Ein Licht in dunkler Nacht

Sie sind eine Auszeit im Adventstrubel – und eine Verbindung ins Überirdische. Düfte, Glocken. Karussell: Über die Psychologie des Weihnachtsmarkts.

Auf einem Weihnachtsmarkt steht ein beleuchteter Stand mit einem Weihnachtsmann mit Geschenken in einem Schlitten mit Rentier auf dem Dach des Standes
Viele Angebote auf dem Weihnachtsmarkt haben eine spirituelle Dimension. © plainpicture/Marina Biederbick

Es ist wieder einer dieser grauen Tage in der Vorweihnachtszeit, an denen die Sonne spärlich durch die Wolken und man selbst kaum durch die Masse an Menschen in der Stadt dringt, die scheinbar ausgerechnet heute alle ihre Besorgungen für die Festtage machen. Als ob man sich die freien Tage um Weihnachten schwer erarbeiten muss. Müde, gereizt und etwas hungrig geht es auf den Nachhauseweg. Aus einer Seitenstraße tönt eine Geräuschkulisse, und zugleich wird man von einer Geruchswolke eingehüllt, nun sieht man…

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Aus einer Seitenstraße tönt eine Geräuschkulisse, und zugleich wird man von einer Geruchswolke eingehüllt, nun sieht man ihn: den Weihnachtsmarkt!

Langsam lösen sich olfaktorische Kopf- und Herznoten, die Süße der Weihnachtsbäckereien und das Herzhafte der Braterei direkt neben dem Eingang. Da meldet sich wieder der Hunger. Warum nicht eine Wurst

Während man an einem der Stehtische verweilt, um eine dieser höllisch scharfen Würste zu essen, ordnet sich das Geschehen. All das, was sich zuvor zu einem überwältigenden Gesamteindruck verdichtet hatte, bekommt jetzt eine Struktur.

Hier ist ein Stand, der die typischen Weihnachtsklassiker anbietet: Lebkuchen, gebrannte Mandeln, kandierte Äpfel und Schokobananen. Dann einer, an dem geschnitzte Räuchermännchen verkauft werden, aus denen Weihrauch aufsteigt. Eine Bude weiter gibt es Christbaumschmuck. Daneben dreht ein Kinderkarussell seine Runden. Während aus Lautsprechern blechern Last Christmas tönt, fotografieren Eltern das Bemühen ihrer Kinder, die in der Fahrt eingenommene Rolle zu spielen.

Eine alternative Realität

Mitten auf dem Platz steht der riesige Weihnachtsbaum und neben ihm ein Glühweinstand, aus dem ein süßlicher Alkoholgeruch durch den Markt wabert. Ein Händler schlendert vorbei, der Ballons, blinkende Rentiergeweihe und Nikolausmützen verkauft. Ein Pärchen fragt, ob noch Platz an dem Tisch sei, und gesellt sich essend dazu.

Fast unbemerkt ist man in das Geschehen eingetaucht, wird Teil von ihm. Es ist ein besonderer Raum, solch ein Weihnachtsmarkt, der vom Alltag – häufig sichtbar durch das Eingangstor – abgegrenzt ist und nur zu bestimmten Zeiten existiert. Michel Foucault beschreibt diese Orte als Heterotope, als „andere Räume“, die innerhalb einer Kultur existieren und die die Erfahrung einer alternativen Realität zulassen.

Der Weihnachtsmarkt ist mehr als nur ein Markt, der zufällig an Weihnachten stattfindet. Verfolgt man die Chronologie dieser Festorte, so steht zu Beginn die Kirmes, in deren Bezeichnung noch ihr Ursprung in der Kirchmesse erkennbar ist. Das Besondere der Kirmes ist, dass die körperlichen Erlebnisse des Spirituellen durch symbolische Handlungen ersetzt wurden und sich auf den Kirchvorplatz verlagert haben.

Diese beiden Erlebnisqualitäten im Kirchraum und auf dem Kirchvorplatz stehen keinesfalls in einem Komplementärverhältnis, sondern erzeugen durch ihre räumliche Verbindung eine Außeralltäglichkeit. Es ist die Verbindung eines geistigen und eines körperlichen Erlebens von Spiritualität. Die Trennung zwischen Ich und Umwelt scheint für einen Moment aufgehoben, es ist ein Erlebnis der Einheit, des Heilseins.

Früchte aus dem Paradies

So sind viele der Angebote auf dem Weihnachtsmarkt, den es ähnlich der heute bei uns üblichen Form seit dem Spätmittelalter gibt, tradierte Reminiszenzen dieser spirituellen Dimension. Die Nähe der Räuchermännchen zum rituellen Räuchergut ist nur schwer von der Hand zu weisen, und die Christbaumkugeln für den Weihnachtsbaum sollen an den immergrünen Baum im Paradies erinnern. Doch auch scheinbar profane Objekte wie Lebkuchen wurden im Mittelalter häufig in Klöstern hergestellt und dort auf dem Oblatenteig gebacken, aus dem man die Hostie buk.

Der kandierte rote Apfel hingegen verweist eindeutig durch seine Bezeichnung als Paradiesapfel auf diesen Sehnsuchtsraum. Selbst die Banane – als Schokobanane angeboten – wurde im Mittelalter als Paradiesfeige bezeichnet und zitiert so gleichfalls den himmlischen Garten. Auch die Orange, deren Scheibe im Glühwein schwimmt, wurde als Paradiesfrucht gedeutet. Überhaupt der Glühwein, der gern abschätzig als billige und übersüßte Plörre abgetan wird, öffnet als erhitzter Würzwein den Zugang zu diesem außeralltäglichen Raum und erinnert durch seine Wärme und seine blutrote Farbe fern an das Abendmahl.

Verzauberter Alltag

Während man dem Geschehen folgt, senkt sich langsam der Abend über den Festplatz, und die bunten Lichter der Marktstände heben sich gegen den dunklen Abendhimmel ab wie die Edelsteine, mit denen das himmlische Jerusalem geschmückt sein soll. Das Pärchen am Tisch hat inzwischen seine Würstchen gegessen, und während man einige Worte wechselt, verschwindet einer der beiden und kehrt nach ein paar Minuten mit drei Tassen Glühwein zurück. „Ich dachte, etwas Wärme tut uns gut.“ Während man sich zuprostet, entsteht eine Gemeinschaft, eine communitas, und lässt uns ein Weihnachtsereignis erleben.

Plötzlich scheint der entzauberte All­tag wieder verzaubert, was nicht allein an den fröhlichen Gruppen liegt, die sich inzwischen mit blinkenden Rentiergeweihen und Nikolausmützen um die Stehtische beim Glühweinstand ein­gefunden haben.

Dr. Sacha Szabo ist Soziologe und wurde mit einer Arbeit über Kirmesattraktionen promoviert. Für das „Institut für Theoriekultur“, ein Netzwerk von ­Wissenschaftlern und Kulturschaffenden, untersucht und publiziert er zu Alltagskulturen wie dem Grillen, dem Ballermann, Playmobil und Kaugummi.

Literatur

Michel Foucault: Andere Räume. In: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Reclam, Leipzig 1992

Winfried Gebhardt: Fest, Feier und Alltag. Über die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen und ihre Deutung. Peter Lang, Frankfurt a.M. 1987

Daniel Miller: Weihnachten. Das globale Fest. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2011

Sacha Szabo: Glühwein. Das Außergewöhnliche im Außeralltäglichen. In: Sacha Szabo, Hannah Köpper (Hg.): „Fröhliche Weihnachten“. X-Mas Studies. Weihnachten aus Sicht der Wissenschaft. Tectum, Marburg 2013

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2021: Gelassen durch ungewisse Zeiten