Frühe Todesangst

Franz Renggli zeichnet in seinem neuen Buch die Geschichte der Mutter-Kind-Beziehung nach.

In der Tiefe unserer Seele lauern Todesängste. Sie bestimmen unser Erleben und Verhalten, sind die Quelle schwerer Krankheiten, so Franz Renggli, studierter Zoologe, Kulturanthropologe, Psychoanalytiker und Körperpsychotherapeut.

Was sind die Wurzeln dieser Ängste? Wie haben sie sich im Laufe der kulturellen Entwicklung verändert? Entlang dieser Fragen ist Rengglis Buch als eine Chronologie menschlicher Urängste zu lesen. Sie beginnt bei dem Umgang mit Kleinkindern im Verlauf der Evolution, fokussiert auf die ersten Hochkulturen, die ihre Kinder tagsüber von der Mutter trennten, schreitet weiter über die Frühe Neuzeit bis in unsere Gegenwart. Immer ausgehend vom frühkindlichen Erleben, wird etwa gezeigt, was es in der Frühen Neuzeit bedeutet haben mag, Kinder auch nachts von der Mutter zu trennen und in die Wiege zu verbannen: „Damit verliert es den letzten Rest an beruhigendem Körperkontakt mit der Mutter.“

Je höher eine Kultur, desto ausgepräg­ter sei die Trennung des Kindes von der Mutter, die im Industriekapitalismus ihre Spitze erreicht habe. Kleinkinder im 20. Jahrhundert lebten im „dauernden Panikzustand“. Das tobende Baby in uns sei die Ursache für die universelle Neigung zu Gewalt, Krieg und Krankheit – verstanden als Krieg gegen uns selbst.

Das Leiden der Kinder

Die Angst-Urerfahrung ist Renggli zufolge der Schlüssel für alle Spaltungen, etwa die Spaltung zwischen den Geschlechtern – alles geprägt in der frühen Entfremdung zwischen Mutter und Kind. Das zeigt, dass die Erfahrung von Nähe und Geborgenheit fundamental ist für die emotionale Entwicklung von Babys und Kleinkindern.

Dieses Buch sei „die Zusammenfassung und Gesamtdarstellung“ seiner bisherigen Bücher, so der Autor. Franz Renggli schreibt für Laien und versteht es gut, anthropologisches und historisches Wissen und tiefenpsychologische Deutungen mit seinen therapeutischen Erfahrungen zu verbinden. Seine Bezugspunkte sind John Bowlbys Bindungstheorie und die Zivilisationstheo­rie des Soziologen Norbert Elias.

Renggli sensibilisiert für das Leiden der Kinder, etwa für Kindermorde in der Frühen Neuzeit, in der sogar Martin Luther zum Mord an den „Wechselbälgern“ aufrief. Insofern ist das Buch eine bewegende, anregende Lektüre.

Das Manko dieser Kulturgeschichte liegt darin, dass alle Konflikte unserer Zivilisation auf eine einzige Gemeinsamkeit reduziert werden: auf die Todesangst am Anfang unseres Lebens als Ursprung für unsere Zivilisation. Mit diesem Deutungsschlüssel wird versucht, alle Ängste, Spaltungen, Verwerfungen zu erklären. Das ist verführerisch, denn wir sehnen uns nach einfachen Welterklärungen, diese aber ist zu schlicht. Das wird am Schluss deutlich, wenn sich der Kulturpessimismus unvermittelt in einen überspitzten Optimismus wandelt. Seit den 1960er Jahren erlebten wir eine „stille Revolution“. Heute würden Babys vermehrt gestillt, erlebten mehr Körperkontakt. Dies sei der Ursprung einer neuen Form von Geborgenheit und liebevoller Verbundenheit. „Ich kann das nicht anders ausdrücken: Ein Wunder ist geschehen.“ Wir seien auf einem langen Marsch in eine friedliche Welt. Eine Illusion, leider. Das Blickfeld scheint verengt, die Gegenwart wird nicht erfasst.

Franz Renggli: Verlassenheit und Angst – Nähe und Geborgenheit. Eine Natur- und Kulturgeschichte der frühen Mutter-Kind-Beziehung. Psychosozial, Gießen 2020, 174 S., € 19,90

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