Stellen Sie sich vor: Sie sitzen am Frühstückstisch und versuchen, ein Gespräch zu führen, aber Ihr Blick wandert ständig umher und Sie können keiner Erzählung folgen. Während des Meetings im Büro verlieren Sie ebenfalls ständig den Faden, die Notizen sind unvollständig und helfen auch nicht auf die Sprünge. Beim Einkaufen am Nachmittag haben Sie plötzlich vergessen, was Sie besorgen wollten, und irren ziellos durch die Gänge. Später wollen Sie noch den Familienurlaub planen, doch beim Buchen der Reise…
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irren ziellos durch die Gänge. Später wollen Sie noch den Familienurlaub planen, doch beim Buchen der Reise verlieren Sie sich in Details, können sich nicht entscheiden und verschieben alles auf später. Am Abend ist der Kopf voller unerledigter Aufgaben und Gedanken, dabei wollen Sie doch einfach nur entspannen. Willkommen im Alltag eines Erwachsenen mit ADHS, der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung.
Symptome kommen und gehen
Lange Zeit galt ADHS als Kinderkrankheit. Als Störung, die sich mit der Zeit verwächst und im Jugendalter oder spätestens bei jungen Erwachsenen verschwunden ist. Doch heute wissen die Fachleute, dass das nicht so ist. Der Verlauf scheint viel komplexer: Symptome kommen und gehen, sie ändern sich über die Zeit, sie werden schwächer, manchmal fallen sie gar nicht mehr auf, dann wieder umso mehr, und je älter Menschen werden, desto besser können sie die Auffälligkeiten verkleiden, überspielen, Copingstrategien entwickeln. Mitunter verschwindet ADHS auch tatsächlich. Doch meistens eben nicht.
Wie viele Erwachsene ADHS haben, ist gar nicht so einfach zu bestimmen. Dazu braucht es die Daten von tausenden, besser zehn- oder gar hunderttausenden Menschen. Eine solche Erhebung hat ein chinesisch-britisches Team 2021 im Journal of Global Health veröffentlicht. Darin wurden die Daten aus 40 Studien zusammengerechnet, so kam man auf über 100000 Personen. Die weltweiten Daten ergaben, dass 2,58 Prozent der Erwachsenen eine ADHS hatten, die sie schon seit ihrer Kindheit begleitete. 6,76 Prozent hingegen berichteten über ADHS-Symptome, die sie zu Kindheitstagen noch nicht beobachtet hatten. Für Deutschland kam eine 2011 veröffentlichte Studie auf 4,7 Prozent der Erwachsenen, die ADHS-Symptome zeigten. Frauen (4,8 Prozent) und Männer (4,6 Prozent) sind dabei ziemlich gleich oft betroffen.
Es könnte allerdings gut sein, dass letztlich doch etwas weniger Menschen ADHS haben. Das sieht zumindest die Psychiatrieprofessorin Alexandra Philipsen so: „In epidemiologischen Studien ist es oft so, dass viele andere Erkrankungen nicht systematisch ausgeschlossen werden. So kommt man meist zu etwas erhöhten Zahlen. Ich würde eher von etwa 2,5 Prozent ausgehen.“
Die Störung war schon immer da
Philipsen ist stellvertretende ärztliche Direktorin am Universitätsklinikum Bonn und Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, sie ist eine weltweit anerkannte Expertin der ADHS-Forschung. Und sie weist auf ein weiteres Problem bei den ADHS-Zahlen hin: Die Diagnosezahlen liegen deutlich niedriger als die 2,5 bis 5 Prozent, zu denen ADHS in der erwachsenen Bevölkerung auftritt. „Wir haben in Deutschland zwar keine ganz so aktuellen Daten dazu, wie häufig die Diagnose gestellt wird. Aber die, die ich kenne, gehen von zuletzt 0,4 Prozent aus“, so Alexandra Philipsen. „Das heißt, dass ungefähr 2 Prozent der Menschen unerkannt ADHS haben.“ Das wären dann bei knapp 70 Millionen Erwachsenen 1,4 Millionen Menschen.
Dass die Dunkelziffer so hoch ist, hat mehrere Gründe. Ein Blick auf die generellen Symptome der Erkrankung hilft zu erkennen, welche das sind.
Bei Vorschul- und jungen Schulkindern ist die motorische Unruhe das Hauptsymptom. Die betroffenen Kinder können kaum ruhig sitzen bleiben, sie kippeln und fallen vom Stuhl, klettern ständig irgendwo hoch, sind über die Maßen ungeduldig und wirken wie getrieben. Es ist das klassische Bild des hibbeligen, unaufmerksamen Kindes, dessen Prototyp sich in Heinrich Hoffmanns Geschichte vom Zappelphilipp findet.
Wobei dieses Bild vor allem auf Jungen zutrifft. Bei den Mädchen zeigt sich ADHS oft weniger auffällig. Das Hyperaktive fällt mitunter weg, doch Probleme mit der Impulskontrolle, schlechte Zeitplanung, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsprobleme betreffen sie gleichermaßen.
Manchmal ist es komplett weg
Im Jugendalter ändert sich das Erscheinungsbild, bei Jungen sind die Anzeichen nicht mehr so augenscheinlich. Die körperliche Unruhe nimmt ab und weicht einer eher innenliegenden Symptomatik. Betroffene leiden unter starker innerer Unruhe, sie sind mit den Gedanken oft nicht bei der Sache. Zwar verbessert sich die Aufmerksamkeitsspanne, wodurch die Konzentrationsprobleme anderen nicht mehr ganz so stark auffallen, doch im Vergleich zu Gleichaltrigen können sich Menschen mit ADHS deutlich schlechter konzentrieren.
Dazu kommt, dass die Stärke der Symptome Schwankungen unterliegt. Es gibt Phasen, da treten sie ganz deutlich zutage, dann verschwinden sie wieder, manchmal kommen sie zurück, manchmal nicht. In einer 2022 veröffentlichten Studie zeigte ein Team um die Psychologin Margaret Sibley, wie unterschiedlich ADHS zwischen verschiedenen Personen verlaufen kann. Dazu prüften sie bei 558 Kindern mit ADHS 16 Jahre lang alle zwei Jahre, ob und wenn ja welche Symptome noch vorlagen.
Nur bei 10,8 Prozent der Kinder blieben die Symptome über die Zeit konstant. Bei etwa 30 Prozent der Kinder bildeten sich die Symptome hingegen zu wenigstens einem der Messzeitpunkte vollständig zurück. Bei 60 Prozent davon kamen sie jedoch zu einem späteren Zeitpunkt zurück. Lediglich 9,1 Prozent der mittlerweile Erwachsenen waren zum Ende der Untersuchung vollkommen symptomfrei.
Es ist also eher unwahrscheinlich, dass sich ADHS verwächst. Laut Behandlungsleitlinie weisen 50 bis 80 Prozent derjenigen, die im Kindesalter ADHS haben, auch als Erwachsene ADHS-Symptome auf, ein Drittel zeigt sogar das Vollbild der Störung.
Eine plötzliche Erwachsenen-ADHS?
In den vergangenen Jahren wurde in wissenschaftlichen Kreisen darüber diskutiert, ob es eine late-onset ADHD gibt – eine ADHS-Variante, die erst im Erwachsenenalter auftritt. Einige Studien legten diesen Schluss zunächst nahe. Doch bei genauerem Hinsehen kam die Fachwelt relativ einstimmig zu jenem Ergebnis, das Alexandra Philipsen wie folgt zusammenfasst: „Nein, eine ADHS, die plötzlich im Erwachsenenalter auftritt, gibt es nicht. Wenn man sich die einzelnen Fälle anschaut, findet man immer auch in der Kindheit schon Anzeichen.“
Die Störung war also schon in jungen Jahren da, sie wurde nur nicht erkannt. Eine weitere Herausforderung bei der Diagnose ist ja neben dem wechselnden Verlauf, dass sich die Symptome unterscheiden können, je nachdem, ob ein Mann oder eine Frau betroffen ist. Schon im Kindesalter ist das ein Problem. Denn wie bereits erwähnt: Das auffälligste Anzeichen – die motorische Unruhe – tritt vor allem bei Jungen auf, während sich die ADHS bei Mädchen stärker durch die Konzentrations- und Aufmerksamkeitsprobleme äußert.
Dieser Unterschied besteht auch noch bei Erwachsenen. Männer mit ADHS haben einen höheren Bewegungsdrang und sind impulsiver, Frauen haben eher unauffälligere Symptome wie Aufmerksamkeitsprobleme und Stimmungsschwankungen. Das macht es bei Frauen noch mal schwieriger, die Störung zu erkennen – im Durchschnitt erhalten sie die Diagnose vier Jahre später als Männer.
Was für sie ein deutlicher Nachteil ist. Denn für Menschen mit ADHS ist es in der Regel eine große Erleichterung, wenn Fachleute ihnen nach dem Bearbeiten von Selbst- und Fremdauskunftsfragebögen, dem Auswerten von Schulzeugnissen oder anderen Unterlagen und gegebenenfalls einem Test der kognitiven Funktionen am PC die Diagnose ausstellen.
Das hat vor allem zwei Gründe. Zunächst hilft die Diagnose, weil Menschen mit ADHS ihr Leben lang merken, dass mit ihnen irgendetwas nicht ganz stimmt und ihnen verschiedene Dinge schwerer fallen als anderen. Das kann den Selbstwert über die Zeit ganz schön strapazieren. Diese Menschen erhalten nun eine Erklärung für die Defizite, was entlastend wirkt.
Großer Einfluss der Gene
Eine Ursache für die Erkrankung findet sich häufig in den Genen. Wie Fachleute aus Zwillings- und Familienstudien wissen, liegt bei der ADHS die Erblichkeit bei etwa 80 Prozent. Was sehr viel ist: Genauso hoch ist etwa der genetische Einfluss auf die Körpergröße. Beim Intelligenzquotienten liegt die Erblichkeit nur bei etwa 60 bis 70 Prozent, für Depressionen sind es gar nur 30 bis 40 Prozent. Die Gene haben also einen großen Einfluss darauf, ob jemand die Störung entwickelt. Sie führen dazu – so lautet die derzeit vorherrschende Theorie zur Entstehung der ADHS –, dass das Gehirn langsamer reift als gewöhnlich, vor allem Frontalhirn und Temporalhirn. Welche genauen Gene und Mechanismen dem zugrunde liegen, ist bislang allerdings nicht näher bekannt.
Darüber hinaus werden einige Faktoren diskutiert, die das Risiko erhöhen könnten, ADHS zu entwickeln. Doch mit tatsächlich qualitativ hochwertigen Studien untermauert sind die wenigsten davon. Was sich jedoch sagen lässt: Schwerwiegende Ereignisse wie traumatische Hirnverletzungen, extreme emotionale Vernachlässigung und Unterernährung in frühen Lebensjahren können ADHS mit verursachen. Und: Ein hohes Alter des Vaters sowie Komplikationen während der Schwangerschaft, bei der Geburt oder in der ersten Zeit nach der Geburt – etwa ein niedriges Geburtsgewicht oder Sauerstoffmangel – erhöhen die Wahrscheinlichkeit ebenfalls, wenn auch nur gering.
Die Wege der Behandlung
Neben einer Erklärung bringt die Diagnose den ADHS-Betroffenen noch einen weiteren Vorteil: Durch die Diagnose erhalten sie eine Behandlung. Und die ist bei ADHS ziemlich vielversprechend.
Der erste Therapieschritt ist die Psychoedukation, bei der die Behandelnden dem Menschen mit ADHS alles Wichtige über die Ursachen, die Symptome, den Verlauf, die Auswirkungen und die Behandlung der Störung erklären. Insbesondere sollte der Fokus auch auf den individuellen Stärken liegen: Was kann jemand oder interessiert jemanden, was ihm oder ihr im Umgang mit ADHS zum Vorteil werden kann?
Die Behandlung selbst besteht in der Regel aus einer Psychotherapie, die in den meisten Fällen um Medikamente ergänzt wird. Insbesondere eine kognitive Verhaltenstherapie, die einen besonderen Fokus auf die ADHS legt, hat sich als wirksam erwiesen. In der Einzel- oder Gruppentherapie lernen die Patientinnen und Patienten konkrete Bewältigungsstrategien für ihre jeweiligen Alltagsprobleme: Wie kann ich mein Leben organisieren? Was hilft mir bei Stress? Wie erkenne ich meine Gefühle und wie kann ich meine Emotionen regulieren? Wie bekomme ich meine Impulsivität in den Griff?
ADHS zu erkennen ist der wichtigste Schritt
Bei Erwachsenen raten Fachleute zudem – anders als bei Kindern –, die ADHS mit Medikamenten zu behandeln. Dabei greifen Mediziner vor allem zu den Stimulanzien Amphetamin oder Methylphenidat oder dem selektiven Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin. Bei etwa zwei Drittel der Personen mit ADHS bessern sich die Symptome bereits bei der Behandlung mit dem ersten Medikament. Weiteren zehn Prozent, die zunächst keine Verbesserung spüren, hilft die Gabe eines anderen Medikaments.
Dabei gilt: Je früher die Diagnose erfolgt, desto besser schlägt die Behandlung auch an. Deswegen sollte, wer bei sich eine ADHS vermutet, das professionell abklären lassen. „Wenn ich merke, dass ich immer wieder Dinge nicht erledige, ich mich nicht konzentrieren kann, immer wieder Sachen verliere oder Termine vergesse, ich andere oft unterbreche, auf dem Stuhl herumwackle oder mir Abwarten schwerfällt und sich diese Symptomatik durch mein ganzes Leben zieht, wäre es gut, das mal auf ADHS prüfen zu lassen“, sagt Philipsen. „Wenn also ganz grundsätzlich der Verdacht aufkommt, dass man ADHS haben könnte, sollte man eigentlich immer einen Arzt oder eine Ärztin oder eine Kollegin oder einen Kollegen aus der Psychiatrie oder Psychotherapie aufsuchen. Denn ADHS zu erkennen ist der wichtigste Schritt.“
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Wo Diagnoseunterschiede zwischen starkem Stress und ADHS liegen in Bin ich gestresst oder habe ich ADHS?
Warum Diagnosevermutungen immer häufiger werden in „In einer Leistungsgesellschaft ist die Diagnose ADHS auch eine Möglichkeit, sich zu schützen“
Quellen
Margaret H. Sibley u.a.: Variable patterns of remission from ADHD in the multimodal treatment study of ADHD. The American Journal of Psychiatry, 179/2, 2022, 142–151
Alexandra Philipsen, Manfred Döpfner: ADHS im Übergang in das Erwachsenenalter: Prävalenz, Symptomatik, Risiken und Versorgung. Bundesgesundheitsblatt, 63, 2020, 910–915