Nach unseren kurzen Flitterwochen verabschiede ich mich auf dem Flughafen im Transitbereich von meinem Mann. Er fliegt wieder zu seinem Job im Nahen Osten, ich in unsere Wahlheimat Namibia. Die Hochzeit haben wir mit Freunden und Familie gefeiert und anschließend noch seine Großmutter besucht: so viel Liebe, so viel Nähe, alles gebündelt in weniger als einer Woche.
Ein paar Tage später sitze ich allein zu Hause in Windhoek, als mein Mann mich anruft. „Granny ist gestorben“, sagt er. Ich muss schlucken, aber…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
zu Hause in Windhoek, als mein Mann mich anruft. „Granny ist gestorben“, sagt er. Ich muss schlucken, aber reiße mich zusammen. Ich will für meinen Mann da sein, wenigstens mit Worten. Es tut mir weh, ihn jetzt nicht in den Arm nehmen zu können. Seit fast vier Jahren führen wir eine Fernbeziehung, nicht selten liegen ganze Kontinente zwischen uns. Doch noch nie ist mir die Distanz so schmerzlich bewusst geworden wie in diesem Moment.
Mindestens jedes siebte Paar in Deutschland führt eine Fernbeziehung, schätzen Experten. Laut der ElitePartner-Studie 2019 hat sogar fast jeder Zweite bereits Erfahrungen mit der Liebe auf Distanz gemacht. Digitale Vernetzung und wachsende Mobilität bringen Menschen zusammen, die sich früher vielleicht nie begegnet wären. „Fernbeziehungen sind längst keine Frage der Bildung oder des Alters mehr – das Modell zieht sich durch alle Milieus“, sagt der Paartherapeut und Theologe Peter Wendl von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, der seit mehr als zwanzig Jahren am Zentralinstitut für Ehe und Familie zu dem Thema forscht.
Spagat zwischen Einsamkeit und Nähe
Wendl weiß auch aus eigener Erfahrung, was für eine Zerreißprobe Fernbeziehungen sein können. Er kennt den ständigen Spagat zwischen Phasen der Trennung und der Nähe. In der Zeit, in der man allein ist, leidet man mitunter an Sehnsucht, Einsamkeit, fehlender Intimität oder Eifersucht. Wenn man dann zusammen ist, können Entfremdung und Überforderung aufkommen. Trotzdem kommt in Wendls Büchern wohl kein Wort so oft vor wie „Chance“. Er ist überzeugt: „Fernbeziehungen bedeuten ständige Arbeit. Aber gerade das macht sie so lebendig.“
Die Forschung zeichnet ein gemischtes Bild. Einerseits deuten Studien darauf hin, dass das Leben an verschiedenen Orten mit mehr Einsamkeit verbunden sein kann. Zu diesem Ergebnis kam beispielsweise ein US-amerikanisches Forschungsteam 2017, das Fernbeziehungen bei Studien-anfängern untersuchte. Aus ihren Tagebüchern ging hervor, dass sie seltener an Campusaktivitäten teilnahmen als andere Studierende. Außerdem berichteten sie seltener über positive Emotionen auf dem Campus und fühlten sich dort häufiger einsam.
Sich bewusst um emotionale Nähe bemühen
Andererseits zeigen Studien, dass Distanz die Beziehungsqualität sogar steigern kann. Das klingt zunächst paradox, hat aber einen einfachen Grund: Paare, die entfernt voneinander leben, müssen sich im Alltag bewusst um emotionale Nähe bemühen. Der Schlüssel liegt in der Kommunikation. „Die Partner müssen Wege finden, sich über die Distanz mit Worten zu umarmen“, sagt der Berliner Psychotherapeut Wolfgang Krüger. Er rät Paaren, sich wie frisch Verliebte auszutauschen: leidenschaftlich, charmant, gefühlvoll.
Dabei helfen gemeinsame Rituale. Mein Mann und ich haben eine ganze Reihe davon. Die meisten klingen, als wären wir Teenager: Wenn wir getrennt sind, schicken wir uns „Guten Morgen“ und „Gute Nacht“, gefolgt von einer Reihe von Emoticons, deren Bedeutung nur wir verstehen. Für uns ist dieser Geheimcode wie eine Versicherung: Wir sind hunderte von Kilometern voneinander entfernt, aber immer noch Verbündete. Dazu kommen unser täglicher Anruf bei Sonnenuntergang und Nachrichten zwischendurch – Bilder vom Essen, vom Kaffee, alberne Memes, die uns an gemeinsame Momente erinnern. Ich hänge am Handy wie ein Intensivpatient am Tropf. Der ständige Austausch hält unsere Beziehung am Leben.
„Es ist ein Leben im permanenten Ausnahmezustand“, sagt Lena Aue, die eigentlich anders heißt. Sie wohnt im Süden Deutschlands, ihr Partner im Norden, jedes zweite Wochenende sehen sie sich. Anfangs kam sie gut damit zurecht: Es tat ihr gut, nach vielen Jahren in einer Ehe endlich genügend Zeit für sich allein zu haben. Etwa ein Jahr ging das so. Inzwischen kann sie dem Getrenntsein keinen einzigen positiven Aspekt mehr abgewinnen.
Ohne gemeinsamen Alltag
„Manchmal komme ich abends in meine leere Wohnung und frage mich: Was machen wir hier eigentlich?“ Aue ist es wichtig, gerade den ganz normalen Alltag gemeinsam zu verbringen. Ihr Partner und sie planen deswegen, möglichst bald zusammenzuziehen. Doch noch sind sie durch Arbeit, Familie und Freunde an ihren Wohnort gebunden. „Ich weiß, dass sich in meinem Leben etwas ändern muss“, sagt Aue. „Ich weiß nur noch nicht, wann und wie.“
Für die meisten Paare seien Fernbeziehungen nur eine vorübergehende Notlösung, sagt Paartherapeut Krüger. Oft kämen sie etwa zwei Jahre gut damit klar. „Dann schaut man, dass man doch zusammenzieht. Oder die Beziehung geht auseinander.“ Bleibt die Frage: Wie können Paare eine Fernbeziehung nicht nur überstehen, sondern im besten Fall sogar davon profitieren?
Wendl hat vier Spielregeln für eine erfüllte Fernbeziehung definiert. Nummer eins: Die Paare müssen offen klären, warum sie eine Fernbeziehung führen. Was ist die Motivation, der größere Sinn dahinter? Geht es zum Beispiel darum, im Ausland mehr Geld zu verdienen und damit die Basis für eine bessere gemeinsame Zukunft zu schaffen? Oder geht es eher um die persönlichen Ziele von einem der beiden, wie Selbstverwirklichung, Karriere oder Abenteuer? „Die Vorteile müssen die Nachteile auf Dauer für beide Partner mindestens ausgleichen.“
Fernbeziehung bis der Tod uns scheidet
Wenn die Frage nach dem Warum geklärt ist, folgt das Wann. „Paare brauchen einen Plan und eine Perspektive“, erklärt Wendl. Kurzfristig: Wann sehen wir uns wieder? Mittelfristig: Wann können wir unseren gewohnten Rhythmus unterbrechen und Kraft tanken, etwa durch einen gemeinsamen Urlaub? Und schließlich die entscheidende, langfristige Perspektive: Wie lange wollen und können wir getrennt leben? Allerdings brauchen nicht alle Fernbeziehungen einen Endpunkt. Für einige Paare ist die Antwort auf das Wann: Vielleicht für immer.
Als Lisa Wittmann (Name geändert) und ihr Mann heirateten, war es keine Frage: Selbstverständlich würde jeder der beiden jeweils in seiner Stadt wohnen bleiben. Über zwanzig Jahre lebte das Paar hunderte Kilometer auseinander. Nur jedes zweite Wochenende pendelte einer von ihnen. „Wir sind beide gut mit diesem Modell des Zusammenseins zurechtgekommen“, sagt Wittmann. Die Distanz habe sie nie als Verzicht empfunden, im Gegenteil: „Wir hatten beide unsere Freiräume. Er hat mit Freunden Musik gemacht, ich war in meiner Stadt mit Arbeit und Freundinnen beschäftigt. Wenn wir uns dann gesehen haben, haben wir die Zeit umso intensiver miteinander verbracht.“ Dass ihr Mann vor kurzem doch zu ihr gezogen ist, hatte vor allem pragmatische Gründe. Nicht ausgeschlossen, sagt sie, dass sie beide irgendwann wieder zum living apart together zurückkehren – also der bewussten Entscheidung für getrennte Haushalte.
Was Wittmann beschreibt, bestätigt Wendls dritte Regel: Jeder Partner muss für sich einen erfüllten Alltag schaffen. „Wer nur auf den anderen wartet, wird scheitern“, sagt der Paartherapeut. Wenn ein Partner eine höhere „Erlebnisdichte“ hat, also mehr neue und bedeutsame Erfahrungen macht als der andere, werde es schwierig.
Sie zählten die Tage – und waren dann ernüchtert
Wie belastend ein solches Ungleichgewicht sein kann, haben auch mein Mann und ich vor ein paar Jahren erlebt. Er hatte einen neuen Job und war die ganze Woche unterwegs, so dass wir uns nur noch an den Wochenenden sahen. Unter der Woche zählten wir die Tage. Doch als es dann endlich so weit war, wich die Begeisterung über das Wiedersehen schnell der Ernüchterung. Er wollte sich ausruhen, ich wollte raus aus der Wohnung und endlich etwas erleben. Wir taten weder das eine noch das andere. Stattdessen verschwendeten wir unsere knappe Zeit damit zu streiten.
Lange Zeit dachte ich, das Schwierige an einer Fernbeziehung sei nur das Getrenntsein. Doch beides ist eine Herausforderung – die Distanz ebenso wie die plötzliche Nähe. Denn wer eine Fernbeziehung führt, stellt sich auf das Leben allein ein. „Wenn ich plötzlich wieder jede Minute mit dem anderen verbringe, ist das am Anfang eine totale Überforderung“, sagt Psychotherapeut Krüger.
Der Beziehungs-Jetlag
Die Psychologin Danielle Weber und ihr Forschungsteam nennen dieses Phänomen Beziehungs-Jetlag: So wie man sich bei einer Fernreise an eine andere Zeitzone gewöhnen muss, muss man sich nach Wiedersehen und Abschied auf die neue Beziehungssituation umstellen. Einen typischen Beziehungs-Jetlag erlebt man beispielsweise, wenn man sich in Gegenwart des anderen so verhält, als sei man noch allein.
Eine weitere große Herausforderung in jeder Fernbeziehung: der nahende Abschied. „In dieser Zeit findet so etwas wie eine vorweggenommene Trennungsverarbeitung statt“, schreibt Wendl –„prospektive Trauer“. Manche Partner distanzieren sich, andere werden anhänglich, wieder andere leugnen die bevorstehende Trennung. Der Paartherapeut rät, für die emotionalen Übergangsphasen genügend Zeit zum Nichtstun einzuplanen, geduldig zu sein – und sich vom Anspruch auf Harmonie zu verabschieden. „Es hilft, sich vor Augen zu halten, dass sich auch Paare in Nahbeziehungen streiten“, sagt er. „Der Zeitpunkt ist nur weniger vorhersehbar.“
Für meinen Mann und mich folgt auf unsere Hochzeit eine Zeit, in der wir uns zweieinhalb Monate nicht sehen. Diesmal ist die getrennte Phase anders als sonst. Anfangs verdränge ich das Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann. Dabei hilft mir seit über drei Jahren mein streng getakteter Tagesplan. Arbeit, Sport, Kontakt zu meinen Freunden und – über den Bildschirm – zu meinem Mann. Doch das nagende Gefühl bleibt.
Es dauert Wochen, bis ich mir endlich eingestehe, dass sich meine Prioritäten gewandelt haben. Von dem Wunsch nach Unabhängigkeit ist kaum noch etwas übrig. An seine Stelle ist eine neue Sehnsucht getreten: nach Familie, Gemeinschaft, Nähe in jeglicher Hinsicht. Ich denke an den letzten Satz aus dem Film Into the Wild: “Happiness is only real when shared” – Glück ist nur echt, wenn man es teilt. Sollten wir nicht jede nur mögliche Sekunde mit den Menschen verbringen, die wir lieben?
Fernbeziehung als „Trainingslager für die Liebe“
„Die Fernbeziehung muss zur jeweiligen Lebensphase der Partner passen“, erläutert Wendl seine vierte Spielregel. Was zum Beispiel für ein junges Paar zu Beginn des Studiums oder des Berufslebens funktionieren kann, ist für ein Paar mit Kinderwunsch kaum noch tragbar. „In Fernbeziehungen gibt es immer zwei Realitäten“, sagt Wendl. Wenn bei einem Partner die Sehnsucht nach mehr Nähe aufkeimt, sei es an der Zeit, einen Kompromiss zu finden.
Es folgen viele Gespräche mit meinem Mann. Wir legen die Karten offen auf den Tisch, was wir uns wünschen und wann. Am Ende haben wir einen Plan: Lange Trennungsphasen wird es nicht mehr geben. Stattdessen wollen wir von nun an zumindest an den Wochenenden zusammenkommen, bis wir eine bessere Lösung finden.
Wendl bezeichnet Fernbeziehungen gerne als „Trainingslager für die Liebe“. Auch ich glaube, dass die Distanz uns als Paar stärker gemacht hat. Es ist, als würden wir gemeinsam einen Marathon laufen. Oft scheint die Strecke unerträglich lang. Aber dann erinnern wir uns an das Ziel vor Augen – und überraschen uns selbst mit unserem Durchhaltevermögen. „Viele Paare, die in der Vergangenheit eine Fernbeziehung geführt haben, berichten, dass sie stolz auf die gemeisterte Beziehungsphase zurückblicken“, sagt die Psychologin und Paartherapeutin Sarah Willeke. Dieser Erfolg könne sich auch im Nachhinein noch bestätigend auf die Beziehung auswirken. Was bleibt, ist das Gefühl: Wenn wir das geschafft haben, dann können wir auch die nächsten Krisen überstehen.
Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Wir freuen uns über Ihr Feedback! Haben Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Beitrag oder möchten Sie uns eine allgemeine Rückmeldung zu unserem Magazin geben? Dann schreiben Sie uns gerne eine Mail (an: redaktion@psychologie-heute.de).
Wir lesen jede Nachricht, bitten aber um Verständnis, dass wir nicht alle Zuschriften beantworten können.
Quellen
Peter Wendl: Gelingende Fern-Beziehung. Entfernt – zusammen – wachsen. Herder 2019 (9. Auflage)
Peter Wendl: Soldat im Einsatz – Partnerschaft im Einsatz. Praxis- und Arbeitsbuch für Paare und Familien in Auslandeinsatz und Wochenendbeziehung. Herder 2019 (9. Auflage)
Wolfgang Krüger: Nähe und Autonomie in der Liebe. Books on Demand 2020
Wieland Stolzenburg: Glücklich in der Fernbeziehung. 103 Fragen für Paare, die helfen, Nähe, Vertrauen und Liebe in der Fernbeziehung zu bewahren. Selbstverlag 2020