Lieber krank als geimpft?

Therapiestunde: Frau L. arbeitet als Pflegefachkraft spürt einen „inneren Widerstand“ gegen das Impfen – und sucht Hilfe bei einer Kunsttherapeutin

Die Illustration zeigt eine rothaarige Frau, mit einer dunklen Wolke über dem Kopf, die an einem Tisch sitzt und auf einem Papier Bilder zeichnet
Ist das Nichtimpfen der Versuch einer Selbstbestrafung, um einen Fehler „wiedergut­zumachen“? © Michel Streich

Neben vielen Statusarten wie etwa unserem Familienstand haben wir eine neue Statusart bezüglich unserer Gesundheit hinzubekommen, den Impfstatus gegen Covid-19, das heißt: geimpft, genesen oder ungeimpft. Die Frage nach der Immunität gegen SARS-CoV-2 ist aus unserem Alltag zurzeit nicht wegzudenken.

Ich bin Biologin, Kunsttherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie und aus meiner therapeutischen Grundhaltung heraus bin ich davon überzeugt, dass jeder Mensch seine ­guten Gründe hat, warum er geimpft,…

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überzeugt, dass jeder Mensch seine ­guten Gründe hat, warum er geimpft, genesen oder ungeimpft sein möchte. Deshalb akzeptiere ich jede Entscheidung meiner Klientinnen und Klienten, auch wenn ich mich selbst für den Status „geimpft“ entschieden habe.

In den letzten Monaten traf ich immer wieder auf Menschen, die durch ihren Status „ungeimpft“ eine große Unzufriedenheit erlebten. Ich freute mich sehr, als ich am Ende des vergangenen Jahres den Auftrag einer Klientin bekam, mit ihr genau für dieses Problem eine Lösung zu finden.

Es geht nicht

Frau L. ist Mitte fünfzig, geschieden, ungeimpft und arbeitet seit vielen Jahren sehr gerne als Pflegefachkraft in einer Tagesklinik. Täglich testet sie Patientinnen und Kollegen auf Covid-19 und hatte bis zu diesem Zeitpunkt keine positiven Fälle gesehen. Sie sagt, dass sie lieber an Covid-19 erkranken als die Impfung bekommen möchte. Andererseits sage ihr Verstand, dass es vernünftiger wäre, sich impfen zu lassen. Dem entgegengesetzt spüre sie einen inneren Widerstand, der ihr signalisiere: „Es geht nicht.“

Durch meine frühere Tätigkeit als Biologin im Bereich der Hirnforschung und durch meine Kenntnisse in der Hypnotherapie weiß ich, dass das Es aus einer anderen Bewusstseinsebene kommt, nämlich aus dem Stamm- und Zwischenhirn und nicht aus unserer Großhirnrinde, in der unsere Vernunft entsteht. Ich nenne das Es das kluge Unbewusste, das nicht in Worten denkt, sondern in Bildern fühlt. Es ist mit all unseren Lebenserfahrungen und unbewussten Erinnerungen verknüpft. Als Kunsttherapeutin verfüge ich über wirksames Handwerkszeug, das mit dem Es gut umgehen kann.

Nachdem wir uns zu Beginn unserer Sitzung über das Problemerleben von Frau L. unterhalten haben, lade ich sie ein, ein dreiteiliges Bild zu malen. In der bildenden Kunst nennt man das „Triptychon“, das als Gestaltungform für Altarbilder seinen kunsthistorischen Ursprung hatte. Ich bitte sie, mit dem rechten Bildteil anzufangen und einen Ausdruck für den Soll-Zustand zu finden, mit Farben, Formen und/oder Symbolen, die den Zustand der Zufriedenheit, der Freiheit und der Leichtigkeit visualisieren – Wörter, die für Frau L. im Gespräch über den Soll-Zustand wichtig waren.

Anschließend schlage ich vor, als zweiten Schritt auf der linken Seite den Ist-Zustand zu malen und die Gefühle zu beobachten, die sie dabei empfinde. Der mittlere Teil sollte für die Lösung vorbehalten sein, das heißt, wie Frau L. vom Ist-Zustand in den Soll-Zustand kommen könnte.

Schuld & Verantwortung

Frau L. malt in den rechten Teil sich selbst als eine Gestalt mit einem roten Mund, einem Gehirn darüber, einem roten Herz und einer Sonne auf Bauchhöhe. Sie zeichnet eine verbindende Linie vom Gehirn als denkendem Organ zum Herz und zur Sonne im Bauch. Zudem skizziert sie eine Sprechblase, die für die Wahrheit steht, die sie aussprechen darf, sowie für die wohltuende Erlaubnis, zu den eigenen Gedanken, Gefühlen und Bedürfnissen stehen zu dürfen.

Die Selbst-Gestalt zeigt sich in Schrittstellung, was eine dynamische Bewegung nach vorne in die Zukunft symbolisieren soll. Frau L. bemerkt, dass sich dieser Zustand richtig schön und sehr gut anfühle, und sie wisse, dass sie in diesem Zustand geimpft sei.

Dann bitte ich sie, den Ist-Zustand zu malen. Sie skizziert im oberen Bildteil ein Gehirn in einer Art schwarzer Wolke. Anschließend entstehen eine große Spritze, aus der Tropfen herunterfallen, und im unteren Bildteil viele schwarze Kreuze. Plötzlich hält Frau L. auf eine besondere Weise inne. Während dieses Trancezustandes sagt sie irgendwann: „Ich komme gerade in ein Fühlen von Schuld und davon, Verantwortung übernehmen müssen… Irgendwie geht es bei dieser Sache vielleicht um Schuld und Verantwortung. Das fühlt sich richtig traurig an…“

Wir bleiben ein paar Sekunden in der Stille, und dann sage ich: „Gibt es in Ihrem Leben eine Entscheidung, die Sie getroffen haben und die Sie sich bis heute nicht verzeihen können?“ Daraufhin weint Frau L. sehr lange, und ich weiß, dass gerade der erste wichtige Schritt der Lösung getan ist.

Sich selbst verzeihen

Frau L. antwortet, dass sie sich ihre Scheidung nicht verzeihen könne. Ich frage weiter, ob dieser Zustand, „sich selbst etwas nicht verzeihen zu können“, eine Art Selbstbestrafung nach sich ziehe, in die Richtung, „sich selbst etwas verwehren zu müssen, um diesen Fehler wiedergutzumachen“, wie die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die eigentlich gut für sie wäre. Grenzt sie sich vielleicht mit viel Kraft und Energie von etwas aus als eine Art Lösungsversuch, der bestimmt gut gemeint, aber nicht wirklich hilfreich ist, weil er Leid und Unzufriedenheit mit sich bringt?

Frau L. nickt unter Tränen und sagt irgendwann: „Ja, das stimmt.“

Ich erzähle Frau L. meine Auffassung zum Thema „Fehler machen“ und dass es biologisch sogar notwendig ist, dass Organismen und auch Menschen Fehler machen, um sich weiterentwickeln zu können. Damit möchte ich ihr indirekt die Erlaubnis geben, dass sie den Fehler machen durfte, weiterhin Fehler machen darf, und ihr die Tür zur Selbstverzeihung öffnen.

Ich frage sie, ob ich laut überlegen darf, was denn passieren würde, wenn sie sich selbst verzeihen könnte. „Vielleicht entstehen dann Fähigkeiten wie Selbstwertschätzung, Selbstliebe, Selbstempathie, Vertrauen in sich selbst…, oder diese sind bereits da und werden dadurch wiederbelebt.“ Als unsere Sitzungszeit um ist, möchte Frau L. diese möglichen Fähigkeiten aufgeschrieben mitnehmen und bis zum nächsten Mal auf sich wirken lassen.

Eine Entscheidung

Nach einer Woche bin ich sehr gespannt, was sich in dem mittleren Teil des Triptychons, dem Weg zur Lösung zeigen wird. Trotz Maske erkenne ich bei Frau L. ein Lächeln, worauf sie unsere Sitzung mit dem Satz eröffnet: „Vielen Dank, Frau Heymann – ich bin geimpft.“ Ich freue mich über diese Nachricht und frage dann: „Wie fühlt sich das denn an?“ „Es fühlt sich großartig an!“, sagt sie und lacht herzlich – und weiter: „Ich habe viel mehr Energie und Lebensfreude, denn ich muss mir nicht mehr täglich Gedanken darüber machen, ob ich mich impfen lassen soll oder nicht.“

Ich denke mir: „Es ist also schon passiert.“ Frau L. fügt noch hinzu: „Ich habe diese tiefe Auseinandersetzung mit mir und mit einem verständnisvollen Gegenüber gebraucht. Das hat mir Sicherheit für meine Entscheidung gegeben.“

Frau L. beginnt mit Leichtigkeit und Freude, den mittleren Teil des Triptychons zu malen: eine große farbige ­Blume, die auf dem grünen Boden der Selbstverzeihung wächst und in deren roten und herzförmigen Blütenblättern sich alle wohltuenden und hilfreichen Fähigkeiten entfalten.

Die Blume strahlt gelbe, wärmende Energie nach außen. Grün als Farbe der Selbstverzeihung bleibt als wichtige Farbe mit Alleinstellungsmerkmal in diesem Lösungsteil. Die Farben Rot und Gelb tauchen in dem Soll-Zustand noch mal auf. Mit großer Freude nehme ich Frau L.s Mut und Energie wahr, die sie aufbringen musste und konnte, um diesen heilsamen Veränderungsprozess zu durchlaufen.

Petra Heymann ist promovierte Biologin, Kunsttherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Sie arbeitet in eigener Praxis und in einer psychiatrischen Tagesklinik in Stuttgart sowie als Dozentin an der HfWU Nürtingen im Studiengang Kunsttherapie.

Gibt es Fragen zum Bereich Psychotherapie, die Sie uns gerne stellen möchten? Welche Themen interessieren Sie besonders? Schreiben Sie uns an: psychotherapie@psychologie-heute.de

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2022: Die Zeit, als alles neu war