Hier stehen Geräte

Auf Spielplätzen probieren sich Kinder aus – und ihre Eltern. Wie wirken diese Orte auf uns? Herbert Renz-Polster über die Psychologie des Spielplatzes.

Ein orangefarbenes Wippgerät in Tierform steht auf einem Kinderspielplatz und der Boden ist betoniert
Spielplätze sind Orte zum Ausprobieren – für Kinder und für Eltern. © plainpicture/Ulrike Leyens

„Guck mal, guck mal!“ Die kleine Lisa ist die Leiter zur Rutsche hochgestiegen und ruft noch einmal: „Guck mal, Papa!“ Erst als der Vater von seinem Smart­phone aufschaut, lässt sie sich auf die Rutsche fallen und saust in die Tiefe. Als zähle nur die Erfahrung, die geteilt wird. Zumindest in den ersten drei, vier Lebensjahren scheint das vom Kind eingeplant zu sein: „Guck mal!“

Vielleicht ist das ein Überbleibsel aus einer Zeit, in der noch Raubtiere ums Lager schlichen? Du Großer da, wehe du lässt in…

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in der noch Raubtiere ums Lager schlichen? Du Großer da, wehe du lässt in deiner Wachsamkeit nach! Oder lässt dich gar ablenken, etwa durch ein Gespräch mit dem Nachbarn! Gleichzeitig ist die Aufmerksamkeit auch ein Ermutigungssignal an das Kind: Du kannst Gas geben, im Fall des Falles bin ich da. Nicht zufällig finden sich auf dem von den US-amerikanischen Bindungsforschern so wunderbar visualisierten „Kreis der Sicherheit“ genau diese Worte: „Freue dich an mir. Freue dich mit mir!“

Und tun die Eltern das? Wie geht es den Großen auf dem Spielplatz? Wer hier nur eine Antwort erwartet, kennt die vielen unterschiedlichen Lebensentwürfe nicht, nach denen Eltern heute leben. Um manche Familien glaubt man fast eine Art Blase zu erkennen, eine gemeinsame Hülle. Der warme Ton und das Lachen, das aus ihr dringt, zeigt an, wie viel Freude da zwischen Eltern und Kind geteilt wird. Man sieht aber auch Milchglasscheiben, wo Mütter oder Väter am Rand des Platzes sitzen und ihrem Kind nur die allernötigsten Häppchen an Aufmerksamkeit zuwerfen. Wieder andere Eltern sind wachsam wie Habichte, bereit einzugreifen – und gerne auch das Spiel zu lenken: „Wolltest du nicht mal das Wasserrad ausprobieren?“

Der „mütterliche“ und väterliche Stil

Dass dabei auch die Anlässe des Besuchs eine Rolle spielen, sieht man an der Kleidung. Die einen Eltern kommen aus dem Büro, auf dem Sprung zum Einkaufen. Andere haben Picknickkörbe dabei und signalisieren damit: Der Spielplatz ist unser Reich! Wieder andere wollen einfach nur ein paar Takte lang ein beschäftigtes Kind genießen und sich endlich um sich selbst kümmern.

Begegnen die Väter ihren Kindern anders als die Mütter? Manche Szenen auf dem Spielplatz lassen das vermuten. Da sieht man öfter einmal Väter, die ihr kleines Kind so richtig anstacheln: „Guck mal, auf der Rutsche kannst du auch Purzelbäume machen!“ Der Eindruck trügt allerdings. Ob ein Elternteil eher die aktivierende oder die tröstende Rolle einnimmt, scheint mehr damit zu tun zu haben, wie nahe das Beziehungsverhältnis ist. Ist es der Vater, der hauptsächlich für die Betreuung des Kindes verantwortlich ist, so lässt sich bei ihm eher das traditionell „mütterliche“ Verhaltensmuster beobachten. Das dem Kind entferntere Elternteil zeigt eher den ermutigenden, körperlicheren „väterlichen Stil“ – unabhängig vom Geschlecht.

Zwischen Lust und Angst

An vielen Spielplätzen beobachtet man aber auch rasch ein Elend: Die meisten dieser Orte sind im Grunde nur glorifizierte Sandkästen mit ein paar Geräten darauf. Für Kleinkinder mag das noch spannend sein. Doch sobald ihre Finger geschickt und ihre Arme stark sind, hätten Kinder doch lieber Erde, Dreck, Lehm – etwas, das hält und mit dem man deshalb Sachen machen kann. Gerade den Schulkindern setzen viele der jetzigen „Geräteplätze“ tatsächlich Grenzen. Ja, man kann dort toben, wippen, schaukeln, ein bisschen jedenfalls. Doch der Spaß damit hat ein recht kurzes Verfallsdatum.

Das ist leicht zu verstehen, wenn man sich vor Augen hält, wie Kinder ihr tägliches Wunder vollbringen, nämlich ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten ohne Unterlass zu steigern. Sie nutzen dazu ihren „Kribbelmotor“: Sie tun mit Vorliebe und höchster Begeisterung das, was sie neu erlernt haben und gerade so hinbekommen. Kein Wunder, dass sie dann oft auch die Hilfe von Mitspielern oder die der Erwachsenen einfordern. So heben sie immer schon die Decke an für den nächsten Schritt.

Ein Kind springt von einer Sprosse des Klettergerüsts, und wenn das geschafft ist, geht es garantiert eine Sprosse höher. Die Spannung zwischen Lust und Angst, die es dabei erlebt, ist ein schier unerschöpflicher Treibsatz der kindlichen Entwicklung. Damit erntet das Kind nämlich sehr effektiv das, was es für sein Weiterkommen – und übrigens auch für seinen eigenen Risikoschutz – braucht: rasch anwachsende Kompetenz körperlicher oder sozialer Art und das gute Gefühl des Gelingens. Das schafft Selbstbewusstsein und auch Durchhaltevermögen.

Der Kribbelmotor

Nur: Wo springt der „Kribbelmotor“ auf einem durchstrukturierten, mit ein paar Spielsachen zugestellten „Spielplatz“ an? Das passiert tatsächlich eher dort, wo die Spielmöglichkeiten eben nicht vorgegeben sind. Wo Kinder ihre eigene Sprossenhöhe finden können. Baugruben, alte Scheunen, Speicher und vor allem die freie Natur sind auch deshalb geradezu magische Spielorte für Kinder.

Es gibt einen Grund, warum gerade die älteren Kinder auf den Standardspielplätzen oft eher in dem darum herum gepflanzten Gebüsch zu finden sind, das eigentlich als Sichtschutz geplant war. Dort können sie sich verstecken, Höhlen graben, Zweige, Stöcke, Steine, Wasser herbeischaffen und daraus etwas machen, etwas Eigenes. Wenn es gut läuft, können sie gar etwas erleben, ohne das jede Kindheit letzten Endes doch ein Missverständnis ist: Abenteuer – das wunderbare Spiel zwischen Angst und Lust.

Literatur

Bert Powell u.a.: Der Kreis der Sicherheit. Die klinische Nutzung der Bindungstheorie. Probst, Lichtenau 2015

Michael E. Lamb, Catherine S. Tamis-LeMonda: The Role of the Father: An Introduction. In: Mich­ael E. Lamb (Hg.): The Role of the Father in Child Development. John Wiley & Sons, New York 2004

Herbert Renz-Polster, Gerald Hüther: Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Fühlen und Denken. Beltz, Weinheim 2016

Dr. Herbert Renz-Polster ist Kinderarzt und assoziierter Wissenschaftler am Mannheimer Institut für Public Health, ­Sozial- und Präventivmedizin. Er ist als Autor und Heraus-geber tätig und hat mehrere Sach- und Fach-bücher sowie Erziehungsratgeber veröffentlicht

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2021: Wege aus der Depression