgangspunkt der Debatte ist das generische Maskulinum: In der deutschen Sprache lässt eine Personenbezeichnung, die grammatikalisch männlich ist, nicht erkennen, welches Geschlecht die bezeichnete Person hat. Ein Lehrer kann sich auf eine weibliche, männliche oder auf eine Lehrkraft mit anderem Geschlecht beziehen. Theoretisch. Denn in der Alltagssprache hängen grammatikalisches und reelles Geschlecht oft zusammen. Die meisten Menschen werden von einer Lehrerin sprechen, wenn sie sich auf einen weiblichen Lehrer beziehen. Beim generischen Maskulinum ist dagegen nie ganz klar, wer genau gemeint ist. Gerade beim Sprechen über Gruppen wird uns das oft zum Verhängnis. Denn während wir uns bei die Lehrerinnen in der Regel sicher sein können, dass es sich ausschließlich um Frauen handelt, wissen wir bei die Lehrer nicht, ob es um eine rein männliche, weibliche oder um eine gemischte Gruppe geht.

Sprache, die Frauen unsichtbar macht

Seit den 70er Jahren kritisieren Sprachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler diesen Umstand. Ihr Vorwurf: Das generische Maskulinum mache Frauen in der Sprache unsichtbar. Und das führe auch zu reeller Benachteiligung. Laut der Sapir-Whorf-Hypothese (siehe Definitionskasten) verändert nicht nur unsere Wahrnehmung die Sprache, ­sondern die Sprache hat auch Einfluss darauf, wie wir die Welt sehen.

Seither wurden verschiedene „Heilungsvarianten“ vorgeschlagen, wie es die Psychologin Brigitte Scheele nennt. Gängig ist die Beidnennung, Lehrer und Lehrerinnen. In den 90er Jahren etablierte die Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch zudem das Binnen-I, LehrerInnen, eine Kurzform der Beidnennung. Seit einigen Jahren hat sich der Diskurs erweitert: Es geht nicht mehr nur um Männer und Frauen, sondern ebenso um die Darstellung nicht binärer Menschen, also Personen, die sich weder als männlich noch als weiblich definieren. Weil unsere Grammatik für sie keine Form kennt, wurden verschiedene Neuschöpfungen entwickelt. Gängig ist der Genderstern: Lehrer*innen. Aber auch andere Sonderzeichen wie etwa Doppelpunkt oder Unterstrich sowie neue Endungen, Lehrix oder Lehry, werden verwendet. All diese Varianten fassen wir unter den Begriff des „Genderns“ (während im Alltagsverständnis viele nur an Formen wie Stern oder Doppelpunkt denken).

Doch führt das generische Maskulinum überhaupt dazu, dass wir eher an Männer denken? Das Handbuch Richtig Gendern des Dudens gibt eine über 120-seitige Anleitung, wie wir dies angemessen und verständlich tun. Die Autorinnen schlagen darin ein einfaches Experiment vor: Man soll eine Gruppe von Personen bitten, den Namen ihres Lieblingsschauspielers aufzuschreiben. Die Prognose: Es werden fast ausschließlich Männer gelistet sein. Eine zweite Gruppe wird gebeten, den Namen ihres Lieblingsschauspielers oder ihrer Lieblingsschauspielerin zu nennen. Bezüglich der zweiten Gruppe heißt es im Duden: „Die Auswertung wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine ungefähr gleiche Zahl von Frauen- wie Männernamen ergeben.“

Ganz so einfach ist es aber nicht. Der Duden verweist auf eine Reihe klassischer Experimente der Psychologinnen Dagmar Stahlberg, Sabine Sczesny und Friederike Braun aus den frühen 2000er Jahren. In einem dieser Versuche wurden den Teilnehmenden Personenkategorien vorgelegt: Sportler, Sänger, Politiker, TV-Moderatoren. Zu jeder Kategorie sollten sie nun je drei Personen nennen. Die Besonderheit: In einer Fassung war von Sportler die Rede, in einer anderen von Sportler oder Sportlerin, also Beidnennung, in einer dritten von SportlerIn, das Binnen-I. Gezählt wurde, wie viele weibliche Namen die Teilnehmenden jeweils nannten. Anders als vom Duden prognostiziert, gab es zwischen dem generischen Maskulinum und der Beidnennung keinen Unterschied. In beiden Fällen betrug der Frauenanteil nur etwa ein Fünftel. Doppelt so viele Frauen wurden dagegen beim Binnen-I genannt.

Wie bei vielen älteren Studien ist die Anzahl der Versuchspersonen überschaubar. Auf diesen Missstand weist der Psychologe Hilmar Brohmer von der Universität Graz hin. Zusammen mit einem Forschungsteam hat er deswegen einer großen Stichprobe von über 2500 Personen in Deutschland, Österreich und der Schweiz einen Onlinefragebogen gegeben. Sie sollten wie in der Ursprungsstudie drei Namen je Kategorie nennen. Zusätzlich wurde der Genderstern, Sportler*innen, eingefügt. Das Ergebnis: Dieses Mal, gut zwanzig Jahre später, kamen den Versuchspersonen generell mehr Frauen in den Kopf. Dennoch fielen große Unterschiede auf: Beim generischen Maskulinum war es nun knapp ein Viertel weibliche Namen, etwas besser schnitten Beidnennung und Genderstern ab. Und wurden die Teilnehmenden nach SportlerInnen, SängerInnen, SchauspielerInnen– also mit Binnen-I – gefragt, nannten sie tatsächlich fast genauso viele Frauen wie Männer.

Handwerker, Polizist? Der Stereotypen-Effekt

Male bias – so heißt das Phänomen, dass wir beim generischen Maskulinum eher an Männer denken. Und tatsächlich konnten zahlreiche Studien diesen Effekt immer wieder bestätigen. Der Male Bias ist allerdings von verschiedenen Faktoren abhängig. So etwa dem Geschlecht: Frauen nennen grundsätzlich häufiger Frauen, Männer weniger. Und auch, wie gegendert wird, macht einen Unterschied. Obwohl die Befunde nicht ganz einheitlich sind, lässt sich trotzdem sagen: Formen, die der weiblichen Schreibweise ähneln, wie etwa StudentInnen, scheinen uns eher Frauen ins Bewusstsein zu rufen als ein neutraler Ausdruck wie Studierende.

Am stärksten beeinflusst uns aber ein anderer Faktor: Stereotype. Also unsere vereinfachte Vorstellung darüber, welchem Geschlecht bestimmte Gruppen oder Berufe typischerweise angehören. Das zeigen unter anderem die Daten einer neueren Studie der Psycholinguistin Silke Schunack und der Sprachwissenschaftlerin Anja Binanzer. Sie erstellten eine Liste mit etlichen Jobbezeichnungen. Diese waren typisch männlich, zum Beispiel Polizist, typisch weiblich, Kosmetiker oder Florist, oder neutral, Nachbarn. Die Versuchspersonen sollten angeben, wie hoch sie jeweils den Frauenanteil einschätzten. Wieder gab es verschiedene Versionen des Fragebogens. In einer wurde das generische Maskulinum verwendet, in einer anderen wurde nach NachbarInnen, in einer dritten nach Nachbar*innen gefragt.

Wie gegendert wurde, brachte im Schnitt nur marginale Unterschiede. Interessant wurde es aber, wenn die Kategorien mit bestimmten Stereotypen verbunden waren. Tätigkeiten wie Hausmeister blieben vorwiegend männlich besetzt. Einzig mit Genderstern (Hausmeister*in) konnten sich Teilnehmende zumindest etwas häufiger Frauen vorstellen, die Leitungen reparierten. Tauchten wiederum Kategorien wie FloristInnen oder FriseurInnen auf, gingen die meisten davon aus, dass hier Frauen Blumen zusammenbinden und Haare schneiden – ein sogenannter female bias. In ohnehin schon weiblich besetzten Berufen wurden beim Binnen-I also noch mehr Frauen genannt. „Und das ist genauso ein Problem“, sagt Silke Schunack. „Die Leute sollen sich bei KosmetikerInnen schließlich nicht noch mehr Frauen vorstellen, als sie ohnehin schon tun.“

Einfluss des Stereotypen-Effekts

Denn in diesen Gruppen ist der vermutete Frauenanteil ohnehin sehr hoch. In den typisch weiblichen Berufen wurden im Schnitt drei Viertel Frauen geschätzt, in den typisch männlichen ein Viertel. Der Einfluss von Stern und Binnen-I war im Vergleich zum Stereotypen-Effekt ziemlich klein. Studien, die Stereotype miteinbeziehen, zeigen regelmäßig: Ihr Einfluss ist oft um ein Vielfaches größer als der von Genderformen. In anderen Worten: Wenn in einem Nachrich-tentweet von Terrorist*innen die Rede ist, werden die meisten Menschen vor allem Männer im Kopf haben, ganz egal ob dort Terroristen, Terrorist*innen oder TerroristInnen steht. Und umgekehrt denken die meisten an Frauen, wenn über Au-Pairs oder Kosmetiker berichtet wird – auch im generischen Maskulinum.

Bereits Kinder werden vom Male Bias und Stereotypen beeinflusst. Das zeigt unter anderem eine Studie von Jan Lenhart, Professor für pädagogische Psychologie an der Universität Bamberg. Er befragte 200 Dritt- und Viertklässler. Sie erhielten einen Fragebogen mit der Überschrift: „Stell dir vor, du würdest einen Film produzieren. Welche Vornamen würdest du den folgenden Charakteren geben?“ Ihnen wurden typisch weibliche – Florist, Erzieher – und typisch männliche Jobs genannt – Trucker, Fußballtrainer, Handwerker. Eine Hälfte der Kinder erhielt diese Bezeichnungen im generischen Maskulinum, die andere in der Beidnennung: Lastwagenfahrer und Lastwagenfahrerin.

Insbesondere für die Mädchen war es wichtig, ob neben Zahnarzthelfern, Lehrern oder Automechanikern auch explizit nach deren weiblichen Kolleginnen gefragt wurde, also Zahnarzthelferinnen und -helfer, Automechanikerinnen und -mechaniker. Ihnen kamen dann häufiger Namen von Frauen in den Kopf. Den Jungs war das völlig egal, sie blieben vom Gendern unbeeindruckt. Unabhängig vom Geschlecht zeigte sich, dass die Acht- bis Elfjährigen bereits eine stark ausgeprägte Vorstellung davon haben, welche Jobs von wem ausgeführt werden. Friseur, Tierarzt, Sekretär – hier schrieben die meisten Kinder einen Frauennamen auf. Mathematiker, Bürgermeister, Polizist – das waren vorwiegend Männer. Im Vergleich zur verwendeten Sprachform hatten Stereotype einen drei- bis viermal so großen Einfluss darauf, welches Geschlecht sich die Kinder bei einem Beruf vorstellten.

Die Personalabteilung sucht eine Sekretär*in

Jan Lenhart interessierte aber vor allem, wie sich das Gendern auf die eigenen beruflichen Perspektiven auswirkt. Hat es einen Einfluss darauf, ob sich die Mädchen eher vorstellen könnten, als Mechanikerin oder Mathematikerin zu arbeiten? Die Kinder wurden gefragt, wie sehr sie sich zutrauen würden, den jeweiligen Job auszuüben. Wieder war es den Jungs egal, ob von Friseuren oder Friseurinnen die Rede war. Anders bei den Mädchen: Sie konnten sich eher vorstellen, im Orbit zu arbeiten, wenn von einer Astronautin die Rede war. Oder Brände zu löschen, wenn auch nach einer Feuerwehrfrau gefragt wurde.

Zusammenfassend bedeutet das: Die Genderform führte tatsächlich dazu, dass die Mädchen sich mehr in einem „Männerberuf“ gesehen hätten. Und bei Erwachsenen? Haben Genderformen etwa in Stellenanzeigen einen Einfluss auf unseren Karriereweg? Die Linguisten Dominik Hetjens und Stefan Hartmann werteten die Daten von mehr als 250.000 deutschsprachigen Onlinestellenanzeigen aus. Sie unterteilten die Anzeigen in verschiedene Kategorien, unter anderem generisches Maskulinum, Binnen-I, Beidnennung. Es zeigte sich: Frauen, die auf der Suche nach einem neuen Job waren, riefen solche Anzeigen häufiger auf, die der grammatisch weiblichen Form ähnelten. Eine Frau, die als Lehrerin arbeiten wollte, klickte eher auf eine Anzeige für eine Stelle als Lehrerin oder Lehrer:in. Weniger oft interessierte sie sich für Anzeigen mit Formen wie Lehrkraft, Lehrer* oder Lehrer (m/w/d)– obwohl gerade letztere in Stellenanzeigen am häufigsten vertreten ist.

Insgesamt waren die Ergebnisse jedoch gemischt: Zwischen den Berufsfeldern gab es teils starke Unterschiede. Die Autoren sprechen von einer Tendenz, die mit Vorsicht zu interpretieren sei. Denn hier handelt es sich um eine Feldstudie, viele andere Aspekte können das Ergebnis beeinflussen. Zum Beispiel, einmal wieder: Stereotype – vor denen selbst Personalabteilungen nicht gefeit sind. Eine freie Stelle für einen klischeehaft weiblichen Job wie eine Verwaltungsfachkraft wurde eher als Sekretär*in ausgeschrieben. Softwareentwickler oder Lageristen tauchten dagegen gern in der männlichen Form auf. Das führte dazu, dass im Schnitt mehr Frauen auf die Ausschreibungen in Genderform klickten.

Darüber hinaus wurde nur auf die Klickzahlen geschaut. Der Klick auf die Stellenanzeige ist zwar ein wichtiger Schritt – aber eben nur der erste. Der Ökonom Emilio J. Castilla und die Ökonomin Hye Jin Rho führten eine ähnliche Studie in den USA durch. Sie interessierten sich dafür, wer am Ende tatsächlich eine Bewerbung rausschickte. Und dafür war der genaue Wortlaut der Ausschreibungen tatsächlich ziemlich egal. So führen uns Genderformen zwar durchaus Frauen ins Bewusstsein. „Ob aber geschlechtergerechte Sprache allein zu mehr Teilhabe und Gleichberechtigung führt, ist bislang einfach nicht ausreichend erforscht“, fasst Hilmar Brohmer diese Befunde zusammen.

Zur Debatte steht außerdem, wie verständlich Gendersprache wirklich ist. Mehr Silben, mehr Sonderzeichen – das macht Sprache komplizierter. Der Psychologe Marcus Friedrich wollte wissen, was dran ist. Er legte Versuchspersonen einen Erste-Hilfe-Text vor: „Angenommen, ein Besucher entdeckt auf einem vollen Rummel eine Person.“ Die Teilnehmenden sollten den Text lesen und daraufhin einschätzen, wie gut verständlich und ästhetisch ansprechend sie ihn fanden. Wichtig: Hier ging es nicht darum, wer sich wie viele Männer oder Frauen vorstellte, sondern nur um die Lesbarkeit. Einige der Teilnehmenden lasen den Satz wie oben geschrieben, in einer anderen Fassung stand ein*e Besucher*in, in einer dritten Besucher*innen, also Genderstern in der Einzahl oder Mehrzahl. Erwartungsgemäß schätzten diejenigen, die mehr Silben und Sternchen im Text hatten, diesen als schlechter verständlich und weniger formschön ein.

Die Probanden? Vor allem Psychologiestudierende

Studien zur Verständlichkeit liefern insgesamt gemischte Ergebnisse – teils gibt es Verständnisprobleme, teils nicht. In einer ähnlichen Studie, ebenfalls von Marcus Friedrich, lasen die Teilnehmenden die Anleitung des Gesellschaftsspiels Citadels: „In Citadels wetteifern die Spieler*innen darum, Baumeister*in des Königreichs zu werden, indem sie beeindruckende mittelalterliche Städte erbauen.“ So die Version mit Genderstern, die die Teilnehmenden hier sogar als besonders verständlich und ansprechend bewerteten. Darüber waren selbst die Forschenden verwundert. Ein Erklärungsansatz: Wie in vielen Studien wurden vermutlich mehrheitlich Psychologiestudierende untersucht. „Wir sprechen hier von Personen, die ohnehin eine hohe Lesekompetenz mitbringen“, sagt Silke Schunack.

Dass die meisten Studien zum Gendern Psychologie-studierende untersuchen, ist wohl das größte Problem des ­Forschungszweigs. Denn unter anderem deren überdurchschnittlich hoher Bildungsgrad und ein Frauenanteil von knapp 80 Prozent werfen die Frage auf, ob sich die Befunde überhaupt verallgemeinern lassen. Und das nicht nur beim Thema Verständlichkeit, wo ja gerade solche Personengruppen von Interesse wären, die Probleme mit dem Lesen von Texten haben.

Wie gut zum Beispiel Kinder oder Menschen, die Deutsch als Zweitsprache lernen, Genderformen verstehen, ist bisher fast nicht untersucht. „In diesen Bereichen wissen wir bislang einfach noch zu wenig“, sagt Jan Lenhart. In einem Anfang des Jahres veröffentlichten Beitrag resümiert die Psychologin Anita Körner die Forschung zum Male Bias mit den Worten, die Ergebnisse seien „gut belegt für junge Menschen mit hohem Bildungsgrad, die Deutsch als Erstsprache sprechen“. Über andere Personengruppen lässt sich bislang kaum eine wissenschaftlich fundierte Aussage treffen.

Und eine andere Gruppe taucht in der Forschung bislang kaum auf: nicht binäre Menschen. Dabei stehen sie ja eigentlich im Mittelpunkt der Debatte, gerade wenn es um Formen wie den Genderstern geht. Weder weiß man, ob ein Ausdruck wie Busfahrer*innen dazu führt, dass sich Menschen auch eine nicht binäre Person vorstellen, die im Bus am Steuer sitzt. Noch ist untersucht, wie nicht binäre Personen selbst Sternchen, Unterstrich und Doppelpunkt wahrnehmen.

Reflektierter Umgang mit Sprache

Was lässt sich also festhalten? Das generische Maskulinum führt dazu, dass wir tendenziell eher an Männer als an Frauen denken. Gendern kann hier korrigierend wirken – zumindest ein bisschen. Viel wichtiger dafür, ob wir uns Personen als männlich oder weiblich vorstellen, sind aber unsere Vorstellungen und Überzeugungen über die Welt.

Ist Sprache also gar nicht so wichtig? Müssen wir viel mehr daran arbeiten, unsere Vorurteile zu hinterfragen? „Die ‚echte Welt‘ hat natürlich den größten Einfluss darauf, ob wir uns eher Frauen oder Männer vorstellen“, sagt Jan Lenhart. „Aber das heißt ja nicht, dass es keinen Sinn ergibt, an verschiedenen Punkten anzusetzen.“ Es ist also zentral, mehr Raumfahrerinnen auszubilden und abzubilden. Und gleichzeitig kann es helfen, in Stellenanzeigen zu gendern und von Astronautinnen zu sprechen.

Insgesamt hängt die Forschung zum Gendern noch an vielen Stellen. Insbesondere vielfältigere Stichproben wären notwendig. Und viele zentrale Fragen sind schlicht offen: Wen schließen wir mit einer Sprache, die auf mehr Gleichheit zielt, tatsächlich aus? Können Genderstern oder Doppelpunkt das Gefühl erzeugen, dass die Welt aus mehr als zwei Geschlechtern besteht? Dennoch deuten die bisherigen Befunde bei aller Differenziertheit auf einen Punkt hin: Ein reflektierter Umgang mit Sprache kann einen Unterschied machen.

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Quellen

Male Bias

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Anita Körner u.a.: Examining the glottal stop as a mark of gender-inclusive language in German. Applied Psycholinguistics, 45, 2024, 156–179

Julia Misersky u.a.: Grammatical gender in German influences how role-nouns are interpreted: Evidence from ERPs. Discourse Processes, 56/8, 2019, 643–654

Dagmar Stahlberg u.a.: Name your favorite Musician. Effects of masculine generics and of their alternatives in German. Journal of Language and Social Psychology, 20/4, 2001, 464–469

Dagmar Stahlberg und Sabine Sczesny: Effekte des generischen Maskulinums und alternativer Sprachformen auf den gedanklichen Einbezug von Frauen. Psychologische Rundschau, 52/3, 2001, 131–140

Verständlichkeit

Marcus C. G. Friedrich u.a.: The influence of the gender asterisk („Gendersternchen“) on comprehensibility and interest. Frontiers in Psychology, 12, 2021, 1-11

Marcus C. G. Friedrich u.a.: Does the gender asterisk („Gendersternchen“) as a special form of gender-fair language impair comprehensibility? Discourse Processes, 61/9, 2024, 439–461

Sven Jöckel u.a.: Wirkung gendersensibler Ansprachen in Anmoderationen bei Erwachsenen und Heranwachsenden. Publizistik, 66, 2021, 441–462

Christoph Klimmt u.a.: Geschlechterrepräsentation in Nachrichtentexten. Medien & Kommunikationswissenschaft, 56/1, 2008, 3–20

Berufsentscheidungen

Sandra L. Bem und Daryl J. Bem: Does sex-biased job advertising „aid and abet“ sex discrimination? Journal of Applied Social Psychology, 3/1, 1973, 6–18

Emilio J. Castilla und Hye Jin Rho: The gendering of job postings in the online recruitment process. Management Science, 2023, 1–29

Dominik Hetjens und Stefan Hartmann: Effects of gender sensitive language in job listings: A study on real-life user interaction. PLOS One, 19/8, 2024, 1-18

Lisa Horvath u.a.: Does gender-fair language pay off? The social perception of professions from a cross-linguistic perspective. Frontiers in Psychologie, 6, 2018

Dries Vervecken und Bettina Hannover: Yes I can! Effects of gender fair job descriptions on chil-dren‘s perceptions of job status, job difficulty, and vocational self-efficacy. Social Psychology, 46/2, 2015, 76–92

Stereotype

Jan Lenhart und Franziska Heckel: Effects of gender-fair language on the cognitive representation of women in sterotypically masculine occupations and occupational self-efficacy among primary school girls and boys. Sex Roles, 91/6, 2025

Silke Schunack und Anja Binanzer: Revisiting gender-fair language and stereotypes – a comparison of word pairs, capital I forms and the asterisk. Zeitschrift für Sprachwissenschaft, 41/2, 2022, 309–337

Friederike Braun u.a.: Können Geophysiker Frauen sein? Generische Personenbezeichnungen im Deutschen. Zeitschrift für germanistische Linguistik, 26/3, 1998, 265–283

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Weitere Quellen

Hilmar Brohmer u.a.: Effects of the generic masculine and its alternatives in germanophone countries: A multi-lab replication and extension of Stahlberg, Sczesny, and Braun (2001). International Review of Social Psychology, 31/1, 2024, 1–25

Gabriele Diewald und Anja Steinhauer: Richtig gendern. Wie Sie angemessen und verständlich schreiben. Duden 2017

Anita Körner: Wertlose „Psychotests“? Psycholinguistische Experimente zu Geschlechtsassoziationen beim Lesen linguistischer Formen. Linguistischer Berichte, Sonderheft 36, 2025, 177–196

Valerie Michaux u.a.: Mündlich Gendern? Gerne. Aber wie genau? Ergebnisse einer Akzeptanzun-tersuchung zu Formen des Genderns in der Mündlichkeit. Sprachreport, 37/2, 2021, 34–41

Brigitte Scheele und Eva Gauler: Wählen Wissenschaftler ihre Probleme anders aus als WissenschaftlerInnen? Das Genus-Sexus-Problem als paradigmatischer Fall der linguistischen Relativitätsthese. Sprache & Kognition, 12/2, 1993, 59–72

Matthias Schwarzer: Anne Will und der Krieg der Gendersternchen. RedaktionsNetzwerk Deutschland, online 05.06.2020

Forsa-Umfrage: Fast drei Viertel der Deutschen vom Gendern genervt. Spiegel Online, Gesellschaft, online 18.07.2023

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2025: Drüber wegkommen