„Es ist leichter, allein zu sein, wenn man mit etwas allein ist“

Alleinsein klingt nach Einsamkeit und Grübeln. Psychiater Rainer Gross erklärt, wie man Alleinsein erlernen und schätzen kann.

Die Illustration zeigt einen Mann, der mit einem Buch entspannt alleine an einem runden Fenster sitzt
Um sich an das Alleinsein zu gewöhnen, kann es helfen sich auf etwas zu konzentrieren. Ein gutes Buch vielleicht? © Luisa Jung für Psychologie Heute

Herr Dr. Gross, mich fasziniert immer wieder, wie gut manche Menschen allein leben können, zum Beispiel nach einer Trennung. Andere fühlen sich dagegen einsam. Wie lässt sich das erklären?

Die ersten Lebensjahre bilden die Basis dafür, ob wir fähig sind, allein zu sein, oder Angst davor haben. Der Psychoanalytiker Donald Winnicott hat das 1958 so erklärt – ich vereinfache grob: Wer sich als Kind nicht einsam fühlt, hat gute Voraussetzungen, sich ein Leben lang nicht einsam zu fühlen.

Das kann gelingen, wenn…

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einsam fühlt, hat gute Voraussetzungen, sich ein Leben lang nicht einsam zu fühlen.

Das kann gelingen, wenn man eine primäre Bezugsperson hat, de facto wohl meist immer noch die Mutter, die vermittelt: „Ich bin für dich da. Ich gebe dir nicht nur Nahrung und Sauberkeit, sondern auch Sicherheit und Zuwendung. Du bist gut so, wie du bist. Ich bin relativ bedingungslos für dich da.“ Es klingt erst mal paradox, aber wenn ich am Lebensanfang eine sichere Bindung hatte, kann ich später das Leben allein besser aushalten, ohne zu verzweifeln.

…weil ich gespürt habe, dass immer jemand für mich da ist, auch wenn ich später vielleicht allein lebe?

Ja, denn als Kind habe ich erfahren: Ich kann getrost wegkrabbeln und die Welt erkunden. Die Mutter oder der Vater ist da, wenn ich schreie. Für Eltern ist das allerdings ein schwieriger Balanceakt, einerseits Nähe, Sicherheit und Zuwendung zu vermitteln und andererseits das Kind vorsichtig an die Hand zu nehmen und in die Welt hinauszubegleiten, bis man ihm irgendwann nur noch aus der Ferne hinterherschaut.

Nun hatten ja nicht alle das Glück, so aufzuwachsen. Kann man Alleinsein im Erwachsenenalter noch lernen?

Natürlich haben wir alle unser ganz persönliches Mischungsverhältnis – manche fühlen sich in Gruppen am wohlsten, andere vor allem in Zweierbeziehungen und wieder andere sind sehr gern allein. Persönlichkeitsmerkmale wie Extraversion haben einen beträchtlichen Einfluss. Nichtsdestotrotz kann man emotionale Fähigkeiten oder Register trainieren, wenn auch langsam.

Niemand, der sagt: „Ich will mich nicht allein fühlen“, wird diese Fähigkeit erlernen, wenn man ihn in eine Almhütte steckt. Wahrscheinlich würde die Person Panik bekommen. Aber man kann allmählich aufdosieren: Den meisten Menschen fällt es viel leichter, allein zu sein, wenn sie erst mal mit etwas allein sind, zum Beispiel mit einem Buch oder Sportgerät oder mit einer Aufgabe. Man ist allein, um x oder y zu machen – oder das sogar gern zu machen. Das berühmte Allein-aufs-Meer-Schauen ist dann schon die höhere Kunst.

Würden Sie solche Übungen auch anbieten, wenn eine Patientin unter Einsamkeit leidet?

Ich bin Psychoanalytiker, aber ich bin nicht rigid. Ich habe nichts gegen Verhaltensanregungen, wenn ich glaube, dass sie funktionieren. Man kann der Patientin sicher empfehlen, zehn Minuten oder sogar eine halbe Stunde bewusstes Alleinsein auszuprobieren: Wann oder wodurch wird es unbehaglich? Außerdem würde ich am Ende des Erstgesprächs sagen, sofern wir weiter miteinander arbeiten: „Sie haben einen wichtigen Schritt getan, nämlich sich jemanden geholt, mit dem Sie trainieren können.

Sie können unsere therapeutische Beziehung als Testfall nutzen für Mikrozurückweisungen und Verunsicherungen – weil es um Sie geht und Sie nicht dazu verpflichtet sind, mich zufriedenzustellen, damit ich nicht davonlaufe oder Sie wegschicke.“ Wir versuchen also im Idealfall nachzuliefern, was in der Kindheit nicht passiert ist: die vertrauensvolle Beziehung, die die meisten von uns zu wenig hatten – wobei es ja immer um den subjektiven Eindruck geht. Die allermeisten Eltern würden wahrscheinlich sagen: „Wovon ist die Rede? Es war doch alles in Ordnung.“ Insofern ist es gut, dass man bei der Psychotherapie in geschütztem Rahmen trainieren kann.

Sie haben vorhin gesagt, man solle nicht sofort in der einsamen Almhütte üben. Was aber, wenn jemand mit so einer Situation klarkommen muss?

Nicht nur einsame Menschen kommen mit Lebensgeschichten, bei denen einem als Therapeut ziemlich schnell klarwird: Die Person hat genügend Gründe, sich auf nichts und niemanden mehr einzulassen, weil sie zum Beispiel oft zurückgewiesen wurde. Das ist verständlich, aber für solche Menschen ist es oft schwer zu akzeptieren, dass Vertrauen immer Vorschussvertrauen ist. Wenn ich einen Kollegen frage, ob er mit mir ins Café gehen mag, muss ich das Risiko aushalten können, dass er absagt. Ich habe 35 Jahre lang in der Psychiatrie gearbeitet. Psychisch Kranke sind ja oft sehr einsam und Einsamkeit erhöht umgekehrt das Risiko, psychisch krank zu werden. Ein Teufelskreis. Damals habe ich den Patientinnen und Patienten häufig gesagt: Nicht erhoffen, dass ein Mensch alle Bedürfnisse erfüllt. Man muss diversifizieren.

Man braucht also Beziehungen, um besser allein sein zu können?

Im Idealfall entwickelt sich eine Positivspirale: Je weniger ich verzweifelt auf andere angewiesen bin, desto weniger werde ich an anderen kleben und sie erdrücken. Und dann werde ich auch wieder – so brutal es klingt – attraktiver am Beziehungsmarkt sein.

…weil ich nicht ausstrahle: Ich brauche die Beziehung unbedingt?

Man kennt das ja, dass ausgerechnet dann, wenn man glücklich verliebt ist, auch noch andere interessiert sind, obwohl man vorher seit Jahren verzweifelt eine Partnerin gesucht hat. Allerdings muss man sich dann sehr beherrschen, das Gegenüber nicht beim ersten, zweiten Date mit seinen Bedürfnissen und vielleicht auch einer Leidensgeschichte zu überschütten…

…so dass die andere Person sofort den Rückzug antritt.

Zumindest löst es Misstrauen aus. Wir haben gelernt, dass wir Menschen, die länger allein waren, mit einer gewissen Skepsis betrachten. Das ist natürlich ein Stigma, das dann oft zur Selbststigmatisierung führt. Es gibt einen ganz ungeheuren gesellschaftlichen Druck, glücklich zu sein. Und glücklich ist man scheinbar nur dann, wenn man allzeit prickelnde Beziehungen hat, Frieden mit den Eltern geschlossen, ein pulsierendes soziales Netz und und und… Allein zu sein, vielleicht ohne Liebesbeziehung und vielleicht auch mit wenig Freunden – da muss ich schon ziemlich selbstgenügsam sein, um nicht darüber nachzugrübeln, ob ich nicht vielleicht ein Loser bin.

Trotzdem leben aber ja immer mehr Menschen allein.

Einsamkeit und Alleinsein sind zweierlei. Allerdings sind diejenigen, die allein leben und damit zufrieden sind, anderen oft unheimlich. Dass sich jemand aktuell keine Beziehung wünscht und sich selbst genug ist, kann auch als Kränkung oder Zurückweisung interpretiert werden. Andere denken: „Die braucht uns nicht.“ Oder: „Was kann die, was wir nicht können?“

Abgesehen von blöden Klischees über Singles, die angeblich nicht glücklich sein können: Wann wird die Sehnsucht nach dem Alleinsein pathologisch?

Wenn ich allein sein möchte, weil ich eine Sozialphobie habe und bei jedem Grüß-Gott-Sagen eine mittlere Panik bekomme, wäre das schon ein pathologischer Fall. Solche Menschen haben einen massiven Leidensdruck. Manchmal ist die Beurteilung aber nicht so einfach, zum Beispiel beim Trend, sich selbst zu heiraten.

Sie meinen diese Bewegung in Korea?

Ja, in Südkorea kann man Hochzeiten mit sich selbst als Komplettpaket kaufen. Vor allem junge Menschen, die 60 Stunden und mehr pro Woche arbeiten und von sich sagen, dass sie keine Energie übrig haben für Liebesbeziehungen oder Freundschaften, machen so etwas. Der Trend, alles selbst zu machen, nennt sich honjok. Das bedeutet so viel wie „Einpersonenstamm“. Sich selbst zu heiraten ist eines der Extreme dieser Bewegung. Diese brutale Verleugnung von Abhängigkeiten ist für meine Begriffe pathologisch. Aber wer bin ich, das zu beurteilen? Auch hikikomori ist so ein Fall. Es gibt allerdings japanische Kolleginnen und Kollegen, die das nicht als krankhaft sehen.

Was versteht man darunter?

In Japan gibt es Menschen, die einen völligen sozialen Rückzug leben, vermutlich sind es mehr als eine Million, aber genau weiß man es nicht. In den allermeisten Fällen haben die Betroffenen Misserfolge in der Schule oder Universität erlebt und verlassen aus Scham nun kaum noch ihr Zimmer. Aus Angst vor Gesichtsverlust vertuschen sie ihre Arbeitslosigkeit und lassen sich von ihren Eltern versorgen. Ich kenne solche Verhaltensweisen ansonsten vor allem von Jugendlichen bei Psychosen – die allerdings nichts mit Einsamkeit zu tun haben. Für mich ist hikikomori eindeutig krankhaft. Aber wie gesagt: Auch darüber wird diskutiert.

Zum Schluss würde ich gern noch auf das Thema „Intimität“ zu sprechen kommen. Es gibt ja Menschen, die gern Singles sind, aber Intimität vermissen. Wie lässt sich das lösen?

Das ist ein sehr schwieriges Thema. Allerdings kann man körperliche Nähe nicht nur in romantischen Beziehungen erleben. Wir können zufriedenstellende Berührungen haben, die mit Sex überhaupt nichts zu tun haben, sondern eher mit Bindung, mit dem Gefühl, gehalten zu werden. Manche Menschen schaffen sich auch ein Haustier an. Natürlich kann man darüber spotten, aber es funktioniert und ist wesentlich besser, als einsam zu verzweifeln.

Wollen Sie mehr zum Thema "Alleinsein" erfahren? Dann lesen Sie gerne folgende Artikel aus derselben Ausgabe:

Titelgeschichte: Die schönste Zeit: Alleinsein

Warum ist Alleinsein zu den Festtagen wichtig? Artikel: Zeit für mich trotz Weihnachten

Fünf Tipps für mehr Zeit zum Alleinsein: Wie man sich Inseln des Alleinseins schafft

Dr. Rainer Gross ist Psychiater und Psychoanalytiker. Er war Chefarzt der Sozialpsychiatrie am Landesklinikum Hollabrunn in Niederösterreich und arbeitet nun als Psychotherapeut und ­Supervisor in freier Praxis in Wien. 2021 erschien sein Buch ­Allein oder einsam?

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2024: Die schönste Zeit: Alleinsein