Ohne Kind

Warum ist das Leid in Bezug auf ungewollte Kinderlosigkeit so groß? Zwei Bücher widmen sich dem noch oft tabuisierten Thema.

Hilflos, voller Neid und Wut, geplagt von Gefühlen der Minderwertigkeit und des Ausgeschlossenseins: So beschreibt die Medizinjournalistin Miriam Funk die Gemütslage von Menschen, die Kinder bekommen möchten und es trotz aller Bemühungen nicht schaffen.

Funk hat mit mehr als 60 Betroffenen gesprochen und aus ihren Erkenntnissen einen knappen Ratgeber destilliert: Ungewollt kinderlos ist ein Buch, das Verständnis schaffen und Mut machen soll. Und das ist auch nötig: Ungewollt Kinderlose fühlen sich oft alleingelassen mit ihrem Schicksal. Doch schaut man auf die Zahlen, stehen sie alles andere als allein da: Schätzungen zufolge bleibt jedes achte bis zehnte Paar in Deutschland dauerhaft ungewollt ohne Kind. Besonders belastend: In 15 Prozent der Fälle lassen sich die Ursachen trotz aller medizinischen Untersuchungen nicht klären.

Unfreiwillige Kinderlosigkeit geht oft mit einem Gefühl der Machtlosigkeit einher. In einer Gesellschaft, in der alles machbar erscheint, kommt es einer tiefen Kränkung gleich, wenn man essenzielle Fragen der Lebensgestaltung nicht selbst in der Hand hat.

Zeugungsunfähig

Wenn ein Mensch stirbt, können wir als Nahestehende intuitiv zumeist recht gut damit umgehen: Wir wissen in der Regel, wie wir uns den Hinterbliebenen gegenüber zu verhalten haben, weil wir fast alle schon einmal einen Menschen verloren haben. Wer hingegen trotz aller Bemühungen kinderlos bleibt, verabschiedet sich von jemandem, der noch gar nicht existiert hat – von einer Idee, von einer Hoffnung, nicht zuletzt von einer Projektionsfläche für die eigenen Sehnsüchte nach dem idealen Leben.

Wie schwierig dieser Abschied sein kann, zeigt die autobiografische Erzählung, die Benedikt Schwan in seinem Buch Ohnekind festgehalten hat. Der Autor fand erst im Alter von 41 Jahren heraus, dass er unfruchtbar ist. „Azoospermie“ lautete seine Diagnose, das heißt, es befinden sich keine Samenzellen im Ejakulat.

Etwa sieben Prozent aller Männer im reproduktionsfähigen Alter können keine Kinder zeugen; zudem nimmt einer großen Metastudie aus dem Jahr 2017 zufolge der Anteil der Samenzellen im männlichen Ejakulat seit Jahrzehnten ab. Über die Ursachen dieses Spermienschwunds herrscht noch viel Unklarheit: Tabak, Drogen und Alkohol, aber auch Röntgenstrahlen, Übergewicht, zu hohe Temperaturen und bestimmte Chemikalien und Medikamente stehen im Verdacht, die Spermienbildung zu beeinträchtigen. Doch gerade die männliche Unfruchtbarkeit ist gesellschaftlich tabuisiert – wohl auch deshalb, weil Männer, wie Schwan betont, selbst extrem ungern über das Thema reden.

Aus allen Wolken

Dass dem Autor seine Sterilität erst spät im Leben bewusstgeworden ist, hat etwas mit seiner Lebensplanung zu tun, einer Lebensplanung, wie sie nicht untypisch ist für Großstadtbewohner wie ihn: Mit 30 hat er seine damals 29-jährige Frau geheiratet, dann haben sich die beiden erst einmal im Zusammenleben eingerichtet. Mit Mitte 30 war ihnen immer noch nicht klar, „ob wir wirklich wollten, dass sich unser in vergleichsweise ruhigen Bahnen verlaufendes Leben verändert“.

Als die beiden sich dann doch dazu durchringen, ein Kind zu zeugen, werden sie mit der Sterilitätsdiagnose konfrontiert. Schwan fällt aus allen Wolken – für ihn beginnt nun die Suche nach einer Möglichkeit, doch noch fruchtbar zu werden. Zugleich will er mehr über das Verhältnis unterschiedlicher Gesellschaften zum Kinderhaben herausfinden. So beginnt eine Recherchereise, die zugleich Verzweiflungsbewältigung ist.

Für Leserinnen und Leser, die sich Orientierung im Angesicht einer bestehenden oder drohenden Kinderlosigkeit wünschen, ist Ohnekind daher mit Vorsicht zu genießen. Wo Miriam Funks Ratgeber sachlich bleibt und die Erfahrungen zahlreicher Betroffener synthetisiert, ist Schwans Erzählung eher eine episodenhafte Schilderung eines Lebensabschnitts voller Rat- und Rastlosigkeit.

„Einatmen, ausatmen – einfach weiterleben

Schwan macht sich auf, zunächst nach Kanada. Dort trifft er Winston Blackmore, der mehr als 150 Kinder haben soll und Anführer einer fundamentalistischen Mormonengruppe ist, die sich der Polygamie verschrieben hat. Er fliegt nach Japan – in ein Land, das pro Jahr um mehr als 400000 Menschen schrumpft, weil so wenige Kinder geboren werden. In Israel trifft er den Reproduktionsmediziner Hagai Levine und erfährt dabei, dass in dem Land die Fruchtbarkeit stark politisch aufgeladen ist, weil dort sowohl die jüdische als auch die muslimische Bevölkerung Fortpflanzung als Element des Selbsterhalts begreift.

In New York schließlich spricht er mit Peter N. Schlegel, dem Erfinder der mikrochirurgischen testikulären Spermienextraktion – kurz mTESE –, eines Eingriffs, bei dem Spermien im Hoden aufgespürt und entnommen werden. Gibt es also doch noch ein Happy End für Schwan – oder sind die Risiken zu groß? Zweifel quälen ihn. Nach einer erneuten Untersuchung an der Universität Münster, die wiederum negative Ergebnisse liefert, und dem Entschluss gegen aufwendige medizinische Maßnahmen, aber auch gegen eine Adoption und Fremdsperma, bleibt für ihn am Ende nur eins: „einatmen, ausatmen – einfach weiterleben“. Schwan und seine Frau haben sich mit der Kinderlosigkeit arrangiert.

Dass jedem ernst gemeinten Bewältigungsversuch von Kinderlosigkeit eine endgültige Entscheidung gegen das Immer-wieder-Probieren vorausgehen muss, betont auch Miriam Funk. Nur so könne schließlich eine Trauerphase eingeleitet werden, an deren Ende ein Neuanfang steht. Bestenfalls werden dann neue Energien frei, die vorher in den Kinderwunsch geflossen sind und nun in andere sinnstiftende Projekte und Tätigkeiten eingehen können. Dazu bedarf es jedoch zunächst einer Versöhnung mit sich selbst, zum Beispiel einer Bewältigung etwaiger Schuldgefühle.

Und: Es gilt, einen souveränen Umgang mit übergriffigen Fragen und Kommentaren zu finden. Denn das Um­feld ist eine nicht zu unterschätzende Variable in der Gleichung der ungewollten Kinderlosigkeit. Auch für Bekannte, Freunde und Familienmitglieder hält Funks Ungewollt kinderlos deshalb eine Botschaft bereit. Für sie gilt: Gesprächsbereitschaft und Anteilnahme signalisieren, aber mit Urteilen zurückhalten.

Miriam Funk: Ungewollt kinderlos – und jetzt? Ein Ratgeber zum Umgang mit unerfülltem Kinderwunsch. Mabuse, Frankfurt a.M. 2020, 112 S., € 16,95

Benedikt Schwan: Ohnekind. Männlich, Kinderwunsch, steril. Was es heißt, zeugungsunfähig zu sein. Heyne, München 2020, 256 S., € 20,–

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2021: Frauen und ihre Väter
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