Was ist gut? Was ist gerecht?

Psychologie nach Zahlen: Viele Vorstellungen von Moral sind nicht universell – doch diese schon.

Was immer wir auch tun, wir haben meist ein Gespür dafür, ob unser Verhalten mit den geltenden Werten und Normen in Einklang ist. Doch gilt das nur für unsere eigene Kultur? Wie universell ist das Moralempfinden? Um das zu prüfen, haben drei Forscher der Universität Oxford Informationen von 60 Ethnien rund um den Globus ausgewertet, darunter die afrikanischen Massai, ein schottischer Hoch­landclan, die Ifugao von den Philippinen und die nordamerikanischen Hopi. Die Wissenschaftler wollten wissen: Wer bekommt besondere Fürsorge? Wem wird in welcher Lage geholfen? Wer wird belohnt, wer bestraft? Wie werden begehrte Güter verteilt?

Sie entdeckten: Wir sind uns vor allem ähnlich! Von Alaska bis Polynesien gelten im Wesentlichen dieselben moralischen Grundsätze. Wir alle heißen Handlungen gut, die der gegenseitigen Unterstützung dienen. Zwar sind nicht alle der folgenden Regeln in jeder Gemeinschaft gültig, aber sie kommen zumindest in allen Regionen der Welt vor.

1 Die Familie kommt zuerst

Überall gibt es Menschen, die anderen helfen, ohne daraus einen unmittelbaren Vorteil zu ziehen. Allerdings findet diese altruistische Fürsorge vor allem unter Verwandten statt. Wir kümmern uns um den Nachwuchs, unterstützen aber auch Ältere und Schwächere aus der Familie. Family first ist das weltweit am meisten verbreitete moralische Gebot. Biologen kennen diese „Familienhilfe“ auch aus dem Tierreich und erklären sie so: Wer Angehörigen hilft, mit denen er Erbanlagen teilt, sorgt für den Fortbestand eigener Gene. Nun haben wir Menschen als besonders verständige Spezies noch mehr zu bieten. Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins führte analog zu den Genen den Begriff der „Meme“ ein. Er meint damit Errungenschaften, Ideen, Erfindungen, die nicht biologisch vererbt, sondern im sozialen Austausch weitergegeben werden – vor allem eben in der Familie, die auch eine Wahlfamilie sein kann. Auf diese Weise bleiben unser Schlachtplan für den Klimaschutz und das Rezept für den Apfelkuchen in der Welt, auch wenn wir längst nicht mehr sind.

2 Wir halten als Gruppe zusammen

Wir sind nicht nur als Familie eine Gruppe, die sich gegenseitig stützt und voneinander profitiert. Auch mit Nachbarn, Kollegen oder beim gemeinsamen Sport verbinden wir uns mit anderen zu festen Gemeinschaften. Der Zusammenhalt wird mit Ritualen und Traditionen besiegelt: Im Ruderklub tragen wir dasselbe Trikot, zum Geburtstag gibt’s Kuchen für die Kollegen, Weihnachten wird gewichtelt. Dass wir uns mit anderen zusammentun, Freundschaften schließen, Bräuche pflegen, die eigenen Buddys bevorzugt behandeln, gilt rund um den Globus als erwünscht. Ebenso, dass wir in einem Streit für die eigene Gruppe Partei ergreifen – und womöglich sogar für sie kämpfen.

3 Mal hilfst du mir, mal helfe ich dir

In jeder Gemeinschaft gibt es die Möglichkeit, sich auf Kosten der anderen durchzuschlawinern. Wir kennen das aus dem Büro. Da zapfen einige fleißig Kaffee aus der Gemeinschaftskanne, kommen aber nie darauf, selbst welchen aufzusetzen. Gegen solche Trittbrettfahrer, die Erträge ernten, ohne sich an den Kosten zu beteiligen, steht die moralische Regel des reziproken Altruismus. Sie schreibt vor: Wir sollen in einer Gemeinschaft mal Gebende, mal Nehmende sein. Wichtig ist, dass wir das Konto immer wieder ausgleichen. Um diese Gegenseitigkeit zu stärken, gilt in aller Welt als erwünscht: anderen vertrauen, sich an Absprachen halten, Schulden begleichen, Dankbarkeit zeigen, sich nach einem Fehlverhalten entschuldigen, Fehler verzeihen.

4 Mut wird belohnt

Mut wird weltweit hoch geschätzt. Schließlich braucht jede Gemeinschaft Menschen, die vorangehen, Neues wagen, die andere mit ihrer Tatkraft anstecken. Auf allen Kontinenten gilt daher: Wer sich etwas traut, wer Risiken eingeht, willensstark ist, sich durchsetzen kann und Führungsrollen übernimmt, bekommt dafür Anerkennung. Besonders beliebt sind Helden, die sich selbst für andere in Gefahr begeben.

5 Wir achten die Regeln

Nicht allein das Führen wird geschätzt, sondern auch das komplementäre Verhalten, das Folgen. Wir stellen uns vor: Es läuft das Endspiel der Frauen-Fußball-WM. Die Schiedsrichterin pfeift ein Foul – aber niemand hört auf sie! Das Spiel endet im Tumult, es herrscht das Recht der Stärkeren. Damit wir in einer Gemeinschaft gut zusammenleben, braucht es die Fähigkeit, sich zu fügen, Ältere und andere Respektspersonen zu achten und sich einem Regelwerk zu beugen. Daher gilt: Wer friedfertig und loyal ist, wer sich zurücknehmen kann und die Etikette wahrt, verhält sich kooperativ, also richtig. Kritiklose Gehorsamkeit kann allerdings, wie wir wissen, zu einer Gefahr für alle werden.

6 Wir sind fair

Begehrte knappe Güter sind in allen Gruppen ein konfliktträchtiger Punkt. Ob es dabei nur um eine Süßigkeit geht, den besten Platz im Schatten oder etwas wirklich Wichtiges: Wir haben gelernt, dass es besser ist, zu teilen, als um etwas zu kämpfen. Dabei sollte es fair zugehen. Was jeweils gerecht ist, ist allerdings Ansichtssache. Wir können gleiche Teile anstreben oder eine Zuteilung nach der Höhe des Einsatzes. Als gutes Verhalten gilt, wenn wir uns verhandlungsbereit zeigen und Kompromisse eingehen. Beliebte Regeln zum Teilen: abwechselnd dran sein, Münze werfen. Als verwerflich gilt, nach Sympathie vorzugehen.

7 Privateigentum wird respektiert

Eine andere Methode, drohende Konflikte um begehrte Güter gar nicht erst aufkommen zu lassen, besteht in der Anerkennung von privatem Besitz. Wenn etwas schon jemandem gehört, ist es sein Eigentum und darf nicht neu verteilt werden, ganz einfach. Von der Arktis bis Afrika findet sich daher die befriedende Regel: Privateigentum dürfen wir weder stehlen noch ungefragt nutzen. Ähnliches gilt für Landbesitz, den niemand ohne Erlaubnis queren darf. Und die Wohnumgebung ist Privatsphäre.

Oliver Scott Curry, Daniel Austin Mullins, Harvey Whitehouse: Is it good to cooperate? Testing the theory of morality-as-cooperation in 60 societies.

Current Anthropology, 60/1, 2019, 47–69

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2020: Mein wunder Punkt
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