Der Zappel-Philipp aus dem Buch Der Struwwelpeter ist fast ein Synonym geworden für Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Ist das die erste historische Erwähnung von einem Kind, das ADHS-Symptome aufweist – das Buch erschien ja erstmals 1845?
Steffen Müller: Ja, es ist eine der frühesten, aber – dieser Zusatz ist sehr wichtig – literarischen Darstellungen von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern, die wir heute am ehesten als ADHS-typisch interpretieren. Es war keine medizinische oder gar wissenschaftliche Beschreibung, sondern ja eher als moralische Erzählung gedacht. Bis der eigentliche Krankheitswert weiter eingeschätzt und irgendwann medizinisch kontextualisiert wurde, hat es noch ein bisschen gedauert.
Hat das Bild vom Zappel-Philipp überdeckt, dass auch Erwachsene ADHS haben können?
Ja, der Zappel-Philipp und ähnliche Darstellungen haben tatsächlich dazu beigetragen, dass ADHS lange Zeit ausschließlich als kindliche Störung definiert wurde und sich die Erkenntnis verzögert hat, dass ADHS auch Erwachsene betreffen kann.
Ein Grund dafür könnte sein, dass die ADHS-Symptomatik bei Kindern mehr im Vordergrund steht. Gerade im Kontrast zum schulischen Umfeld fällt es eben sehr auf, wenn ein Junge oder ein Mädchen hyperaktiv und unruhig ist.
Ich glaube zudem, dass das Krankheitsbild lange unter- oder fehldiagnostiziert wurde – ähnlich wie noch heute –, weil eine große Bandbreite an Komorbiditäten besteht. Das bedeutet, dass oftmals eine zusätzliche psychiatrische Erkrankung vorliegt, wie zum Beispiel eine Depression, eine Angststörung oder eine Suchterkrankung. Zusätzlich finden sich ADHS-typische Symptome oftmals auch bei anderen Störungsbildern wie zum Beispiel den affektiven Störungen. Das führte dazu, dass bei Erwachsenen ADHS häufig nicht als eigentliche Erkrankung erkannt wurde.
Und ein letzter wichtiger Punkt ist, dass sich bei Erwachsenen die ADHS-Symptomatik etwas anders zeigt, sie können manches besser kompensieren und sind weniger hyperaktiv, dafür oft unkonzentriert.
Es hat sich erst in den letzten Jahren, so ab den 90ern, mit fortschreitender Forschung gezeigt, dass die Störung eine lebenslange Herausforderung auch für Erwachsene sein kann.
Dieses Interview ist eine ausführliche Version des Editorials aus Psychologie Heute 10/2024: Bin ich gestresst oder habe ich ADHS? Wer die Antwort kennt, kann sein Leben beruhigen
Gibt es denn jenseits des Struwwelpeters frühe medizinische Quellen, die ADHS-ähnliches Verhalten beschreiben?
Ja, häufig wird da der deutsche Arzt Melchior Adam Weikard aus Fulda genannt. Er hat bereits 1775 in einer anonym veröffentlichten Schrift mit dem Titel Der philosophische Arzt über charakteristische Symptome der ADHS berichtet. Er beschrieb Menschen, die einen Mangel an Aufmerksamkeit zeigen würden, sie seien unfähig, sich längere Zeit auf bestimmte Gedanken oder auf eine Sache zu konzentrieren. Sie tendierten dazu, leicht abzuschweifen und impulsiv zu handeln, und hätten in der Folge Schwierigkeiten in ihrem Leben.
Aber als wegweisend für das Verständnis und die spätere Konzeptualisierung der Erkrankung im Kindesalter wird immer der Londoner Kinderarzt George Still genannt. Der hatte 1902 erstmals einem größeren wissenschaftlichen Publikum in The Lancet konkrete Patientenfälle vorgestellt. Er beschrieb Kinder, die als hyperaktiv galten, motorisch unruhig waren, die Schwierigkeiten hatten, sich zu konzentrieren. George Still bezeichnete das damals als Defekt der moralischen Kontrolle und vermutete einen angeborenen oder einen peripartalen erworbenen biologischen Defekt dahinter.
Dieser Text in The Lancet wird oft als Meilenstein gesehen. Und ab dann hat es ja noch mal knapp 80 Jahre gedauert, bis die Erkrankung den Namen ADHS erhielt.
Sie haben sich außerdem psychiatrische Quellen aus der Zeit um 1900 angeschaut, in der von der so genannten „chronischen Manie“ bei erwachsenen Patienten die Rede ist. Auch diese ein ADHS-Vorläufer?
Ja, die chronische Manie war ein Krankheitskonstrukt, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum von namhaften deutschen Nervenärzten wie Eugen Bleuler, C.G. Jung und Carl Wernicke intensiv diskutiert wurde und bei dem sich deutliche Parallelen zu den gängigen Diagnosekriterien der ADHS zeigen. Es handelt sich um ein Krankheitsbild, das sich irgendwo im Kontinuum zwischen gesund und krank bewegte, sich durch eine Jahre andauernde bis lebenslange Beständigkeit der Symptomatik charakterisierte und ähnlich wie heute gerade im Kontext der Anforderungen durch Schule, Beruf, Partnerschaft sichtbar wurde. Man muss annehmen, dass viele der Patienten von damals heute wahrscheinlich eine ADHS diagnostiziert bekommen würden, was am Ende die Hypothese stützt, dass es sich um eine konstant existierende Krankheit handelt.
C.G. Jung zum Beispiel beschrieb in seiner früheren psychiatrischen Schaffensphase – noch bevor er sich der Psychoanalyse zuwandte – Betroffene, die bereits in der Schule zerstreut und unaufmerksam gewesen waren. Häufig begabte Menschen, aber am Ende ohne Ausdauer in ihren Bemühungen und dadurch dann auch später im Beruf, so schreibt er, durch alle möglichen Vergnügungen von der Arbeit ablenkbar. Die Patienten waren insgesamt sehr lebhaft, konnten sich schwer konzentrieren und eckten in der Gesellschaft an. Es ging bei diesem Konzept also ausdrücklich um Erwachsene, also die adulte Form der ADHS.
Wurden denn in den historischen Quellen auch positive Eigenschaften hervorgehoben, Kreativität, hohe intrinsische Motivation bei bestimmten Dingen, Sensibilität?
Weniger, die Menschen wurden eher mit dem Stereotyp des Marktschreiers, des Vagabunden belegt.
Was waren die Ursachen für die „chronische Manie“, wie wurde sie damals erklärt?
Eine genaue Ursache war nicht klar. Die Nervenärzte hatten Schwierigkeiten, diese besonderen Patienten in bestehende neurologisch-psychiatrische Schemata einzuordnen. Einige Autoren ordneten den Krankheitstyp bei den affektiven Erkrankungen ein, das hieß in das Feld des manisch-depressiven Irreseins, und vermuteten erbliche Faktoren. Andere sahen die chronische Manie als eine Form der Psychopathie, die als tief in der Persönlichkeit und im Charakter der Betroffenen verankert galt und ebenfalls als genetisch betrachtet wurde. Umweltfaktoren wie Erziehung und soziale Einflüsse wurden als Auslöser oder Verstärker angesehen, aber weniger als primäre Ursache. Das spiegelt ganz gut die Sichtweise der damaligen Psychiatrie wider – eine sehr biologisch-deterministische Auffassung von seelischen Erkrankungen.
Wie wurde die Erkrankung behandelt?
Eine spezifische Behandlung für diese chronisch-manischen Patienten gab es nicht. Das Krankheitsbild war nicht ausreichend abgesteckt, manche zweifelten seine Existenz an – ähnlich wie heute bei der ADHS –, andere sahen in ihm eine Unterform von anderen Störungen. Die meisten dieser Patienten werden ihren Alltag einigermaßen organisiert bekommen haben. Um die Jahrhundertwende wurden ganz erheblich Betroffene in Heilanstalten untergebracht, das gängige psychiatrische Behandlungskonzept war geprägt von kontrollierenden und somatisch orientierten Ansätzen. Das heißt, es gab keine spezifische Medikation, geschweige denn psychotherapeutische Ansätze zur Behandlung dieser Erkrankten. Man konzentrierte sich eher darauf, das Verhalten der Kinder oder der Erwachsenen durch Erziehung, moralische Belehrung oder Bestrafung in den Griff zu bekommen. Die ersten größeren pharmakologischen Behandlungsversuche von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern liegen dann erst in den 1950er Jahren, als Ritalin, also Methylphenidat, eingeführt wurde.
Wie entwickelte sich das Verständnis für die ADHS-Symptomatik im Laufe des 20. Jahrhunderts weiter?
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die vorherrschende Meinung, dass die Ursache dieser Hyperaktivitätsstörung mit einer Hirnschädigung verbunden sein müsse, wenngleich man diese nicht so richtig sah oder diagnostizieren konnte. Später wurde das Konzept – man sprach von der Minimal Brain Damage-Erkrankung – vermehrt in Frage gestellt und dann durch die Bezeichnung der MCD, also der minimalen cerebralen Dysfunktion ersetzt, einer Störung des zentralen Nervensystems. Und erst ab den 70er Jahren hat man sich dann vor allem den Aufmerksamkeitsdefiziten der Betroffenen zugewandt, bevor dann ab den 90er Jahren mit weiterer Forschung immer deutlicher wurde, wie das Krankheitsbild besser erfasst werden kann. Und in dieser Zeit wurde auch klar, dass sich die Störung eben nicht verwächst, wie man lange angenommen hatte, sondern dass auch Erwachsene davon nach wie vor betroffen sein können.
Ich habe den Eindruck, dass jedes Zeitalter besonders herausstechende seelische Erkrankungen hat. Die Hysterie galt als die Erkrankung des Fin de siècle, Depression und ADHS sind die Erkrankungen unserer Zeit, also des frühen 21. Jahrhunderts. Würden Sie mir da folgen?
Ich würde zustimmen, dass gesellschaftliche und kulturelle Kontexte den Fokus auf bestimmte Erkrankungen verstärken können. Was die Hysterie Ende des 19. Jahrhunderts war, sind vielleicht jetzt die Depression und ADHS. Sie spiegeln die Ängste und die Herausforderungen der jeweiligen Epoche wider. Trotz alledem sollten wir anerkennen, dass sie unabhängig von gesellschaftlichen Trends reale, ernsthafte, mit Leidensdruck verbundene Erkrankungen sind, die am Ende eine differenzierte medizinische und psychologische Behandlung erfordern.
Dass ADHS momentan in sozialen Medien stark diskutiert wird und sehr „populär“ ist, reflektiert ja auch das zunehmende Verständnis für neuropsychologische Störungen und eine verstärkte gesellschaftliche Sensibilisierung, was psychische Krankheiten generell betrifft. Und am Ende bietet die Diagnose den Betroffenen da, wo sie zutrifft, eine Erklärung für Leid, das lange Zeit nicht eingeordnet werden konnte – und oftmals eine große Entlastung.
Würden Sie sagen, dass eine ADHS-Erkrankung heute stärker mit den gesellschaftlichen Anforderungen kollidiert als früher?
Nein. Man kann vielleicht sagen, dass die modernen Anforderungen an Leistung – das „Funktionierenmüssen“ – heute herausfordernder sind. Aber auch früher gab es gesellschaftliche Erwartungen, die Menschen mit ADHS vor große Probleme stellten.
Durch die Homogenisierung der Lebensumstände über die Jahrhunderte – durch Schulpflicht, Industrialisierung, Militarisierung – ist die Störung letztlich sichtbarer geworden. Aber vorhanden war sie schon vorher. Und historisch gesehen hat sich glücklicher Weise das Verständnis für die Erkrankung stark gebessert und es gibt dadurch viel mehr Unterstützungssysteme.
Viele Menschen kritisieren die medikamentöse Behandlung von ADHS, manche sprechen von „der Medikalisierung von Moralvorstellungen“, heißt: Menschen dürfen in unserer Gesellschaft nicht unruhig oder unkonzentriert sein, sie werden durch die Gabe von Ritalin „passend gemacht“. Was antworten Sie?
Dem würde ich widersprechen. ADHS ist eine anerkannte neurobiologische Störung mit einer gesicherten wissenschaftlichen Basis. Die Diagnose und die Behandlung kann Betroffenen helfen, ihr Potenzial auszuschöpfen. Und am Ende ist es viel mehr ein Akt der Unterstützung und nicht der Moralbewertung.
Es zeigt sich, dass nach wie vor viele Vorurteile herrschen und dass am Ende auch eine historische Aufarbeitung gegen diese Vorurteile argumentieren kann, weil sie zeigt: Es gab immer Menschen mit solchen Symptomen, auch wenn diese anders benannt wurden. Wir sehen die Betroffenen täglich in der erwachsenen psychiatrischen Versorgung, auch bei uns hier in der Klinik. Und es gibt Behandlungsmöglichkeiten und es gibt Linderung.
Steffen Müller ist angehender Psychiater. Er arbeitet als Arzt am Universitätsklinikum Leipzig und promoviert über historische Konzepte der ADHS