„Sich in den Richtigen verlieben“

Liebesbriefe oder -E-Mails schaffen eine intensive Nähe – und ermöglichen gleichzeitig Distanz, sagt Paartherapeut Wolfgang Hantel-Quitmann

Das Herz des Anderen erreichen: Liebesbriefe können am Beginn einer Beziehung stehen – oder sie wiederbeleben. © DEEPOL by plainpicture

Herr Professor Hantel-Quitmann, wir sprechen über die Kraft der Liebesbriefe. Kann man sich schreibend verlieben?

Ja, sicherlich, die Frage ist nur, in wen man sich darin verliebt. Meist verliebt man sich in Liebesbriefen doch nur in das ideale Selbstbild des anderen Menschen. Dann begegnen sich zwei Idealbilder, wenn es bei Briefen bleibt. Diese Ideale müssen einer Realitätsprüfung unterzogen werden durch direkte menschliche Kontakte. Und ob man sich schreibend verlieben kann ist zweitens von der Frage abhängig, wie stark eine Intimität hergestellt wird durch eine gegenseitige persönliche Selbsteröffnung. Darin können nicht nur Ideale, sondern im besten Falle auch Ängste, Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte enthalten sein. Je näher diese Selbstmitteilungen an der eigenen Realität sind, desto ehrlicher und intensiver sind der Austausch und die Möglichkeit, sich in den Richtigen zu verlieben.

Würden Sie sagen, dass diese Bedingungen, die Sie für Liebesbriefe beschreiben, ebenso für die Kommunikation über E-Mail und WhatsApp gelten?

Für E-Mail ja, für WhatsApp nein. E-Mails sind ja elektronische Briefe, bei WhatsApp wird die kurze Selbstmitteilung leicht zur Ironie, zum Witz oder zur kurzen Pointe. Bei Liebesbriefen, also auch in E-Mails, besteht zumindest die Chance, sich selbst mitzuteilen und auch die eigenen Gedanken und Gefühle über diejenigen des anderen zu schreiben.

Sie erzählen in Ihrem Buch von Erfahrungen aus Ihrer therapeutischen Praxis. Unter anderem berichten Sie von Herrn F. und Frau G., die sich zunächst nur schriftlich kennengelernt hatten und dann Schwierigkeiten bekamen, in der Realität Nähe und Distanz auszubalancieren. Können Liebesbriefe ein guter Weg sein für Menschen, die Angst vor Nähe haben?

Ja, aber Liebesbriefe und Gedichte können auch eine Maske sein, hinter der man sich und seine Gefühle versteckt. Bei eigenen Gedichten ist die Maske die Kunst, bei fremden Gedichten ist die Maske der Autor. Man kann sich verstecken hinter „Ich hab‘ ja nur ein Gedicht geschrieben, das ist ja nur Kunst“, oder hinter „Das hat der Autor gesagt, aber nicht ich“. Man kann aber auch Gedichte wählen – eigene oder fremde – die etwas über einen selbst aussagen. Dann wird Intimität hergestellt.

Können Liebesbriefe es nicht im besten Fall auch schaffen, eine intensive Nähe herzustellen?

Das ist möglich, aber es macht große Unterschiede, ob es zu Anfang einer Liebesbeziehung ist, ohne sich persönlich zu kennen, oder ob schon eine langjährige Beziehung besteht. Am Anfang werden leicht nur die eigenen Liebessehnsüchte in eine andere Person projiziert. Wenn beide sich schon länger kennen, stellt sich die Frage, ob die Briefe wirklich authentisch sind und den anderen erreichen. Es ist schwerer, einen guten Liebesbrief nach einer langjährigen Beziehung zu schreiben, als zu Beginn in der Verliebtheit, übrigens eine Parallele zum Sex.

Sie stellen in Ihrem Buch Kafkas Kinder Berichte aus Ihrer therapeutischen Praxis – wie eben jene von Herrn F. und Frau G. – neben Erfahrungen des Schriftstellers Franz Kafka. Sie schreiben, dass seine Liebebriefe eine große „selbstreflexive Intensität“ hätten. Kann man also im Idealfall den anderen schriftlich besser kennenlernen als in einer oberflächlichen mündlichen Begegnung?

Ja, Briefe bieten eine große Chance. Aber es bleibt ein Rest an Unsicherheit, wenn man den anderen Menschen noch nicht persönlich kennt. Kafka konnte oft nicht anders, als auf eine intensive selbstreflexive Weise ehrlich zu schreiben. Dies war Teil seines Strebens nach Wahrheit. Mit sich selbst war er schonungslos selbstkritisch, manchmal zu sehr.

Liebesbriefe und Erotik

Wie beeinflusst es eine Beziehung, wenn sie per Liebesbrief oder per E-Mail beginnt?

Ich denke, das Kommunikationsmittel beeinflusst die Beziehung auf vielerlei Weise. Aber unter den Gesichtspunkten von Nähe und Distanz kann eine mentale oder erotische Nähe entstehen, die in der Realität viel zu viele Ängste auslösen würde. Die Briefe bieten die Möglichkeit, Erotik überhaupt anzusprechen. Ich erlebe es in Paartherapien oft, dass Menschen im direkten Austausch gar keine Worte für Sexualität finden. Daran merkt man, dass sie nicht gewohnt sind, über diese Themen zu sprechen. Das ist trotz aller Aufklärung und Emanzipation immer noch schwierig und schambesetzt.

In der Therapie geht es darum, erst einmal Begrifflichkeiten zu finden und die Dinge beim Namen zu nennen. Und dann über etwas zu sprechen, was bislang unkommuniziert blieb. Das wird häufig verteidigt als romantisches Konzept: Wir lieben uns ganz besonders, weil wir beide erspüren können, wie es dem jeweils anderen geht, und das ist wahre Liebe. Da setzt eine Romantisierung ein, deren Scheitern angesichts der aktuellen Konflikte manchmal sehr deutlich wird.

Und die eigentlich nur die Sprachlosigkeit verbrämt?

Genau.

Beinhaltet es auch Gefahren, wenn eine Beziehung per schriftlicher Liebeskommunikation beginnt? Sie schreiben über Herrn F. und Frau G.: „Damit war die Schreibphase beendet und es begann eine Realität, die beide heute noch nicht richtig einordnen können.“

Die Gefahr ist nur die Wirklichkeit. Je romantischer die Liebeskommunikation, also je mehr sie dem Alltäglichen einen Glanz verleiht, desto schöner fühlt sie sich an und desto trügerischer kann sie sein, weil sie etwas maskiert, was nicht gesehen werden soll. Dann hält man im Grunde nur an seinen eigenen Liebessehnsüchten fest und sagt: „Ich will so geliebt werden, wie ich bin.“ Das ist die frühkindliche, existenzielle Spiegelung der Mutter: „Du bist, so wie du bist, das wunderbarste und schönste Kind der Welt.“ Diese frühe existenzielle Spiegelung suchen viele Menschen, sind verfangen darin und müssen erst einmal den Schritt gehen, ihre Liebeskonzepte an der Realität zu überprüfen. Vor allem die eigenen.

Können Liebesbriefe einen davon abhalten, den Mut zu echter Nähe zu finden? Sie zitieren Kafka: „Wie lebe ich denn in Prag! Dieses Verlangen nach Menschen, das ich habe und das sich in Angst verwandelt, wenn es erfüllt wird.“

Ja. Beinahe die gesamte Korrespondenz Kafkas mit seiner Verlobten Felice Bauer kann als Beispiel dafür angesehen werden. Hätte er ihr nicht hunderte Briefe schreiben können und damit sein eigenes Idealbild von ihr auffrischen, dann hätte er sich anders mit seinen Ängsten auseinandersetzen müssen. Und wir hätten bei seinem Erfolg auf einen großen Literaten verzichten müssen. Für das Nähe-Distanz-Thema gibt es kaum ein besseres literarisches Beispiel als den Scheinriesen Herrn Tur Tur in Michael Endes Buch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Aus der Distanz wirkt er riesig und unnahbar, je näher man ihm kommt, desto kleiner wird er.

Welche Funktionen können Liebesbriefe auch in einer langjährigen Paarbeziehung haben?

Gut geeignet sind sie für Menschen, die diese Kommunikation lieben, für affektgesteuerte Menschen, die immer gleich an die Decke gehen, und für solche, die in der direkten Kommunikation Ängste haben. Briefe können ein Weg sein, wenn andere Versuche gescheitert sind oder wenn der Zugang zueinander blockiert zu sein scheint. Doch die Anforderungen an solche späteren Briefe sind höher als an jene zu Beginn einer Liebe: Sie müssen authentisch sein, weil man sich sehr gut kennt. Und man muss zeigen, dass man die Partnerin oder den Partner versteht, und sollte nicht nur von den eigenen Gefühlen sprechen.

Der Erfolg von Liebesbriefen mit dem Ziel der Revitalisierung einer langjährigen Beziehung hat eine Reihe von Voraussetzungen: Der Brief muss authentisch sein und nicht taktisch, nur dann kann er gewürdigt werden und zu ernsthaften Veränderungen führen. Er kann an gemeinsame Erlebnisse und Erinnerungen, durchaus auch metaphorisch und symbolisch, anknüpfen; und er sollte mentalisierend geschrieben sein: Man sollte sich also nicht nur selbst rechtfertigen, sondern die Gedanken und Gefühle des anderen einbeziehen und wertschätzen.

Wie können auch die alten Liebesbriefe – neu gelesen – in einer Paarbeziehung wirken?

Sehr revitalisierend und sehr destruktiv – der Gradmesser ist die aktuelle Realität. Bei aktuell starken negativen Gefühlen können sie relativieren und den Tunnelblick erweitern. Aber sie können auch als Beleg herhalten für eine jahrelange Täuschung und zu Verbitterung führen. Ihre Möglichkeiten ergeben sich immer im Kontext der Beziehung und der aktuellen Konflikte. Und Liebesbriefe sollten keinesfalls taktisch eingesetzt werden, weil man meint, damit die verlorengegangene Romantik in der Beziehung reanimieren zu können.

Eine letzte Frage zu Ihrem Buch: Wie kamen Sie auf die Idee, darin Ihre eigenen psychologischen Erfahrungen mit Kafkas Wirken zu verknüpfen?

Kafka war für mich schon immer ein faszinierender Mensch und Literat, der natürlich von ganz vielen interpretiert wurde. Aber ich habe ihn immer auf eine ganz bestimmte Weise verstanden, nämlich als einen Vertreter der Menschenrechte. Er konfrontiert uns in seinen Schriften mit der Opferperspektive. Das Düstere, Depressive, Suizidale an ihm, das existiert auch, aber ich glaube, es ist falsch, ihn nur aus dieser Perspektive zu verstehen. Kafka ist immer noch der meistgelesene Autor deutscher Sprache, er muss also etwas ganz fundamental-Existenzielles in seinen Schriften thematisieren, das immer noch aktuell ist. Kafka hat mit grundsätzlichen existenziellen Themen als Mensch unglaublich gerungen. Dieses Existenzielle hat mich immer interessiert. Weil ich in meinen Paar- und Familientherapien immer wieder erlebe, dass existenzielle Dimensionen berührt werden und ja, dass es da eine ganz wichtige Verbindung zu Kafka gibt. Diese Verbindung wollte ich herstellen und so kam ich auf Kafkas Kinder.

Wolfgang Hantel-Quitmann ist Professor (em.) für Klinische- und Familien-Psychologie und Paartherapeut. Sein jüngstes Buch Kafkas Kinder. Das Existenzielle in menschlichen Beziehungen verstehen ist bei Klett-Cotta erschienen

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 8/2021: Sich wieder nah sein
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