Als Gestalttherapeut, Zenmönch und Ausbilder für Gestalttherapeutinnen und -therapeuten begleite ich Klienten und Klientinnen in einer weitgehend deutungsfreien, phänomenologisch-forschenden Ich-du-Begegnung. Dabei ist die Förderung von Gewahrsein für die Phänomene des Erlebens im Hier und Jetzt von zentraler Bedeutung: Gedanken, Bilder, Gefühle, Impulse, Körperempfindungen und Wahrnehmungsvorgänge. Es berührt mich immer wieder zutiefst, wenn Veränderung entsteht, die sich als Momente eines plötzlichen…
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Es berührt mich immer wieder zutiefst, wenn Veränderung entsteht, die sich als Momente eines plötzlichen Aufwachens aus einem teilweise jahrzehntelangen Funktionieren oder Leiden im unbewussten Autopiloten zeigt. Ein Beispiel für eine solche Veränderung ist die Begegnung mit Marcel*.
„Alle um mich herum sind so unfähig“
Marcel hat bereits erste Erfahrungen mit der Übung von Achtsamkeit. Er betritt mit entschlossenem und lautem Schritt den Sitzungsraum. Dabei wirkt er selbstbewusst und verzweifelt zugleich.
Therapeut: „Wie möchtest du die Zeit heute nutzen?“
Marcel: „Meine Frau sagt, ich soll endlich mal etwas tun, um mein ständiges Klagen und meine Wut in den Griff zu bekommen.“
Therapeut: „Worüber bist du so wütend?“
Marcel: „Also, ich verstehe wirklich nicht, warum alle um mich herum so unfähig sind. Egal ob bei der Arbeit oder in meiner Beziehung, es scheint, als ob ich ständig von Idioten umgeben bin, die nicht auf meinem Niveau sind. Ich habe das Gefühl, dass niemand wirklich versteht, wie gut ich eigentlich bin, und das frustriert mich unglaublich. Selbst meine Frau fängt an, mich zu kritisieren. Sie sollte sich glücklich schätzen, mit jemandem wie mir zusammen zu sein, aber stattdessen meckert sie ständig an mir herum. Ich komme hierher, weil ich denke, dass ich einen Weg finden muss, wie ich mit der Schwäche der anderen besser umgehen kann. Es ist, als ob sie mich alle runterziehen.“
Harte Worte, große Erleichterung
Ich bin erschrocken über seine Worte, werde selbst etwas ängstlich und in mir steigt leichter Ärger auf. Ich nehme diese Phänomene wahr und bleibe offen und interessiert:
Therapeut: „Was geschieht jetzt, wo du das ausgesprochen hast?“
Marcel: „Es tut gut, die Wahrheit zu sagen, auch wenn es vielleicht hart klingt. Ich bin es einfach leid, mich mit Leuten abzugeben, die nicht auf meinem Level sind. Vielleicht verstehen sie es endlich mal, wenn ich es klar ausdrücke. Aber gleichzeitig macht es mich wütend, dass ich überhaupt in diese Situation komme. Warum muss ich mich mit diesen ganzen Problemen rumschlagen?“
Therapeut: „Es klingt, als ob es eine Erleichterung für dich ist, das in Worte zu fassen und klar auszudrücken, wie du die Situation siehst.“
Marcel: „Ja, das ist es wirklich. Endlich mal jemand, der nicht gleich dagegenhält oder versucht, mich umzudrehen. Es ist einfach frustrierend, immer die Kontrolle behalten zu müssen, weil keiner sonst in der Lage ist, die Dinge richtig zu machen.“
Angst vor Kontrollverlust
Ich freue mich, dass Marcel anscheinend eine neue Erfahrung macht, er darf sein, wie er gerade ist. Ich sehe ein Bild vor mir, wie er ängstlich am Schreibtisch sitzt und fürchtet, die Kontrolle zu verlieren.
Therapeut: „Gibt es eine aktuelle Situation, in der dieses Gefühl besonders stark auftritt?“
Marcel: „Ja, genau das ist so. Es ist bei der Arbeit. Ich bin in einem Team, aber es fühlt sich an, als ob ich der Einzige bin, der wirklich Ahnung hat und die Dinge voranbringt. Wenn ich nicht ständig die Kontrolle hätte und alles überwachen würde, würde das ganze Projekt den Bach runtergehen. Aber statt dass die Leute das anerkennen, habe ich das Gefühl, dass sie mich eher ausbremsen und dann noch hinter meinem Rücken über mich reden. Das macht mich wahnsinnig wütend, aber ich kann es mir auch nicht leisten, die Kontrolle loszulassen. Sonst würde alles zusammenbrechen.“
Da er erneut über Kontrollverlust spricht, entscheide ich mich dafür, ihn auf mögliche Ängste anzusprechen.
Therapeut: „Ich stelle mir vor, dass unter der Wut, die du empfindest, auch Angst steckt. Ist dem so?“
Marcel: „Ja, das stimmt, da ist schon eine Menge Angst dabei. Es ist diese ständige Vorstellung, dass, wenn ich nicht alles im Griff habe, alles schiefgehen wird. Ich sehe regelrecht vor mir, wie das Projekt scheitert und ich dann für alles verantwortlich gemacht werde. Diese Vorstellung verfolgt mich, besonders abends, wenn ich versuche, zur Ruhe zu kommen. Da habe ich das Gefühl, dass ich nicht abschalten kann, weil ich immer denke, dass alles zusammenbrechen könnte, wenn ich nicht aufpasse.“
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Therapeut: „Ich kann mir gut vorstellen, wie sich das anfühlt. Kannst du diese Vorstellung in dir noch etwas genauer beschreiben?“
Marcel: „Ich sehe Bilder vor mir: Etwas geht schief und ich bin schuld, werde verurteilt oder ausgelacht. Es ist, als wäre das etwas Altes.“
Therapeut: „Woran merkst du das?“
Marcel: „Es ist so intensiv und gleichzeitig diffus, vor allem merke ich gerade eine große Aufregung, vielleicht Angst, ich bekomme schwitzige Hände.“
Therapeut: „Wenn du bei diesem Erleben bleibst und keine weitere Anstrengung aufwendest, außer zu schauen, was als Nächstes geschieht im Hier und Jetzt – was nimmst du dann wahr?“
Marcel: „Ich sehe ein Bild von meinem Vater vor mir, wie er mich anschreit, dass ich nicht gut genug war in der Schule. Er sagt: ‚Du Idiot, wie kann man so unfähig und faul sein und so sein Leben vergeuden?‘“
Therapeut: „Und was geschieht jetzt?“
Die Macht des verstorbenen Vaters
Marcel sieht erstaunt aus und wirkt plötzlich sehr wach.
Marcel: „Das ist ja krass. Ich fühle mich wach und sehe mich selbst als kleinen Jungen… Mir wird gerade klar, dass, obwohl mein Vater nicht mehr lebt, er noch viel Macht über mich hat. In meinen Ängsten und Gedanken. Eigentlich schaue ich auch auf die anderen wie er und ich nenne mich selbst manchmal Idiot.“
Therapeut: „Und was geschieht jetzt?“
Marcel: „Ich fühle mich deutlich leichter und klar. Die Angst im Job ist offensichtlich nicht so real, wie sie sich bisher anfühlt. Und auch die Angst vor der eigenen Selbstverurteilung ist letztlich nur die Angst vor Gedanken und Stimmen in meinem Kopf.“
Therapeut: „Und was nimmst du jetzt wahr?“
Marcel: „Ich spüre Erleichterung, aber auch eine leichte Unsicherheit. Es ist, als ob ich mir zum ersten Mal erlaube, diese Vorgänge in mir wirklich wahrzunehmen. Es ist ein ungewohntes Gefühl, aber irgendwie auch befreiend.“
Therapeut: „Es berührt mich, dass du diese Einsichten und Gefühle wahrnehmen konntest. Wie fühlt es sich für dich an, das jetzt so stehenzulassen und zu schauen, was sich im Prozess entwickelt bis zu unserer nächsten Sitzung?“
Marcel: „Es fühlt sich eigentlich ganz gut an. Ich denke, es ist in Ordnung, das jetzt erst mal so stehenzulassen.“
In der nächsten Sitzung berichtet Marcel davon, dass er abends weniger stark über die Probleme des Tages gegrübelt habe. Er beginnt, sich selbst besser anzunehmen, statt sich selbst dafür zu verurteilen, dass er wütend und ängstlich ist. Im Laufe der weiteren Zusammenarbeit hat er eine große Motivation entwickelt, weiter daran zu arbeiten, sich selbst immer besser wahrzunehmen. Seine Haltung anderen gegenüber veränderte sich von Verachtung hin zu authentischem Kontakt, und er fragte andere häufiger nach Unterstützung. Schließlich konnte er seine Fähigkeit, in Worst-Case-Szenarien zu denken, als Kompetenz würdigen lernen und diese in seinem Job anders einbringen. Sein Klagen und Toben zu Hause hörten fast vollständig auf.
Alexander Kopp ist Gestalttherapeut und Zenmönch. Er leitet das Gestalt-Training-Center in Köln und arbeitet mit zahlreichen Gruppen und Einzelklienten in Selbsterfahrungssettings zu den Themen Achtsamkeit und Gestaltberatung
* Persönliche Daten und alle Einzelheiten, die den Patienten erkennbar machen könnten, wurden verändert