Als ein Grundprinzip der Moralpsychologie nennt Jonathan Haidt in seinem Buch The Righteous Mind: „Intuitionen kommen zuerst, strategisches Räsonieren danach.“ Gemeint ist, dass wir über uns und unsere Mitmenschen längst geurteilt haben, wenn wir vernünftige Begründungen für unsere Werturteile nachschieben. Wohlüberlegtes, rationales Handeln ist eine Idealvorstellung, allerdings eine illusionäre. Haidt zeichnet das Bild vom Reiter auf dem Elefanten: Das Tier lässt sich vom Reiter nur steuern, wenn es ihm…
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zeichnet das Bild vom Reiter auf dem Elefanten: Das Tier lässt sich vom Reiter nur steuern, wenn es ihm genehm ist. Unsere Vernunft ist der Reiter, unsere Intuitionen sind der Elefant.
Als ein weiteres Prinzip nennt Haidt: „Moralität bindet und verblendet.“ Menschen treffen Entscheidungen je nachdem, ob sie als Individuen oder als Teil von Gruppen handeln. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe schafft eine eigene Moral.
Neben dem Elefanten erscheint bei Haidt häufig die altgriechische Figur des Glaukon, des Bruders von Platon. Im Sokrates-Dialog Der Staat sagt Glaukon, viele Menschen wollten nur in den Augen der anderen gut aussehen, nicht aber wirklich gut sein. Wären sie unsichtbar, hielte sie nichts davon ab, zu stehlen, zu vergewaltigen und Gefangene zu befreien. „Glaukonier“ verhalten sich für Haidt nur deshalb nach den Normen der Gesellschaft moralisch, weil sie fürchten, ihren guten Ruf zu verlieren.
PSYCHOLOGIE HEUTE Sie haben die psychologischen Fundamente der Moral erforscht. Sie benennen diese mit Fürsorge, Gerechtigkeit, Loyalität, Autorität und Heiligkeit. Und Sie meinen, konservative Politiker würden alle fünf „Geschmacksnerven“ der Moral ansprechen, während sich linke zum eigenen Schaden viel zu sehr auf die ersten beiden Fundamente konzentrierten. Haben Sie seit Erscheinen Ihres Buches noch mehr Fundamente gefunden?
Jonathan Haidt Oh ja! Moralität hat viele Fundamente. Ich weiß nicht, ob es nun fünf, siebzehn oder fünfzig an der Zahl sind. Ein guter Kandidat ist die Freiheit. Und als wirklich wichtiges Fundament, das mir in meinem Buch noch entgangen war, habe ich mittlerweile das Eigentum erkannt. Ich prüfe mögliche Fundamente der Moral daran, ob sie in der Evolution angelegt sind, also auch bei Tieren und den frühen Menschen vorkommen. Und in dieser Hinsicht ist das Eigentum der perfekte Kandidat. Vermutlich handelt es sich um das älteste Fundament überhaupt. Bisher hatte ich die Fürsorge dafür gehalten, denn die ist älter als die Säugetiere; auch einige Reptilien zeigen sie. Im Tierreich wirkt aber offenbar ein Grundaspekt der Spieltheorie, der da heißt: Wer schon da ist, gewinnt. Wer etwas zu verlieren hat, kämpft einfach verzweifelter. Wir sehen dieses Prinzip in vielen territorial handelnden Tieren, und der Mensch ist mit Sicherheit auch territorial angelegt.
PH Hat die Psychologie diesen Zusammenhang wirklich übersehen?
Haidt Ja, weil fast alle Psychologen – mich selbst eingeschlossen – zur Linken neigen. Die Linke tut sich schwer mit Eigentum, Konservative aber lieben es. Sie halten es für eine Grundvoraussetzung zivilisierten Lebens. Wir Psychologen waren bisher zu sehr mit der Erforschung von Gerechtigkeit, Gleichheit und Mitgefühl beschäftigt. Meine Kinder sind drei und sechs Jahre alt. Den ganzen Tag lang höre ich nun: „Das ist meins, rührt es nicht an.“ Eigentum ist elementar.
PH Damit sind wir beim Thema Wirtschaft angelangt. Denn schließlich geht es in der Wirtschaft immerzu um Eigentum. Da bleibt die Moral schnell auf der Strecke. Ich hätte gleich einen weiteren Kandidaten: Wo findet sich die persönliche Integrität der Handelnden: als ein weiteres Fundament der Moral – oder eher als moralischer Wert?
Haidt Mit Sicherheit als ein moralischer Wert! Zum Fundament wird Integrität, wenn Sie mir zeigen, dass sie auch bei Tieren vorkommt oder in der Frühzeit der Menschheit schon vorhanden war.
PH Das ist wohl eine Frage der Definition. Wenn Integrität heißt, das zu sein, was man vorgibt zu sein, dann finde ich sie in meinem Hund.
Haidt Das könnte passen. Aber ein häufiger Denkfehler liegt darin, zu meinen, die Fundamente würden das ganze Gebäude ausmachen. Es gibt auch Aufzüge, Fenster und die Heizung. Zur Moral gehört viel mehr als ihre Fundamente. Mir geht es darum, aufzuzeigen, dass beispielsweise Gerechtigkeit oder Mitgefühl keine sozialen Erfindungen sind. Als Fundamente der Moral reichen sie sehr viel tiefer.
PH Wie vermitteln Sie Ihren Studierenden der Betriebswirtschaft Ethik?
Haidt Wer Moralpsychologie wirklich ernst nimmt und das beherzigt, was in meinem Buch steht, erkennt schnell, dass Ethik nicht unmittelbar lehrbar ist. Im Seminarraum erreiche ich den Reiter, kaum aber den Elefanten. Dem Reiter kann ich viel über moralische Dilemmata sowie über begriffliche Unterteilungen, Konzepte und Kategorien der Ethik beibringen. Im wahren Leben ist aber immer auch der Elefant unterwegs. Ich erwarte überhaupt nicht, dass meine Studierenden später einmal ihren Chef konfrontieren: „Ich halte das, was Sie da tun, für ethisch falsch.“ Aus den klassischen Studien zum Gehorsam gegenüber Autoritäten von Stanley Milgram und zum Konformismus in Gruppen von Solomon Asch wissen wir, dass Menschen gegen ethische Zumutungen nicht einmal in Laborsituationen aufbegehren. Und da soll ich erwarten, dass meine Studierenden sich später einmal gegen ihren Vorgesetzten stellen? Ein solcher Ansatz, Ethik zu lehren, würde nicht gerade von psychologischer Kenntnis zeugen.
PH Und wie gehen Sie vor?
Haidt Mein Ziel ist eine psychologisch gut fundierte Ethiklehre für die Wirtschaft. Damit stehen wir noch ganz am Anfang. Ich habe deshalb als Erstes eine Forschungsplattform gegründet, auf der Wissenschaftler zu Fragen der angewandten Wirtschaftsethik zusammenarbeiten. Unter der Adresse www.ethicalsystems.org finden Sie eine Reihe ausgewiesener Experten wie Dan Ariely und Robert Frank. Wir tragen dort alles zusammen, was an Forschungsergebnissen vorhanden ist. Was wissen wir über die Faktoren, die zum Betrug animieren? Was wissen wir darüber, wie die Art der Bilanzierung ethisches Verhalten beeinflusst?
PH Als erstes Prinzip der Moralpsychologie nennen Sie, dass zunächst geurteilt und erst im Anschluss nachgedacht wird, dann aber auf Biegen und Brechen: Eine Rechtfertigung wird gesucht. Was bedeutet es für ein Unternehmen, wenn seine Manager und Angestellten so handeln? Ich habe mir das Studium der Betriebswirtschaft immer so vorgestellt, dass der umgekehrte Weg gelehrt und gelernt wird: Erst denken, dann urteilen und handeln.
Haidt Nun, auch Geschäftsleute sind Menschen. Deshalb nehme ich an, dass die intuitive Psychologie grundsätzlich dieselbe ist. Ich behaupte ja auch nicht, wir könnten nicht rational denken. Ich sage nur, dass wir uns als Individuen damit schwertun, sobald der Eigennutz oder das Gutdastehen involviert sind. Das heißt: Wer will, dass sich moralisch gutes Denken entwickeln kann, der muss Systeme installieren, die das unterstützen.
PH Was heißt das konkret?
Haidt Zu den wichtigsten Maßnahmen zählt, die Neigung zum Zustimmen zu überwinden. In jeder Abteilung eines Unternehmens, die strategische Entscheidungen trifft, braucht es deshalb Menschen, die Probleme auch aus ungewohnter Perspektive betrachten und den confirmation bias (die Bestätigungstendenz) der anderen infrage stellen. Diese kritische Distanz funktioniert übrigens nicht gut in Parlamenten, deren Mitglieder sich feindselig gegenüberstehen. Sie bewährt sich aber hervorragend in einem Team, dessen Erfolg allen am Herzen liegt.
PH Sie schreiben, viele Menschen seien Glaukonier, für die der Schein wichtiger ist als das Sein. Wie muss eine Gruppe oder ein Unternehmen zusammengesetzt sein, um den Einfluss der Blender und Heuchler zu deckeln?
Haidt Im Geschäftsleben ist es oft äußerst schwer, ehrlich die Meinung zu sagen oder zu kritisieren. Selbst bei geringfügigen Regelverletzungen fordert es große Überwindung, jemandem zu sagen „Ich denke, du irrst dich“ oder „Du hast dich falsch verhalten“. Deshalb ist es wichtig, ein anonymes Berichtssystem zu haben: zum Beispiel eine E-Mail-Adresse, an die Angestellte fragwürdige Vorgänge melden können. Zu einem gewissen Grad steckt ja in jedem von uns ein Glaukonier. Sobald wir wissen, dass die Kollegen anonym Beschwerden, Sorgen, ethische Fragen und Kritik vorbringen können, werden wir vorsichtiger. Das ist gemeint, wenn ich sage, dass zu einem Moralsystem auch geeignete Technologien gehören. Eine solche E-Mail-Adresse ist eine simple Technologie, die Glaukoniern sehr helfen kann, sich zu bessern. Andere Beispiele sind Monitore, Videokameras und Spiegel. Solche Technologien können helfen.
PH Sie schlagen im Ernst vor, Systeme der Denunziation einzurichten? So wie im alten Venedig, wo es Briefkästen gab, über die jeder Bürger seinen Nachbarn anzeigen konnte, und der wurde dann mitunter vom Staat verfolgt?
Haidt Das nicht, denn es geht überhaupt nicht darum, jemanden zu verfolgen. Solche Meldungen dürfen nicht als Beweismittel zugelassen sein. Sie sind Alarmglocken. Als Hochschullehrer schenke ich meinen Studierenden Vertrauen. Es kommt aber vor, dass in einem Kurs das Täuschen einreißt. Dann helfen mir Hinweise, gerade wenn sie anonym sind. Solche Rückmeldungen erlauben mir, richtig zu handeln.
PH Aber Kontrolle allein kann es doch wohl nicht sein.
Haidt Nein, da muss noch einiges hinzukommen: zum Beispiel, dass wir uns von dem unseligen Einfluss einiger Normen des Wirtschaftslebens freimachen. Viele Ökonomen machen den Fehler, immer noch an das homoökonomische Modell des menschlichen Handelns zu glauben. Sie meinen, wer Leistung will, muss dafür vor allem mit Geld bezahlen. Wenn Wirtschaftsführer bestimmte Ziele erreichen, gibt man ihnen dafür einen dicken Bonus. Das klingt logisch, ist es aber nicht. Denn wir sind nun einmal glaukonische Wesen, die im Zweifel den Schein herbeizaubern, um den Bonus zu bekommen. So wird dann alles in Bewegung gesetzt, zumindest diesen Schein zu erwecken, nicht selten auch mit Lug und Trug. Das war in meinem Land sehr gut zu beobachten, als man vor einigen Jahren Schulleiter mit Boni belohnte, wenn die Schüler bessere Noten erzielten. Raten Sie mal, was da passierte. Es stellte sich heraus, dass die Noten besser wurden, weil Lehrer falsche Antworten aus den Testbögen radierten. Genau das Gleiche passiert in der Wirtschaft. Der Bonus wird abhängig vom Aktienkurs bezahlt? Raten Sie, was dann passiert. Der steigt natürlich. Aber auf Dauer kann es einem Unternehmen damit sehr schlecht ergehen, weil langfristig falsch entschieden wurde.
PH Was können Verantwortliche in der Wirtschaft tun, um wirkliche Leistung zu belohnen und nicht die glaukonische Täuschung?
Haidt Dies mag banal klingen, ist aber wahr: Am wichtigsten ist schon bei den Einstellungen genauestens darauf zu achten, dass die richtigen Bewerber eingestellt werden. Da kann die Psychologie helfen. Psychologen können Persönlichkeitsmerkmale messen, die unethisches Verhalten begünstigen. Dazu zählen beispielsweise niedrige Werte für Empathie, hohe psychopathische Werte und gering ausgeprägte Gewissenhaftigkeit. Aber es ist nicht damit getan, bei Neueinstellungen äußerst sorgfältig zu sein. Es bedarf auch eines sehr bewussten Vorgehens beim Monitoring, beim Belohnen und beim Abstrafen. Vorgesetzte brauchen größte Sensibilität für die Unternehmenskultur. Lebt jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter das „Einer für alle, alle für einen“? Oder handelt es sich um einen Haufen selbstsüchtiger Individuen? Dabei kann man mit lauter selbstverliebten Einzelkämpfern durchaus erfolgreich ein Unternehmen betreiben. Das geht, wenn die Anreize für gewünschtes Verhalten sehr sorgsam gesetzt sind und die Arbeitsbeziehung bis ins Kleinste vertraglich geregelt ist. Es gibt aber auch viele Formen des Eigennutzes, die ein Unternehmen schwer beschädigen, weil die Vereinbarungen es zulassen, dass Einzelne gegen die Interessen des Ganzen handeln. Auf allen Ebenen gibt es bei den Mitarbeitern sowohl Wettbewerb als auch Zusammenarbeit. Wettbewerb kann zu mehr Leistung führen und gleichzeitig auf anderer Ebene die Zusammenarbeit aushebeln.
PH Sie unterscheiden zwischen Einzelnen und Gruppen, die miteinander konkurrieren.
Haidt Konkurrenz zwischen Individuen führt tendenziell eher zu schlechten Ergebnissen. Der Wettbewerb zwischen Gruppen aber ist meistens gesund. Wer ein Unternehmen oder eine Abteilung führt, muss dafür sorgen, dass Individuen nicht die Fähigkeit der Gruppe unterminieren, erfolgreich gegen andere Gruppen zu konkurrieren. Gruppenkonkurrenz kann zwar auch pathologisch werden, ist aber in aller Regel gesünder als Kampf zwischen den Einzelnen.
PH Und was können Vorgesetzte oder Kollegen gegen extrem rücksichtslose Einzelkämpfer unternehmen, die womöglich als gewiefte Glaukonier ihr amoralisches Vorgehen auch noch gut verkaufen?
Haidt Wir werden solche Menschen wohl immer unter uns haben; man wird sie nicht los. Es handelt sich aber nur um einen kleinen Prozentsatz der Bevölkerung. Man muss einfach mit ihnen bewusst umgehen und sie durchschauen lernen.
PH Sie sagen, dass wir alle in gewissem Maße Glaukonier sind. Gibt es denn gar keine Menschen, die wirklich nur ehrlich ihre Arbeit machen wollen und in ihrem moralischen Handeln das Sein dem Schein vorziehen?
Haidt Doch, die gibt es sehr wohl. Ich zähle mich selbst zu ihnen. Ich glaube sogar, dass die meisten Menschen in ihrer Arbeit einen Sinn suchen, dass sie auf ihre Firma stolz sein wollen. Denen geht es weniger darum, ihr Unternehmen besonders profitabel zu sehen, sondern darum, dass es für die Welt Gutes tut. Ich beobachte einen interessanten Perspektivenwechsel in der akademischen Welt. Unternehmen gelten zunehmend nicht mehr als grundsätzlich schlecht, sondern es wird durchaus anerkannt, dass sie auch Werte schaffen, wenn die kapitalistische Wirtschaft denn ordentlich funktioniert. Das Ziel ist, dazu beizutragen, dass es anderen Menschen besser geht. Mit diesem Gedanken motivieren Sie Menschen sehr viel besser als mit Boni. Von den meisten meiner Studierenden der Betriebswirtschaft höre ich, dass sie zwar auch Geld verdienen, vor allem aber an etwas Großartigem teilhaben wollen. Sie möchten ein Unternehmen schaffen helfen, dessen Produkte die Menschen wollen. Sie träumen von neuen Diensten, die so wertvoll sind, dass Kunden gern dafür bezahlen. Menschen haben eine Sehnsucht danach, etwas aufzubauen, kreativ zu sein und bei anderen in guter Erinnerung zu bleiben. Wir können also auf allen Ebenen an moralische Motive appellieren. Unsere Studierenden wollen in ethisch einwandfreien Unternehmen arbeiten, und diese haben es leichter als andere, wirklich gute Mitarbeiter zu finden. Wer ein Unternehmen wahrhaft ethisch einwandfrei führt, fährt also auf allen Ebenen eine Rendite ein. Ich garantiere Ihnen, das gilt für nahezu jede Branche.
PH Ist das nicht ziemlich naiv? Geht es in der Wirtschaft am Ende nicht doch allein um möglichst hohe Gewinne?
Haidt Damit könnte ich leben. Ich akzeptiere ja, dass wir Glaukonier sind. Mein Ziel ist es gerade nicht, Sittlichkeit in die Köpfe Einzelner zu hämmern, sondern die Moral in der Umwelt zu verankern. Und hier spielt der Gesetzgeber eine große Rolle. Regulierung und ein gut gestaltetes Rechtswesen können Systeme schaffen, in denen sich Moral lohnt. In den Vereinigten Staaten, vor allem an der Wall Street gibt es aber viele Systeme, in denen sich schlechte Ethik allzu gut rechnet; viele haben damit zu gut verdient. Das müssen wir unterbinden. Nach meinem Dafürhalten sieht es in Branchen, die tatsächlich Produkte herstellen oder Dienste anbieten, die von den Menschen gewollt sind, moralisch ziemlich gut aus. Die Finanzwirtschaft ist anders: sehr viel komplizierter und undurchsichtiger, mit ganz speziellen Problemen.
PH Ist in der Wirtschaft nicht der Profit anstelle der Moral der ultimative Beweis dafür, dass die Dinge „richtig“ gemacht werden?
Haidt Auch damit hätte ich überhaupt kein Problem. Ich sage ja nicht, dass Unternehmen nur noch moralisch richtig handeln und dafür die Gewinne opfern sollen. Was ich sage, ist, dass wir im Geschäftsleben auf allen Ebenen die Dinge so ordnen müssen, dass sich ethisch einwandfreies Verhalten langfristig lohnt. Sobald uns das gelingt, wird es überall in der Wirtschaft mehr korrektes Handeln geben. Es schafft nämlich ein großes Plus an Effizienz, wenn es mehr Vertrauen gibt und am anderen Ende weniger Verbrechensverfolgung oder gerichtliche Auseinandersetzungen notwendig sind. Gesamtwirtschaftlich wirklich interessant wird es, wenn auch die ganz großen Unternehmen ethisch besser handeln. Die meisten Amerikaner kaufen in Supermärkten wie Walmart ein, weil sie den niedrigsten Preis wollen. Solange Ethik sich nicht auch für die Massenanbieter lohnt, die ja den einkommensmäßig mittleren und unteren Teil der Gesellschaft abdecken, werden wir mit mangelhafter Moral leben müssen.
PH Es sind ja nicht nur die Unternehmen, sondern auch wir Konsumenten. Das wurde doch bei dem großen Fabrikunglück in Bangladesch deutlich, wo Arbeiterinnen billige Kleidung auch für Europa herstellten.
Haidt Der Kollaps des Rana Plaza war in der Tat ein schreckliches Unglück – und ein sehr gutes Beispiel, wie die Wirtschaftsmoral des Frühkapitalismus unter Druck gerät und sich dann doch weiterentwickelt. Nur wenige Straßen entfernt von hier, mitten in New York, kam es im Jahr 1911 zu einem der schlimmsten Industrieunglücke der USA. In der Triangle-Shirtwaist-Fabrik starben mehr als 140 junge Frauen bei einem Großfeuer. Auch meine Großeltern verdingten sich in solchen Fabriken; sie waren jüdische Einwanderer aus Russland. Auch sie litten unter entsetzlichen Arbeitsbedingungen. Die Katastrophe war so schrecklich, dass erstmals ernsthafte Reformen der Arbeitswelt auf den Weg gebracht wurden. Demokratien sind wirklich schlecht darin, in die Zukunft zu schauen, sie reagieren aber heftig auf emotional stark bewegende Ereignisse. Es überrascht mich nicht, dass in Bangladesch schreckliche Bedingungen herrschen. Ich sehe aber, dass Verbraucher jetzt Druck auf die Modeunternehmen ausüben. Dafür müssen sie gar keine moralischen Ausnahmemenschen sein. Es genügt, dass sie als Glaukonier mit der Wahl der Kleidungsmarken vor anderen gut dastehen wollen. Das wiederum wird die Gesetzgebung zum Schutz der Arbeiter in Bangladesch voranbringen.
PH Glauben Sie wirklich, dass die Wirtschaft durch die Anwendung psychologischen Wissens moralisch besser werden kann?
Haidt Aber natürlich! Das ist auch keine Frage des Glaubens, sondern der Forschungsergebnisse. Ich bin überzeugt davon, dass ich einen richtigen Zugang zur Moralpsychologie gefunden habe. Das Feld war einmal viel zu rationalistisch aufgestellt, viel zu sehr mit den Gründen befasst, die Menschen für ihr Verhalten angeben. Das hat nicht funktioniert, denn es war die falsche Psychologie. Wir haben in den letzten Jahren ein Verschmelzen von sozialpsychologischer Forschung, Intuitionismus, Neurowissenschaften, Primatenforschung und vielem mehr gesehen. Der Elefant ist jetzt erkennbar.
Jonathan Haidt wechselte 2011 von der University of Virginia an die Business School der New York University. Dort ist er Thomas Cooley Professor of Ethical Leadership. Sein Buch The Righteous Mind: Why Good People Are Divided by Politics and Religion liegt nicht in deutscher Sprache vor. 2011 erschien das Buch Die Glückshypothese: Was uns wirklich glücklich macht (Vak-Verlag).