Herr A. ist schon sein ganzes Leben lang Musiker, spielt verschiedene Instrumente und komponiert. „Seit Corona geht gar nichts mehr.“ Er hat große Geldprobleme und seine Frau ist im achten Monat schwanger. Sie sorgt sich wegen seiner vielfältigen Ängste, nachts kreisen seine Gedanken um die Klimakatastrophe und eine Welt voller Lügen, Korruption und Egoismus. Er fühlt sich schuldig, weil sein Kind in eine fürchterliche Welt hineingeboren werde.
Sie sind gekommen, weil Herrn A.s „Horrorszenarien“ immer…
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Sie sind gekommen, weil Herrn A.s „Horrorszenarien“ immer heftiger werden, je näher der Geburtstermin rückt. Nein, er sei kein gewünschtes Kind gewesen. Er wolle ein sorgender Vater sein, und so frage ich ihn nach seinem Vater. Der hat die Familie verlassen, als er noch ein kleines Kind war. Die Eltern haben sich stundenlang angeschrien und nach der Trennung gab es eine jahrelange Schlammschlacht vor Gerichten.
Jetzt hat die Mutter Krebs und er hofft, dass sie bald stirbt. Er kann sie nicht mehr im Pflegeheim besuchen, seitdem seine Frau schwanger ist. Voller Wut beschreibt er seine Mutter als rechthaberisch, manipulativ, aggressiv, abwertend, beleidigend, egoistisch und besserwisserisch.
Anpassung und Unterordnung
Meine Frage, ob die Mutter in psychotherapeutischer Behandlung gewesen sei, beantwortet er mit einem bitteren Lächeln. Erst vor wenigen Jahren habe er erfahren, dass sie mal wegen Stress und Überlastung in einer Klinik gewesen sei, wo die Ärzte den Verdacht auf eine schwere Persönlichkeitsstörung geäußert hätten. Daraufhin habe sie die Klinik sofort verlassen und mit Klagen gedroht.
Seine Kindheit habe er nur mit totaler Anpassung und Unterordnung überstehen können. Die Mutter gab ihm die Schuld daran, dass ihr Leben zerstört sei, sie habe die frühe Schwangerschaft nicht gewollt. Jetzt habe er zunehmend Fluchtgedanken, je weiter weg, desto besser; er suche nach einem Ort, wo es menschlich zugehe, die Welt und die Natur noch intakt seien und er Geld verdienen könne für seine Familie.
Beide sind Kinder psychisch kranker Eltern
Seine Frau versteht seine Sorgen, fragt sich aber, ob er seine Horrorszenarien nicht an jeden Ort der Welt mitnehmen würde. Sie glaube an das Gute in ihm, er sei ein lebendiger und kreativer Mann und werde bestimmt ein guter Vater sein. Ihr eigener Vater sei suchtkrank gewesen und früh gestorben. Auch sie war Kind einer alleinerziehenden Mutter, aber die sei toll gewesen und werde bestimmt eine gute Oma.
Ihr Vater war schon sehr alt bei ihrer Geburt und hatte viele Kriegsverletzungen. Er hatte Anfälle von Jähzorn und starke Aggressionen, dann haben sich Mutter und Tochter eingeschlossen, bis es vorbei war. Ja, wahrscheinlich hat er seine Kriegstraumata mit Alkohol bekämpft, um nichts mehr zu fühlen. Ihr späterer Stiefvater war ebenfalls Alkoholiker.
Beide haben in der eigenen Kindheit keinen sorgenden, liebevollen Vater kennengelernt, und meine väterlichen Gefühle für beide stimmen mit ihren Wünschen nach einem guten, verstehenden Vater überein. Ich frage sie, ob sie schon einmal gedacht hätten, dass sie beide Kinder psychisch kranker Eltern wären und damit kaum gute Vorbilder für ihre anstehende Familiengründung hätten? Der Gedanke ist für sie irgendwie bedrohlich und entlastend zugleich.
Könnte er ein good enough father sein?
Seine körperlichen Reaktionen auf die Themen der Paartherapie sind stark: „Ich war todmüde nach der letzten Sitzung, mir war immer wieder schlecht und mir tat alles weh.“ Zuletzt sei es ihm in der Kindheit so schlecht gegangen. Bei seiner Frau ist es anders: Sie fühle sich nach jeder Sitzung besser, endlich würde mal alles angesprochen.
Seine Ängste werden stärker, je näher die Geburt rückt. Er fürchtet, dass sie ihn überwältigen, wenn das Kind geboren ist, und nicht weniger werden oder gar verschwinden. Er spürt eine unglaubliche Wut auf seine Familie und die Egoismen der Welt, aber noch keine Trauer über seine eigene Kindheit. Sie reagiert gestresst und weiß nicht, wie sie seine Zwangsgedanken stoppen kann.
Ja, Schuldgefühle seien etwas sehr Vertrautes für ihn. Ich frage ihn, ob seine Selbstvorwürfe vielleicht auch eine Art Selbstbestrafung seien. Ja, dann habe er weniger Schuldgefühle. Ein good enough father zu sein sei nur eine Beruhigungspille, er brauche die Selbstvorwürfe, um seine Schuldgefühle weniger zu spüren.
Wir sprechen über seine kreativen Seiten als Musiker, wie er es geschafft hat, trotz dieser Eltern ein sensibler Mann zu werden. Seine Mutter sei immer weicher und lebendiger geworden, wenn sie Musik hörte, dann tanzte sie mit den Kindern in der Küche, deshalb sei er vielleicht Musiker geworden. Und mit seinem Vater habe er handwerklich gearbeitet, heute würde er alles allein am Haus reparieren. Wenn er solche positiven Gefühle zulässt, empfindet er weniger Schuldgefühle und Druck zum Perfektionismus.
Tiefe Vertrautheit
Kleine Veränderungen machen Hoffnung. Als er noch seine Mutter im Pflegeheim besuchte, habe er immer eine bestimmte Buslinie genommen. Seit einigen Monaten habe er sie nicht mehr besucht und immer Herzklopfen und Schuldgefühle bekommen, wenn er den Bus sah. Jetzt habe er in der letzten Woche den Bus gesehen und er sei ruhig geblieben, das habe ihn erstaunt. Anscheinend kann er sich langsam selbst regulieren und fühlt sich seinen Ängsten nicht mehr so ausgeliefert.
Das Paar hat sich vor fünf Jahren bei einem Aushilfsjob kennengelernt. Sie fand ihn lustig, spannend und mysteriös. Auf meine Frage, mit wem er am meisten Ähnlichkeit habe, antwortet sie: mit mir selbst. Für ihn war sie wahnsinnig attraktiv, selbständig, gut gelaunt, selbstlos. Sie sei alles, was er nicht sei, und gebe ihm Stabilität.
Beide sind Kinder einer alleinerziehenden Mutter und eines psychisch kranken Elternteils. Während seine Mutter Anpassung und Unterordnung verlangte, war ihre Mutter behütend und zugewandt. Sein Vater hat ihn nicht beschützt, und ihr Vater war bedrohlich. So haben beide das Gefühl der tiefen Vertrautheit, weil sie das eigene Lebensthema im anderen erkennen und gegenseitig als Lösung der eigenen Probleme erscheinen: Sie ist für ihn die gute Mutter und er für sie der Mann, der ein überaus sorgender Vater sein will. Sie haben den Mut aufgebracht, diesen Glücksfall mit einem gemeinsamen Kind zu bestätigen, aber die schweren Gefühle der Vergangenheit haben sie schon vor der Geburt des Kindes heimgesucht.
Alte Ängste aktualisiert
Abschließend haben wir den Alltag mit dem Kind in sechs und zwölf Monaten besprochen und einen Blick in ihren Kokon mit dem Baby gewagt. Sie freuten sich, dass dabei keine Ängste auftauchten. Aber die Weltlage blieb für ihn bedrohlich und kein guter Ort für Kinder.
Ich habe das Paar siebenmal gesehen, der Zeitdruck durch die nahende Geburt war groß. Die Schwangerschaft hat alte Ängste ihrer eigenen Kindheit aktualisiert. Sie haben erkannt, dass die Aggressionen ihrer Eltern ein Ausdruck ihrer Krankheiten waren. So entstand eine verspätete Aufarbeitung ihrer kindlichen Gefühle von Hilflosigkeit, Wut und Trauer, allerdings symbolisch und verschoben. Aus der verletzenden Vergangenheit wurde eine bedrohliche Zukunft, aus einer aggressiven Herkunftsfamilie eine unerträgliche Weltlage.
Je mehr insbesondere Herr A. seine Gefühle zulassen, ansprechen und reflektieren konnte, desto ruhiger wurde er. Aber er bestand weiterhin auf seiner persönlichen Schuld. Vielleicht wollte er mit diesen Selbstvorwürfen nachträglich den Eltern recht geben, um sich das innere Bild eines Kindes guter Eltern zu bewahren? Dieser seelische Umgang mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen erinnerte mich immer wieder an Franz Kafka.
Dr. Wolfgang Hantel-Quitmann war Professor für klinische und Familienpsychologie in Hamburg, heute arbeitet er als Paar- und Familientherapeut in eigener Praxis. Sein neues Buch trägt den Titel Kafkas Kinder. Das Existenzielle in menschlichen Beziehungen verstehen (Klett-Cotta 2021).