Die meisten Menschen hassen es alleinzusein.
Vor einigen Jahren untersuchten Forscherinnen und Forscher der University of Virginia, wie Menschen reagieren, wenn sie Zeit allein verbringen. In einer Reihe psychologischer Experimente wurden Collegestudierende angewiesen, 15 Minuten lang in einem Raum mit geschlossener Tür zu sitzen – „allein mit Ihren Gedanken“. Anschließend füllten sie eine Reihe von Fragebögen aus, in denen sie beantworten mussten, wie sie sich während des Alleinseins gefühlt hatten. In…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
Fragebögen aus, in denen sie beantworten mussten, wie sie sich während des Alleinseins gefühlt hatten. In einigen Fällen hatten die Testpersonen die Zeit in einem Laborraum verbracht, in anderen Fällen das Experiment zu Hause durchgeführt. Aber unabhängig vom Ort berichteten sie hinterher, dass sie die Erfahrung, mit ihren Gedanken allein zu sein, nicht gemocht hätten, dass es ihnen schwergefallen sei, sich zu konzentrieren, und dass sie sich ziemlich gelangweilt hätten.
Von denen, die von zu Hause aus teilgenommen hatten, gab etwa ein Drittel zu, geschummelt zu haben. Sie hatten nicht die volle Viertelstunde durchgehalten. Erstaunlicherweise hatte die Mehrheit derjenigen, die im Labor saßen, eine so große Abneigung gegen die Erfahrung, dass sie lieber das Angebot annahmen, sich selbst schmerzhafte Elektroschocks zu verabreichen, als allein mit ihren Gedanken auf einem Stuhl zu sitzen.
Alleinsein braucht keine Warnung
Ich glaube, dass solche Forschung zwar zeigt, dass Collegestudierende es ohne ihr Smartphone nicht aushalten, aber ansonsten mehr darüber aussagt, wie sie mit Langeweile umgehen, als dass wir etwas über typische Erfahrungen mit dem Alleinsein erfahren. Trotzdem verstärken Studien wie diese den schlechten Ruf des Alleinseins.
In der Tat assoziieren die meisten Menschen Alleinsein mit Einsamkeit – und wir haben guten Grund, uns Sorgen zu machen: Einsamkeit kann zu Depressionen und anderen ernsthaften psychischen Problemen führen. Und nicht nur das: Laut einer aktuellen Warnung des Office of the Surgeon General in den USA erhöhen chronische Einsamkeit und soziale Isolation sogar das Risiko eines vorzeitigen Todes um mehr als 25 Prozent – so viel wie wenn man täglich 15 Zigaretten rauchen würde.
Aber – und das ist mir wichtig: Obwohl wir Alleinsein oft mit sozialer Isolation und Einsamkeit gleichsetzen, sind Einsamkeit und Alleinsein nicht dasselbe. Soziale Isolation bedeutet, von der Familie, Freundinnen und anderen sozialen Netzwerken abgeschnitten zu sein, was eine mangelnde soziale Unterstützung zur Folge hat. Dennoch können wir uns auch in einem Raum voller Menschen einsam fühlen. Teenager beschreiben sich oft als einsam, wenn sie am Familientisch sitzen. Und natürlich können wir allein sein, uns aber überhaupt nicht einsam fühlen, besonders wenn wir uns selbst dafür entschieden haben. Selbstverständlich sind Sozialkontakte wichtig für unser Wohlbefinden, aber ich glaube, die Entscheidung, Zeit mit sich selbst zu verbringen, sollte nicht von Warnungen vor Gesundheitsrisiken und Zigarettenkonsumvergleichen begleitet werden.
Wir sind nicht auf der Bühne
Dass Alleinsein nicht dasselbe ist wie Einsamkeit, lässt sich also einfach herausarbeiten. Dagegen erweist sich die Definition, was Alleinsein eigentlich ist, als ziemlich komplex. Historisch gesehen konzentrierten sich die Ansätze auf die physische Trennung von anderen. Ich persönlich bevorzuge allerdings die Perspektive des Soziologen Erving Goffman. Er schlug vor, eine Theaterbühne als Metapher zu verwenden: In Gegenwart anderer sind wir „auf der Bühne“ – und müssen daher überlegen, wie andere uns sehen, was sie über uns denken und wie sie auf uns reagieren könnten. Wir treten gewissermaßen auf dieser Bühne auf – und das kann Druck erzeugen.
Allein sind wir dann, wenn das Publikum gegangen ist und wir „abgetreten“ sind. Abseits der Bühne haben wir keine Angst, beobachtet oder bewertet zu werden. Und wir müssen uns auch nicht sozial engagieren. Auf diese Weise ist Alleinsein Freiheit von gesellschaftlichen Anforderungen, Freiheit, unser wahres Selbst zu sein – Freiheit, einfach ... zu sein.
In dieser Vorstellung ist Alleinsein die gefühlte Trennung von anderen. Es ist kein Seinszustand, sondern eher ein Geisteszustand – wie die Empfindung, „allein“ in einer Menschenmenge zu sein. Es bedeutet, durch die Straßen einer fremden Stadt zu gehen, in der man nicht zufällig von Bekannten angesprochen wird. Oder allein an einem Tisch zu sitzen und in einem überfüllten Café zu lesen.
Allerdings müssen gegenwärtige Konzepte auch Schwierigkeiten berücksichtigen, die weiter voranschreitende Technologien mit sich bringen. Zum Beispiel ist es heute alltäglich, physisch allein, aber gleichzeitig virtuell mit unzähligen anderen in Kontakt zu sein. Vor diesem Hintergrund wird Einsamkeit teilweise auch als Mangel an sozialer Interaktion definiert, der sowohl physische als auch virtuelle Kontakte umfasst.
Man lernt sich selbst besser kennen
Abgesehen von der Komplexität konzeptioneller Ansätze und Definitionen finde ich Alleinsein als Forschungsgebiet besonders faszinierend, weil es oft geradezu paradox ist: Zum Beispiel wird Alleinsein von Erwachsenen oft als Belohnung angesehen. Eine müde Mutter oder ein müder Vater könnte sich nach einem langen Tag mit Job und Carearbeit mit etwas ruhiger „Me-Time“ belohnen. Gleichzeitig wird Alleinsein jedoch auch häufig als Bestrafung eingesetzt: Kleinkinder, die sich schlecht benehmen, bekommen eine „Auszeit“, Erwachsene, die schwere Straftaten begangen haben, landen in Einzelhaft.
Diese Beispiele veranschaulichen die Dualität des Alleinseins. Wie wir gesehen haben, ist es wichtig, die Risiken zu berücksichtigen, die mit Einsamkeit verbunden sind. Aber in meinen Augen verschleiert ein so enger Fokus die Möglichkeit, dass Alleinsein auch „gut“ sein kann.
Eigentlich gibt es die Vorstellung vom „guten Alleinsein“ schon lange. Künstler, Dichterinnen und Denker wie der Philosoph Michel de Montaigne und in jüngerer Zeit der Trappistenmönch Thomas Merton haben leidenschaftlich argumentiert, dass allein verbrachte Zeit unerlässlich sei: Man lernt, sich selbst zu verstehen, kann sich besser erholen, die Klausur fördert Spiritualität und lässt die Kreativität sprühen.
Eine Hilfe, intensive Emotionen auszuschalten
Doch obwohl es schon lange viele leidenschaftliche Essays über den vermeintlich positiven Wert der Zeit allein gibt, ist es der Forschung erst in den letzten Jahren gelungen, konkrete Belege für solche Effekte zu liefern. Mit ihrer Hilfe können wir endlich verstehen, wie, für wen und unter welchen Umständen Alleinsein gut sein kann.
Zum Beispiel haben Forschungen aus Großbritannien gezeigt, dass Alleinsein hilft, unsere emotionalen Zustände zu regulieren. Zeit allein kann hochintensive Gefühle wie zum Beispiel Wut oder Nervosität reduzieren. Die an den Forschungen Beteiligten bezeichneten diese Gefühlsregulation als „Deaktivierungseffekt“ (siehe Definition auf Seite 14). In einer der Studien war die beruhigende Wirkung des Alleinseins auch eine Woche später noch spürbar.
Die Mechanismen, die diesen Effekt verursachen, sind noch nicht genau verstanden – aber es scheint, dass Alleinsein helfen kann, hochintensive Emotionen „auszuschalten“. Das passt zur Vorstellung, dass Zeit allein einen Kontext für Erholung und Entspannung bieten kann. Bemerkenswert ist, dass diese Effekte nicht nur dann festgestellt wurden, wenn Menschen irgendwo mit ihren Gedanken allein waren, sondern auch wenn sie zwar allein, aber zum Beispiel mit Lesen beschäftigt waren. Wie ich später noch ausführen werde, muss man also nicht Zeit in stiller Kontemplation oder mit Meditation verbringen, um Nutzen aus dem Alleinsein zu ziehen.
Dieselben Psychologinnen und Psychologen lieferten auch verlockende Beispiele, wie leicht es sein könnte, noch stärker von der Zeit mit sich allein zu profitieren, statt eine Abneigung gegen sie zu haben. Schon die Bitte, während des Alleinseins an etwas Positives zu denken, erzeugte bei sämtlichen Versuchspersonen positivere emotionale Reaktionen auf diesen Zustand. Wahrscheinlich funktioniert das im Alltag aber nicht ganz so einfach: Die Ergebnisse mehrerer anderer Studien deuten darauf hin, dass Menschen es im Allgemeinen als anstrengend und unangenehm empfinden, dazu „gezwungen“ zu werden, positiv zu denken.
Aloneliness
Ein weiteres Beispiel: In Zusammenarbeit mit meiner Kollegin Julie Bowker und anderen haben einige unserer neusten Forschungen erste Anhaltspunkte geliefert, dass es unseren Beziehungen zu anderen helfen kann, Zeit allein zu verbringen.
Zugegebenermaßen klingt das erst einmal paradox. Wir haben die Zeit, die täglich allein, sowie die Zeit, die mit anderen verbracht wurde, bei einer großen Stichprobe junger Erwachsener über einen Zeitraum von einer Woche gemessen und dazu die jeweiligen emotionalen Zustände ausgewertet. An Tagen, an denen die Versuchspersonen mehr Zeit als sonst allein verbringen konnten, berichteten sie von erhöhter Freude an sozialer Interaktion mit anderen. Diese Erkenntnis führt auch zu einigen einfachen Ratschlägen, wie wir Alleinsein in unserem täglichen Leben positiv nutzen können.
Frühere Forschungen haben sich fast ausschließlich auf zu viel allein verbrachte Zeit und ihre Auswirkungen, zum Beispiel Einsamkeit, konzentriert. Aber was ist, wenn man merkt, dass man nicht genug Zeit allein verbringt? Was passiert, wenn es eine Diskrepanz gibt zwischen der Zeit, die ich idealerweise für mich verbringen möchte, und der Zeit, die ich tatsächlich dafür habe? Als ich mich daran machte, dieses bisher namenlose Phänomen zu untersuchen, nannte ich es aloneliness [angelehnt an das englische Wort alone – allein; Anm. der Red.]. Dieser Begriff definiert die negativen Gefühle, die entstehen können, wenn man nicht genug Zeit für sich verbringen kann.
Individuelles Gleichgewicht finden
In einer Reihe von Studien entdeckten wir, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die alonely waren, tendenziell über erhöhten Stress, negative Stimmungen und Symptome von Depressionen berichteten. Mit anderen Worten: Wenn man unzufrieden ist, weil man nicht genug Zeit für sich hat, führt es zu ähnlichen Ergebnissen, wie wenn man unzufrieden ist, weil man nicht genug Zeit mit anderen verbringt.
In einer großen Folgestudie mit Paaren fanden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den USA heraus, dass ein Mangel an Alleinsein größere Wut und Aggressionsgefühle gegenüber dem Lebenspartner vorhersagte. Es scheint also, dass wir dazu neigen, der Partnerin oder dem Partner die Schuld zu geben, wenn wir nicht genug Zeit für uns haben! Diese Studien bieten eine weitere Perspektive auf die Vorteile des Alleinseins, denn sie zeigen, was passiert, wenn wir der erforderlichen Zeit für uns beraubt werden.
Nebenbei bemerkt scheint das neue Konzept der aloneliness wirklich Aufmerksamkeit zu bekommen. Einige Medien berichteten bereits darüber und es wurde sogar in der beliebten deutschen Quizshow „Wer weiß denn sowas?“ vorgestellt.
Für unser Wohlbefinden ist es wichtig, dass jeder von uns die richtige Balance zwischen Zeit allein und sozialen Interaktionen findet. Entscheidend ist: Die „genau richtige“ Mischung sieht nicht für alle gleich aus, sondern variiert erheblich in Abhängigkeit von unserer Persönlichkeit und anderen individuellen Unterschieden. Kurz gesagt: Wenn wir Zeit allein verbringen, erleben wir diese Zeit sehr unterschiedlich.
Zum Beispiel werden extravertierte, kontaktfreudige und offene Menschen am zufriedensten sein, wenn sie sich aktiv mit anderen beschäftigen. Allein verbrachte Zeit empfinden sie dagegen als langweilig und Zeitverschwendung. Sie verspüren einen Widerwillen dagegen, weil Alleinsein für sie Einsamkeit und Grübelei bedeutet.
Ist jemand dagegen eher schüchtern, emotional instabil und sozial ängstlich, neigt er dazu, Zeit allein zu verbringen. Er vermeidet soziale Situationen, weil er sie als stressig empfindet. Solche Menschen suchen aktiv nach Zeit für sich allein und sie werden diese häufig als gewinnbringend, erholsam und produktiv wahrnehmen.
Wichtig ist, dass wir unabhängig von unserer Persönlichkeit und unserer Einstellung zum Alleinsein von dieser Zeit profitieren können. Wir sollten versuchen, unser eigenes, persönliches Gleichgewicht zwischen Zeit für uns selbst und unserem Sozialleben zu finden.
Aus den Vorteilen schöpfen
Wie positiv sich die richtige Balance zwischen Alleinsein und Zeit mit anderen auswirkt, zeigen aktuelle Studien. So beobachtete eine Gruppe von Schweizer Forschenden über einen Zeitraum von drei Wochen Erwachsene im Alter von 65 bis 95 Jahren. Versuchspersonen, die immer wieder zwischen Alleinsein und sozialen Interaktionen wechselten, berichteten von der höchsten Lebenszufriedenheit.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den USA zeigten kürzlich einen ähnlichen Effekt im Bereich der Kreativität: Sie verglichen die Anzahl der neuen Ideen, die beim Brainstorming allein, beim Brainstorming mit einer Gruppe und drittens in einem hybriden Kontext generiert wurden, in dem die Testpersonen zwischen Einzel- und Gruppensitzungen wechselten. In drei Studien stellten sie durchweg fest, dass diejenigen, die sowohl allein als auch mit anderen nachgedacht hatten, am kreativsten waren und die meisten neuen Ideen hervorgebracht hatten.
Was können wir aus diesen Erkenntnissen schließen? Ich werde versuchen, einige der vorgestellten Forschungsergebnisse in praktische Ratschläge zu übersetzen. So können Sie mehr von den potenziellen Vorteilen des Alleinseins profitieren.
Einsamkeit aufschreiben
Wenn sowohl Alleinsein als auch soziale Bindungen entscheidend zu unserem Wohlbefinden beitragen, wie können wir dann darauf hinarbeiten, das richtige Gleichgewicht zu erreichen?
Ein guter Anfang könnte sein, sich eine Woche lang zu beobachten. Schreiben Sie am Ende eines jeden Tages auf, wie viel Zeit Sie an diesem Tag allein und mit anderen verbracht haben. Nehmen Sie Ihre Stimmung wahr – positive Emotionen wie „glücklich“, „ruhig“ und „aufgeregt“, aber auch negative Emotionen wie „traurig“, „ängstlich“ und „wütend“.
Notieren Sie schließlich, wie intensiv Sie Gefühle von Einsamkeit verspürt haben, wie stark Ihr Wunsch war, mehr Zeit mit anderen und weniger Zeit allein zu verbringen, sowie Gefühle von aloneliness: Wie ausgeprägt war Ihr Bedürfnis, mehr Zeit allein und weniger Zeit mit anderen verbringen zu wollen? Allein die Dokumentation, wie Sie Ihre Zeit verbringen und wie Sie sich dabei fühlen, kann Verhaltensmuster und Emotionen sichtbar machen. So können Sie bei Bedarf Ihren Alltag anpassen, um ein besseres Gleichgewicht zu finden.
Aber denken Sie immer daran, dass solche Erkenntnisse nur Sie selbst betreffen. Individuelle Unterschiede in unserer Persönlichkeit, Motivation und bei unseren Emotionen tragen dazu bei, dass wir auch über das Alleinsein höchst unterschiedlich denken und darauf reagieren.
Der Bildschirm bleibt aus
Was ist, wenn Sie ein Mensch sind, der Alleinsein hasst? Versuchen Sie, Ihre Fähigkeit, allein zu sein, als einen Muskel zu betrachten, den Sie trainieren möchten. Sie müssen nicht mit 45 Minuten stiller Meditation oder einem zweistündigen Waldspaziergang beginnen. Fangen Sie stattdessen klein an, vielleicht mit ein paar Minuten am Tag, und tun Sie etwas, das Sie angenehm finden, während Sie allein sind. Die Forschungsergebnisse sind diesbezüglich ziemlich eindeutig: Wenn wir uns dafür entscheiden, Zeit allein zu verbringen und uns Aktivitäten zu widmen, die wir als sinnvoll und angenehm empfinden, ist es viel wahrscheinlicher, dass wir die Vorteile des Alleinseins nutzen können.
Abgesehen davon sollten Sie vielleicht auch Ihr Smartphone außer Sichtweite legen. Jugendliche und Erwachsene haben uns berichtet, dass sie während des Alleinseins die meiste Zeit vor dem Bildschirm verbrächten. Leider gibt es Hinweise darauf, dass technische Geräte die positiven Auswirkungen des Alleinseins beeinträchtigen können. Wie es dazu kommt, müssen wir noch genauer herausfinden.
Es kann sein, dass einige der negativen Aspekte der Technologienutzung die deaktivierenden und beruhigenden Effekte des Alleinseins wieder aufheben, zum Beispiel wenn wir durch Social-Media-Apps scrollen, uns mit anderen vergleichen und dadurch negative Gefühle entwickeln. Und es kann auch sein, dass die ständige Flut von Warnungen, Nachrichten und anderem, was uns virtuell bedrängt, unserem Gefühl entgegenwirkt, abseits der „Bühne“ zu sein, einfach nur wir selbst, unbeobachtet und frei von gesellschaftlichen Anforderungen.
Alleinsein ist nicht so riskant wie Zigaretten
Was aber, wenn Sie ein Mensch sind, der sehr gern allein ist? Viele Menschen pflegen intuitiv einen Lebensstil, der ihren Vorlieben entspricht. Sie suchen vielleicht eine bestimmte Art von Job, der nicht häufig soziale Interaktion erfordert, oder sie entscheiden sich, allein zu leben. Wenn Sie zu dieser Gruppe Menschen gehören, haben Sie durch die Lektüre dieses Artikels vielleicht das Gefühl, begutachtet oder gar ertappt worden zu sein – und ich hoffe, ich habe Sie beruhigt, dass Alleinsein nicht von Natur aus so „riskant“ für Ihre Gesundheit ist wie Zigaretten. Aber natürlich sind auch soziale Beziehungen wichtig für Ihr Wohlbefinden. Also vergessen Sie nicht, sich regelmäßig aufzuraffen und sich mit anderen zu beschäftigen, auch wenn Sie das nicht immer wollen.
Alleinsein hat also zu Unrecht einen schlechten Ruf. Um das zu ändern, ist aber noch viel zu tun. Wir sollten das Bewusstsein dafür schärfen, welche positiven Folgen das Alleinsein hat. Wir sollten auch die Erwartungen ändern und es als normal ansehen, nach Zeit für sich allein zu fragen. Es sollte völlig in Ordnung sein, einem Familienmitglied, einem Freund, einer Kollegin oder dem Partner zu sagen, dass man etwas Zeit für sich selbst braucht. Wenn jemand Einwände dagegen hat, sagen Sie ihm einfach, dass Sie etwas für ihn tun, denn es gibt jetzt wissenschaftliche Beweise, dass es die Beziehungen zu anderen verbessert, wenn wir Zeit allein verbringen!
Alleinleben wird zum Trend
Zu guter Letzt: Auf der ganzen Welt verbringen Menschen mehr Zeit allein als je zuvor. In Kanada, wo ich lebe, waren laut Statistics Canada im Jahr 2021 knapp ein Drittel der Haushalte Einpersonenhaushalte. Dieser wachsende Trend zum Alleinleben ist in Europa noch weiter verbreitet, vor allem in skandinavischen Ländern. In Deutschland lag laut Statistischem Bundesamt der Anteil der Einpersonenhaushalte bei 41 Prozent – mehr als doppelt so hoch wie noch 1950.
Auch die durchschnittliche Zeit, die Erwachsene allein verbringen, steigt allmählich: laut dem American Time Use Survey in den USA von etwa 43 Prozent im Jahr 2003 auf knapp 49 Prozent im Jahr 2019. Danach – mit Beginn der Coronapandemie – nahm die allein verbrachte Zeit auf der ganzen Welt dramatisch zu, ebenso wie Einsamkeit, Stress und psychische Probleme. Gerade vor diesem Hintergrund ist es für uns heute wichtig wie nie, die positiven Aspekte des Alleinseins wertzuschätzen und bei den negativen aufmerksam zu bleiben.
Deaktivierungseffekt
Thuy-vy Nguyen, Psychologieprofessorin im britischen Durham, und anderen fiel Folgendes auf: Wenn Testpersonen 15 Minuten allein und ohne Smartphone auf einem Stuhl saßen, wurden sie ruhiger. Starke Gefühle wie Wut verloren an Intensität. Nguyen und Kollegen sprechen daher von einem „Deaktivierungseffekt“. Er trat auch auf, wenn die Personen allein lasen, nicht aber beim Smalltalk mit anderen. Wie der Effekt zustande kommt, bedarf weiterer Forschung.
Robert J. Coplan ist Chancellor’s Professor an der psychologischen Fakultät der Carleton University in Ottawa, Kanada. Er beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit dem Nutzen und den Risiken des Alleinseins.
Übersetzt wurde der Text aus dem Englischen von Gabriele Meister.
Wollen Sie mehr zum Thema "Alleinsein" erfahren? Dann lesen Sie gerne folgende Artikel aus derselben Ausgabe:
Warum ist Alleinsein zu den Festtagen wichtig? Artikel: Zeit für mich trotz Weihnachten
Fünf Tipps für mehr Zeit zum Alleinsein: Wie man sich Inseln des Alleinseins schafft
Kann man Alleinsein lernen? Psychiater im Interview: "Es ist leichter, allein zu sein, wenn man mit etwas allein ist"
Quellen
Robert J. Coplan u.a.: Seeking more solitude: Conceptualization, assessment, and implications of aloneliness. Personality and Individual Differences, 148, 2019, 17–26
Robert J. Coplan u.a. (Hgg.): The handbook of solitude: Psychological perspectives on social isolation, social withdrawal, and being alone. Wiley Blackwell 2021
Robert J. Coplan u.a.: Alone with my phone? Examining beliefs about solitude and technology use in adolescence. International Journal of Behavioral Development, 46/6, 2022, 481–489
Eurostat: Household composition statistics, Luxembourg 2023
Thuy-vy Nguyen u.a.: Solitude as an approach to affective self-regulation. Personality and Social Psychology Bulletin, 44, 2018, 92–106
Will E. Hipson u.a.: Examining the language of solitude vs. loneliness in tweets. Journal of Social and Personal Relationships, 38/5, 2021, 1596–1610
Runa Korde, Paul Paulus: Alternating individual and group idea generation: Finding the elusive synergy. Journal of Experimental Social Psychology, 70, 2017, 177–190
Minxia Luo u.a.: Alternating time spent on social interactions and solitude in healthy older adults. British Journal of Psychology, 113, 2022, 987–1008
Statistics Canada: Prevalence of one-person households, Ottawa 2022
Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung Nr. N037 vom 20. Juni 2023, Wiesbaden 2023
Julie A. Swets, Cathy R. Cox: Aloneliness predicts relational anger and aggression toward romantic partners. Aggressive Behavior, 48/5, 2022, 512–523
Timothy D. Wilson u.a.: Just think: The challenges of the disengaged mind. Science, 345, 2014, 75–77
Hope White u.a.: Solitude and affect during emerging adulthood: When, and for whom, spending time alone is related to positive and negative affect during social interactions. International Journal of Behavioral Development, 46/6, 2022, 490–499