Herr Chater, Sie sagen, dass wir die vergangenen Jahrzehnte in dem Irrglauben verbracht haben, Wesen mit geistiger Tiefe zu sein. Die Vorstellung einer inneren Welt mit uns unbewussten Gedanken und Gefühlen sei eine Illusion.
Genau, der menschliche Geist ist seicht und allein durch unser unmittelbares bewusstes Erleben definiert. Da tummeln sich keine unbewussten Gedanken und Gefühle unter der Oberfläche, die auf mysteriöse Weise unser Handeln beeinflussen. Genauso wenig werden unsere Beweggründe von…
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die auf mysteriöse Weise unser Handeln beeinflussen. Genauso wenig werden unsere Beweggründe von vorgeformten Werten, Einstellungen oder Vorlieben bestimmt, die als Teil unseres Ichs auf Abruf bereitliegen.
Wovon dann?
Wir erfinden Erklärungen. Wenn mich jemand fragt, warum ich heute Tee statt Kaffee trinke, dann spinnt mir mein Gehirn in diesem Moment eine Antwort zusammen. Meine Erklärung beginnt erst dann zu existieren, wenn ich gefragt werde. Zu einem späteren Zeitpunkt kann sie potenziell ganz anders ausfallen. Unser Gehirn ist so gut darin, die Gründe für unser Verhalten ad hoc zu improvisieren, dass es uns tatsächlich so vorkommt, als könnten wir unsere Motivationen einfach aus einer Art innerer Bibliothek heraussuchen und auslesen. Aber das ist ein Irrtum.
Haben Sie Beweise?
Split-Brain-Patienten etwa. Bei ihnen können sich die beiden Gehirnhälften nicht austauschen. Das Sprachzentrum, das immer nur in einer Hälfte liegt, hat also keine Verbindung zur anderen Hemisphäre. Befragt man diese Patienten zu Aktivitäten, die von der Hemisphäre ohne Sprachzentrum ausgehen, erfindet die sprachfähige andere Hälfte irgendeine Geschichte. Von dem, was tatsächlich passiert ist, hat sie keine Ahnung. Ein anderes Beispiel ist das Phänomen der Wahlblindheit: Um das zu erforschen, zeigten schwedische Wissenschaftler Testpersonen zwei Gesichter und ließen sie das attraktivere auswählen. Dann vertauschten sie die Bilder unauffällig, gaben der Versuchsperson das falsche Bild und forderten sie auf, zu erklären, warum sie dieses Gesicht attraktiver fand. Den meisten Testpersonen fiel nicht auf, dass sie sich gar nicht für dieses Gesicht entschieden hatten, sie begründeten ausführlich die Wahl, die sie nie getroffen hatten.
Klingt, als ob wir verzweifelt einen Sinn in unserem Handeln suchen.
Wir wollen kohärente Wesen sein, können aber einfach nicht nachvollziehen, woher unsere Motivationen kommen. Das Einzige, dessen wir uns je bewusst sind, sind unsere Wahrnehmungen – unser Bewusstsein ist allein durch die Interpretationen unserer Sinneseindrücke definiert. Ich empfinde also etwa einen Gesichtsausdruck als herablassend, bin mir aber nie bewusst, wie ich zu dieser Interpretation gekommen bin. Die einzelnen neuronalen Aktivitäten, die mein Gehirn zu der Erkenntnis geführt haben, sind mir so verborgen wie die Prozesse in meiner Leber.
Also finden doch unbewusste Vorgänge im Gehirn statt?
Natürlich gibt es jede Menge komplizierte Hirnaktivitäten, derer wir uns nicht bewusst sind – in dem Sinne nicht bewusst, wie wir uns der biochemischen Aktivitäten in unseren anderen Organen nicht bewusst sind. Bei diesen unbewussten Vorgängen handelt es sich aber nicht um ein Unbewusstsein, das irgendwann bewusst werden könnte – so wie es etwa Freud proklamiert hat. Wir können nie und nimmer Zugang zu diesen Hirnprozessen bekommen.
Aber es ist doch schon so, dass mir Informationen bewusst werden können, die mir vorher nicht bewusst waren. Ich kann mich zum Beispiel an die Schuldgefühle erinnern, die ich als Kind hatte, weil ich in der Schule besser als meine Schwester war. Und dann könnte ich erkennen, dass meine Angst vor Erfolg vielleicht in diesem Gefühl begründet liegt. Wo war diese Information, solange sie mir nicht bewusst war?
Wenn ich mich an etwas erinnere, hole ich das nicht aus den Tiefen meines Geistes. Stattdessen bestimmen Erinnerungsspuren unsere gegenwärtigen Gedanken und Gefühle – Fragmente von Interpretationen vergangener Ereignisse. Sie sind Teil der uns unbewussten Gehirnprozesse, aber sie als unbewusste Gedanken zu betrachten, wäre falsch. Der bewusste Gedanke und der unbewusste Prozess, der zu diesem Gedanken führt, sind zwei vollkommen verschiedene Stadien des Gedankenprozesses. So ist es ausgeschlossen, dass Gedanken mal das eine und mal das andere sein und zwischen einem bewussten und einem unbewussten Stadium hin und her springen können.
Wenn jemand also etwa während einer Therapie Gefühle entdeckt, über denen vorher ein Deckel gelegen zu haben scheint …
… dann hat er diese Gefühle nicht vorher in eine Welt verdrängt, in der sie weiterexistiert haben. Er hat nicht plötzlich eine Wahrheit wiedergefunden, sondern hat – geleitet von Erinnerungsspuren – seine momentane Sinneserfahrung interpretiert.
Das ist tatsächlich eine ungewöhnliche Sichtweise. Andererseits: In unserer klassischen Interpretation von einer verdrängten inneren Welt wie auch in Ihrer Auffassung bleibt der Moment von der Vergangenheit geprägt. Geht es hier also nur um Begrifflichkeiten? Warum sträuben Sie sich, solche Spuren als unbewusste Tiefe unseres Geistes zu bezeichnen?
Weil diese Vorstellung suggeriert, dass das Unbewusste bewusst werden kann. Wir haben uns in die Idee verliebt, dass es da diese Welt mit Gedanken und Gefühlen in uns gibt, die unabhängig existiert und munter interagiert, während wir gerade mit etwas anderem beschäftigt sind. Freud hat uns diesen Mythos eingebrockt. Es gibt aber keine Gedanken und Gefühle, derer wir uns nicht bewusst sind. Das Einzige, was je im Gehirn verarbeitet wird und uns bewusst werden kann, sind die Informationen des Moments, eine nach der anderen. Alle Hirnprozesse, die diese Momentinterpretation beeinflussen, sind nicht bewusstseinsfähig.
Wie erklären Sie dann Situationen, in denen uns plötzlich Lösungen zu Problemen einfallen, an die wir gar nicht mehr gedacht haben?
Es ist natürlich verlockend zu denken, dass ohne unser bewusstes Zutun Probleme gelöst werden, zumal es dafür gefühlte Anhaltspunkte gibt. Allerdings konnte die Forschung bisher noch keine Beweise für solche unbewussten Gedankenprozesse finden. Die sinnvollere Annahme ist, dass wir nach einer Pause mit einem klaren Geist an unser altes Problem herangehen, gereinigt von all den Teillösungen, die uns vorher in Sackgassen geführt haben.
Woher wissen Sie das?
Meine Kollegen und ich haben untersucht, ob parallel zum bewussten Nachdenken unbewusste Gedankenprozesse stattfinden können. Wir baten Testpersonen, so viele Nahrungsmittel und Länder wie möglich aufzuzählen. Andere Versuchspersonen sollten nacheinander erst nur Länder oder nur Nahrungsmittel aufzählen. Und es war nicht so, dass die, die beide Instruktionen zum selben Zeitpunkt bekommen hatten, schneller waren, weil sie bewusst über die eine und zugleich unbewusst über die andere Sache hätten nachdenken können. Unser Gehirn ist nicht fähig, nach Ländern zu suchen, während wir über Nahrungsmittel nachdenken. Es ist einfach nicht möglich, an mehr als einer Sache mental zu arbeiten.
Langsam bekomme ich Angst um meine Identität. Wer bin ich, wenn ich immer nur im Moment bin und alles, was ich erinnere und denke, nur Fantasieprodukte meines Gehirns sind?
Unsere Persönlichkeit bekommt Kohärenz, weil jede Interpretation einer Wahrnehmung auf Erinnerungsspuren vergangener Interpretationen basiert. Und jede neue Erfahrung beeinflusst die Interpretation der nächsten. So erschaffen wir eine persönliche Tradition, auf deren Grundlage wir improvisieren. Wie ein Jazzmusiker: Der hat ein Arsenal an verschiedenen Schnipseln und Phrasen, die er auf unterschiedliche Weisen zusammenfügt. Je mehr Erfahrung er hat, umso flexibler wird er und umso größer wird sein Repertoire an Phrasen. Er spielt nicht einfach ins Blaue hinein, und sicher denkt er auch nicht über Theorie und Geschichte des Jazz nach. Alles, was er braucht, ist sein Repertoire, das er sich im Laufe seines Spiels aufgebaut hat. Mit dieser Analogie wird vielleicht klarer, warum wir auch ohne ein reges unbewusstes inneres Leben einen mehr oder weniger stabilen Charakter haben können. Oder sprechen wir lieber von einem Stil, so wie ihn Musiker haben: Wir agieren unter dem Einfluss der Erfahrungen, die wir gesammelt haben.
In Ordnung, es gibt also schon eine gewisse Konstanz. Sie verstehen unter Unbewusstem eben einfach etwas anderes als Freud. Sie sagen, ich habe nur keinen Zugriff darauf. Irgendwie hat das auch etwas Befreiendes: Ich muss keine Wahrheit und keinen Schlüssel zum Verständnis meiner selbst suchen, denn da ist nichts zu finden. Ich brauche mich nicht zu fragen, warum ich fühle, wie ich fühle oder ob ich nicht eigentlich tief drinnen etwas anderes fühle. Nur zum Moment habe ich Zugriff.
Das ist in der Tat radikal erlösend. Die ewige Suche nach uns selbst und unserer Wahrheit steht uns oft im Weg – wenn jemand etwa versucht, erst herauszufinden, warum seine Beziehungen immer scheitern, bevor er sich erlaubt, eine neue einzugehen. Zu denken, dass wir uns erst verstehen und reparieren sollten, bevor wir weiterleben, ist ein fundamentaler Fehler. Unser Ich existiert nur in unseren momentanen bewussten Erfahrungen.
Hat Psychotherapie einen Wert für Sie, auch ohne dass Sie an eine versteckte emotionale Welt glauben?
Wer eine Therapie mit dem Ziel beginnt, der Sache mit sich selbst auf den Grund zu gehen, begibt sich auf eine hoffnungs- und sinnlose Suche. Denn es gibt zwar Spuren aus der Vergangenheit, aber die können wir höchstens mit neuem Verhalten überschreiben. Über Erinnerungen und Gedanken kommen wir an die nicht ran. Wir sind kein Kreuzworträtsel, das sich lösen lässt. Aber natürlich kann Therapie uns helfen, in zukünftigen Situationen besser zu improvisieren und etwa bestimmte Verhaltens- und Denkmuster, die uns das Leben schwermachen, nach und nach abzuschwächen. Um noch einmal die Analogie zum Jazzmusiker zu bemühen: Wenn der sein Spiel verbessern will, guckt er nicht in seine Vergangenheit und zerbricht sich den Kopf darüber, dass er sich im Alter von acht Jahren dieses eine schreckliche Stilelement von einem Rocker abgeguckt und es über die Jahre in sein Spiel verschleppt hat. Nein, er fragt sich, was er besser machen will, übt und legt positive Spuren für die Zukunft an. Gerade weil unser Geist so seicht ist und wir nicht aus mysteriösen Tiefen heraus gesteuert werden, haben wir beste Voraussetzungen, uns unaufhörlich neu zu interpretieren und zu verändern. Außerdem können wir uns in dem Wissen, dass unser Gehirn von Moment zu Moment improvisiert, jeder Menge unangenehmer Gefühle entledigen.
Inwiefern?
Wir fühlen oft auf eine Weise, denken aber, dass wir anders fühlen sollten, und verurteilen uns dafür. Trauer ist ein gutes Beispiel: Menschen, die jemanden verloren haben, fühlen sich oft schuldig, wenn sie zwischendurch mal eine glückliche Stunde oder einen guten Tag haben. Dabei ist das normal, denn das Gehirn kann ja immer nur ein Gefühl zulassen. Außerdem können wir schlicht nichts dafür, was es sich gerade zusammenspinnt. Eine andere Frage, die viele Leute umtreibt, ist die, was denn eigentlich ihr authentisches und wahres Gefühl ist. Oft fühlen wir mal so, mal so. Im einen Moment sind wir sicher, dass wir unseren Partner lieben, und im nächsten Moment fragen wir uns, ob wir uns mit diesem Gefühl etwas vormachen und nur aus Bequemlichkeit zusammen sind. Dann denken wir, dass sich das echte Gefühl irgendwo tief in uns drin befindet und wir es finden müssen, um ein authentisches Leben zu führen. Das ist unnötige Plagerei: Es gibt keine Unterscheidung zwischen einerseits tiefen und wahren, andererseits oberflächlichen, falschen Emotionen. Es gibt nur die Gefühle, die wir im Moment wahrnehmen.
Die hier angesprochenen Thesen vertritt Chater in seinem aktuellen Buch The mind is flat. The illusion of mental depth and the improvised mind. (Penguin Books 2018)
Nick Chater ist Professor für Verhaltenswissenschaften an der Warwick Business School in England. Der Psychologe forscht unter anderem zur Entscheidungsfindung und berät die britische Regierung bei der Umsetzung von Nudging