Bin ich gestresst oder habe ich ADHS?

Sind wir im Alltag überwältigt, vermuten wir schnell ADHS dahinter. Fachärztin Astrid Neuy-Lobkowicz erklärt, wie sie eine passende Diagnose stellt.

Die Illustration zeigt einem Mann, der in einem bunten Strudel ist und dabei zielstrebig mit dem Zeigefinger nach oben zeigt und aus dem Strudel fliegt
Seitdem seine ADHS erkannt wurde, kann er konzentriert arbeiten. Endlich kein Tiefflieger mehr! © Laure Deleuze für Psychologie Heute

Mit tonloser Stimme schildert mir die junge Frau in meinem Sprechzimmer ihre Geschichte: Sie sei Anfang 30, studiere Jura und versuche gerade, im zweiten Anlauf ihr Staatsexamen abzulegen. Durch das erste war sie gefallen, weil sie sich nicht zum Lernen habe motivieren können und prokrastinierte. Das, müsse ich wissen, sei ganz typisch für sie. Wenn sie es überhaupt schaffe, sich an den Schreibtisch zu setzen, habe sie das Gefühl, ihr Gehirn sei vernebelt, kein Wissen bleibe hängen. Stattdessen liefen dort

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zu setzen, habe sie das Gefühl, ihr Gehirn sei vernebelt, kein Wissen bleibe hängen. Stattdessen liefen dort negative Gedanken in Endlosschleife. Auch genüge eine unbedachte Bemerkung von anderen, um sie tagelang in emotionale Abgründe zu stürzen.

Die einfachsten Dinge wie etwa der Haushalt überforderten sie, ihre Wohnung gleiche einer „Messibude“. Sie fühle sich seit langem ständig erschöpft und gestresst. Wegen ihrer Depressionen und ihrer bulimischen Essstörung war sie schon in Psychotherapie, nahm Antidepressiva ein. Beides brachte keine Veränderung. Sie schließt mit dem Satz: „Ich bin eine Versagerin, die nichts auf die Reihe bekommt.“

Ich mache bei der Patientin eine gründliche Anamnese, stelle dazu detaillierte Fragen zu ihrer Biografie und ihrer aktuellen Symptomatik: „Seit wann fällt es Ihnen schwer, sich zu fokussieren und motivieren? Wie kamen Sie in der Schule zurecht? Waren Sie schon immer so leicht ablenkbar? Seit wann ist Ihr Selbstwertgefühl gering?“

Ich diagnostiziere: ADHS.

ADHS als Modeerscheinung?

Diese vier Buchstaben – ausgeschrieben Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung – sind innerhalb eines Jahrzehnts zu einem Modewort avanciert, angestoßen durch die sozialen Medien. Unzählige TikTok-Clips, YouTube-Kanäle, Podcasts, Blogs oder Instagram-Storys drehen sich um Erfahrungsberichte, vermeintliche Anzeichen, Ursachenerklärungen und Ratschläge. Dabei geht es häufig auch um Überforderung und die Schwierigkeit, im Leben zurechtzukommen – die Frage wird diskutiert: Bin ich stark gestresst oder habe ich ADHS?

Um es vorwegzunehmen: Der Zusammenhang zwischen Stress und ADHS besteht, er ist komplex und betrifft sowohl die Symptome, die Ursachen als auch das Erscheinungsbild. Dennoch lässt sich das eine vom anderen klar unterscheiden, auch darum soll es in diesem Text gehen.

Ich will den Forschungsstand, meine professionellen und meine persönlichen Erfahrungen teilen – nach 25 Jahren als Fachärztin und Psychotherapeutin mit dem Schwerpunkt ADHS, die selbst als Erwachsene diagnostiziert wurde; und als Mutter von fünf Kindern, von denen drei von ADHS betroffen sind. Im Laufe der Jahrzehnte habe ich eine große Anzahl an Patientinnen und Patienten mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom behandelt. Noch heute staune ich oft, wie schnell man ihnen helfen kann, wenn die Diagnose korrekt gestellt wird und eine leitliniengerechte Behandlung erfolgt. Doch das scheitert häufig nicht nur an den langen Wartelisten der behandelnden Psychiaterinnen und Psychotherapeuten, sondern oft auch an deren fachlichem Wissen und ihrer fehlenden Bereitschaft, sich bezüglich ADHS fortzubilden.

Das bin ich!

Seit ADHS zu einem Modethema geworden ist, bekommt unsere Praxis täglich mehr als 30 Anfragen, wir haben lange Wartezeiten, 30000-mal wird unsere Website monatlich angeklickt. Spezialisierte Zentren werden geradezu überrannt. Bis vor wenigen Jahren kamen die erwachsenen Patienten und Patientinnen zu uns, weil ihre Kinder diagnostiziert worden waren und sie sich in der Auseinandersetzung mit dem Störungsbild wiedererkannten. Jetzt hören wir: „Nachdem mir bei YouTube mehrfach Videos dazu angeboten wurden, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Das bin ich.“ In einer Wochenzeitung war unlängst zu lesen, „die überforderte Frau“ diagnostiziere „sich selbst mittels Social Media ADHS“.

Ich behaupte nicht, dass Menschen, die sich in einem Influencer-Clip wiedererkennen, auch alle ADHS haben. Aber bei vielen bestätigt sich der Verdacht. Daten einer großangelegten internationalen Studie von 2020 zeigen eine Häufigkeit von 2,8 Prozent bei anhaltender ADHS seit der Kindheit und 6,8 Prozent einer symptomatischen ADHS im Erwachsenenalter – was nicht gleichbedeutend mit einer Diagnose ist. In der Fachwelt besteht aber Einigkeit über eine bestehende Unterdiagnostik. Deutsche Krankenversicherungs­daten von 2019 zeigen, dass nur 0,2 Prozent der Versicherten im Erwachsenenalter die Diagnose ADHS haben und behandelt werden. Besonders bei Frauen wird ADHS weniger wahrgenommen, sie werden rund vier Jahre später diagnostiziert, was sich gerade in Zeiten der Schul-und Berufsausbildung nachteilig auswirkt.

Die Illustration zeigt ein Mädchen mit Rucksack zusammen mit einem großen Bleistift, Besen, Topf, Ball, Stecker und Fragezeigen
„Heute putze ich die Wohnung!“ Ohne Konzentration verliert sie sich in anderen Aufgaben. Und dann schämt sie sich, weil sie alles vergisst.
Die Illustration zeigt ein Mädchen mit Rucksack zusammen mit einem großen Bleistift, Besen, Topf, Ball, Stecker und Fragezeigen
„Heute putze ich die Wohnung!“ Ohne Konzentration verliert sie sich in anderen Aufgaben. Und dann schämt sie sich, weil sie alles vergisst.

Wenn zugrundeliegende ADHS übersehen wird

Eine Diagnose besteht grundsätzlich aus mehreren Teilen: Ich führe ein eingehendes Gespräch, in dem ich mir die spezifischen Probleme, die Symptome und die Lebenssituation schildern lasse. Wichtig ist vor allem auch die Anamnese bezüglich der Schul- und Ausbildungskarriere. Die Kernsymptome der ADHS – beispielsweise Konzentrationsstörung, Ablenkbarkeit, desorganisiertes Verhalten, schnelle Stimmungswechsel, Impulsivität – müssen sich im gesamten Lebensverlauf darstellen, da ADHS nicht erworben wird. Ergänzend dazu füllt die Person ADHS-Fragebögen aus. Einschränkend muss gesagt werden: Kein Test allein ergibt die Diagnose.

Es gibt auch keine neuropsychologischen Testverfahren, die ADHS beweisen, auch EEG-Untersuchungen und bildgebende Verfahren können das nicht. Entscheidend ist also die Feststellung der ADHS-Symptome, die Darstellung, inwieweit diese das aktuelle Leben beeinträchtigen, und welche Zusatzerkrankungen bestehen. Alle diese Puzzleteile ergeben ein Gesamtbild, das eine Diagnose zulässt.

In vier von fünf Fällen geht ADHS mit weiteren psychischen Erkrankungen einher, 50 Prozent entwickeln Depressionen und Angststörungen im Laufe des Lebens. Weitere Begleiterkrankungen sind Essstörungen, Suchtverhalten oder soziale Phobien. Werden nur die Begleiterkrankungen erkannt und behandelt, ohne dass die darunterliegende ADHS therapiert wird, zeitigt die Behandlung keinen Erfolg.

Reizoffen, hypersensibel und dünnhäutig

Eine Verwechslung mit einem Stresssyndrom kann ausgeschlossen werden, selbst wenn sich die Symptome wie etwa innere Unruhe, das Gefühl der Überforderung und eine Beeinträchtigung der Denk- und Merkfähigkeit überlappen. Der entscheidende Unterschied: Eine gestresste Person erlebt diese Symptome erst seit einer gewissen Zeit, bedingt durch eine fordernde Lebenssituation, etwa im Beruf, durch Elternschaft oder belastende Umstände. Bei einer Person mit ADHS hingegen ziehen sich die Anzeichen durch die gesamte Biografie, bereits in der Kindheit waren diese vorhanden. Kurzum: Stress geht mit dem Stressor, ADHS bleibt.

Wichtig ist noch zu erwähnen, dass ADHS-Betroffene reizoffener, emotionaler bis hypersensibel, dünnhäutig und verletzlicher sind, was dazu führt, dass sie tendenziell ­gestresst sind. Nur unter großer Anstrengung gelingt es ihnen, ihre innere Unruhe zu verbergen, ihr Umfeld nicht zu nerven, sich emotional zu kontrollieren, sich zu fokussieren und ihre Alltagsanforderungen pünktlich zu erfüllen. Infolgedessen leiden sie häufig und früh unter Erschöpfungssymptomen.

Ein komplexes Anderssein

Die eingangs vorgestellte junge Frau kam zu mir, nachdem sie jahrelang wegen ihrer Depressionen und einer Essstörung in therapeutischer Behandlung gewesen war – niemandem war in den Sinn gekommen, sie auf ADHS zu untersuchen. Ihr Fall ist typisch für ADS bei Frauen. ADS ist ein Subtyp, bei dem die Hyperaktivität fehlt. Da meine Patientin in der Schule nicht störte und aufgrund ihrer hohen Intelligenz und eines unterstützenden Elternhauses ein gutes Abitur schaffte, kam sie zunächst zurecht.

Am Studienort auf sich allein gestellt, ohne feste Struktur und Unterstützung, änderte sich das. Sie konnte sich im Studium nicht organisieren, war konzentrationsgestört, prokrastinierte und schaffte schließlich das Staatsexamen nicht. Schuld-, Scham- und Minderwertigkeitsgefühle führten sie in eine Depression. Zudem entwickelte sie eine Bulimie, eine Störung der Impulskontrolle. Sie regulierte den Stress und die Anspannung mit Essattacken und selbst verursachtem Erbrechen.

Gleich zu Beginn kläre ich die Patientin umfassend psychoedukativ auf. Dabei erörtere ich die Entstehung und die Ursachen des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms, wie es sich im Erleben und in der Biografie der Betroffenen äußert. Für die Behandelten ist es wichtig, dass ich ihnen das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom als neurodivers schildere, weil diese Haltung weder wertet noch pathologisiert. Vielmehr versteht man es als ein komplexes Anderssein, mit dem ein anderes Stärke- und Schwächeprofil einhergeht. Danach führe ich aus, welche drei Therapiebausteine zur Verfügung stehen: Information, Medikation und gegebenenfalls Psychotherapie.

„Ich konnte auf einmal aufräumen, statt alles aufzuschieben.“

Ich verordne in solchen Fällen die von den ADHS-Leitlinien empfohlenen Stimulanzien Methylphenidat und Dexamfetamin. Diese Substanzen gleichen den genetisch bedingten Dopaminmangel im Gehirn aus. Die rasch eintretende Wirkung beschrieb die junge Frau als lebensverändernd, wie ein Wunder. Zum ersten Mal habe sie einen Text konzentriert lesen und den Inhalt abspeichern können. Auch war sie in der Lage, ihre Vorhaben in die Tat umzusetzen. „Ich konnte auf einmal einfach meine Wohnung aufräumen, statt alles aufzuschieben.“ Das erlebte sie wie eine Erlösung, weil sie sich bisher immer dafür geschämt hatte, einfach nicht anfangen zu können.

Die Bulimie, deretwegen sie jahrelang in Psychotherapie gegangen war, hörte auf, sie musste nicht mehr essen, um ihre Anspannung zu reduzieren. All diese Erfahrungen führten zu einer neugewonnenen emotionalen Stabilität und zu Erfolgserlebnissen – was wiederum ihr Selbstwertgefühl enorm steigerte. Sie hatte jetzt eine Erklärung, weshalb sie trotz ihrer Anstrengungen so viele Misserfolge hatte einstecken müssen: ADHS.

Therapieversager und Tiefflieger

Die meisten Anfragen in unserer Praxis kommen von Menschen, die eine lange Odyssee von Psychotherapien, medikamentösen Behandlungen und oft auch Klinikaufenthalten hinter sich haben. Dass sie trotz der Interventionen noch immer unter Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit und Impulsivität leiden, sie ihr Leben nicht organisiert bekommen, treibt sie in tiefe Verzweiflung. Diese Menschen erleben sich nicht nur als Therapieversager, sondern als Tiefflieger. Dabei liegt es nicht an ihrem mangelnden Engagement, sondern an der Fehldiagnose ihrer Therapeutin oder ihres Therapeuten.

2003 schrieb ich mein erstes Buch über ADHS. Damals wurde ich bei einem Vortrag bei der Psychoanalytischen Gesellschaft in Frankfurt beschimpft, mir wurde vorgeworfen, Patientinnen und Patienten zu „psychiatrisieren“. Dazu muss man wissen, dass Psychologische Psychotherapeutinnen keine Medikamente verordnen dürfen, Psychotherapeutinnen mit ärztlicher Approbation (wie ich) hingegen schon. Die anwesenden Psychoanalytiker waren der Auffassung, ich entziehe ihnen die Klienten und mache diese unnötigerweise zu Psychiatriepatienten.

Ich halte viele Vorträge vor Fachärztinnen und Psychotherapeuten; zuletzt wieder an einer großen psychiatrischen Klinik vor Assistenzärztinnen. Ich ­frage die Zuhörenden dann erst einmal, ob es bei ­ihnen ADHS-Fälle gibt, und ­bekomme zur Antwort: Nein. Oder: Einige ­wenige. Zudem erfahre ich, dass eine ­Diagnostik auf ADHS auch bei typischen ­Symptomen oftmals nicht durchgeführt wird. Am Ende der Fortbildung korrigieren die Teilnehmenden ihre Aussagen: Ich habe mindestens drei ADHS-Patientinnen oder -Patienten auf Station und habe das nicht gewusst.

Vorwiegend neurobiologisch

Studien zufolge ist jede fünfte bis siebte Patientin in psychiatrischer Behandlung von der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung betroffen. Auch in den Behandlungszimmern der Psychotherapeutinnen dürfte es nicht anders aussehen. Deshalb ist es erstaunlich, dass sich so viele Behandelnde nicht ausführlicher mit ADHS befassen. Für mich stellt das einen Kunstfehler dar, weil Patienten eine wirksame Therapie vorenthalten wird. Zudem liegt die Ursache von ADHS weder in Kindheitstraumata und Vernachlässigung noch in innerfamiliären Konflikten, sondern ist vorwiegend genetisch bedingt und muss als neurobiologische Erkrankung behandelt werden.

Immer wieder begegnet mir eine ausgeprägte Skepsis der Diagnose selbst gegenüber. Auch wird der Schwerpunkt auf psychotherapeutische Behandlung gelegt und die Wirksamkeit oder Notwendigkeit einer spezifischen Medikation generell angezweifelt. Die Leitlinie für adulte ADHS sagt ganz eindeutig, dass als erste Maßnahme immer eine medikamentöse Einstellung erfolgen sollte. Eine großangelegte Studie zeigt, dass ein Teil der ADHS-Patientinnen keine Psychotherapie mehr braucht, sobald der Botenstoff Dopamin hochreguliert wird.

Klarer Kopf und dickes Fell

ADHS ist somit das einzige psychiatrische Krankheitsbild, bei dem eine medikamentöse Behandlung vor der Psychotherapie steht. Oft ist eine Psychotherapie sogar erst sinnvoll, nachdem eine medikamentöse Einstellung erfolgt ist, denn wenn sich Patienten nicht konzentrieren können, vergesslich und sprunghaft sind, ist der Inhalt der Therapie schon vergessen, wenn sie die Praxis verlassen.

Viele Psychiater und Psychiaterinnen fordern die für eine Verschreibung erforderlichen Blankorezepte bei dem ­Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte erst gar nicht an – der bürokratische Aufwand ist ihnen zu groß. Psychostimulanzien fallen unter das Betäubungsmittel-gesetz, da sie auf neurotypische Menschen euphorisierend und antriebssteigernd wirken und somit ein Suchtrisiko bergen. Bei ADHS-Betroffenen hingegen führen sie zu mehr Ruhe, ­Klarheit, Gelassenheit und weniger Kränkbarkeit. Aufgaben ­werden dadurch angegangen und zu Ende gebracht. Sie ­machen, wie ich gerne sage, einen klaren Kopf und ein dickes Fell.

Annähernd die Hälfte der Patientinnen benötigt neben der medikamentösen Behandlung mit Stimulanzien zusätzlich Psychotherapie. Die Behandlungsleitlinien empfehlen die Verhaltenstherapie. Nur eine mit ADHS wirklich vertraute Psychotherapeutin ist in der Lage, die Besonderheiten des Störungsbildes zu verstehen. Es geht nicht darum, dass neurodivergente zu neurotypischen Menschen werden, sondern sie in der Verhaltenstherapie dabei zu unterstützen, sich besser zu organisieren und zu motivieren und die intensiven Gefühle besser zu regulieren.

Frei von Selbstvorwürfen, anders zu sein

Die Forschung geht davon aus, dass ADHS zu rund 80 Prozent genetisch bedingt ist. Noch ist die Störung nicht vollständig verstanden, als gesichert gilt, dass der Botenstoff Dopamin im Gehirn zu rasch abgebaut wird. Wie bei allen psychischen Erkrankungen besteht eine komplexe Wechselwirkung zwischen den Erbanlagen, sozialen Bedingungen und lebensgeschichtlichen Ereignissen.

Als schützende Faktoren gelten Studien zufolge liebende und unterstützende Eltern, die klare Grenzen setzen, über hohe Ressourcen verfügen und gute Vorbilder sein können. Eine reizarme Umgebung und eine intakte Familie wirken sich positiv aus. Zu den verstärkenden Einflüssen zählen ein niedriger sozioökonomischer Status (Armut), überforderte oder erkrankte Eltern, familiäre Suchterkrankungen und belastende Situationen wie etwa Flucht oder Vertreibung.

ADHS gilt im neuen Diagnoseverzeichnis ICD-11 als neurobiologische Entwicklungsstörung, die nicht verändert werden kann, mit der es aber möglich ist, ein erfolgreiches und glückliches Leben zu führen. Viele ADHS-Betroffene sind nach der Diagnosestellung erst einmal erleichtert und entlastet: Endlich habe ich eine Erklärung für mein lebenslanges Anderssein! Oft weinen und lachen sie gleichzeitig. Sie sind tief betroffen und es quält sie die Frage, was aus ihnen geworden wäre, wenn die Diagnose früher gestellt worden wäre und sie Zugang zu einer Behandlung erhalten hätten. Oft müssen sie ihre Trauer über die unwiederbringlich verpassten Chancen in einer Psychotherapie aufarbeiten.

ADHSler verfügen über vielfältige Stärken wie beispielsweise Originalität, Kreativität und Flexibilität. Brennen sie für eine Sache, können sie im Hyperfokusmodus extrem leistungsfähig sein. Für Betroffene ist es sehr entlastend, wenn sie zu der Erkenntnis kommen: Ich bin anders und ich bin nicht faul, dumm oder böse. Niemand ist schuld, weder ich noch meine Eltern sind es, sondern ich bin so zur Welt gekommen und meine Aufgabe ist, einen guten Weg damit zu finden. Genau das schafft Selbstakzeptanz und befreit von den vielen Selbstvorwürfen und den Schamgefühlen, „anders zu sein“.

Kampf gegen das eigene Chaos

Noch heute führe ich einen Kampf gegen mein eigenes Chaos. Glücklicherweise gewinne ich diesen in den letzten Jahren immer öfter. Nichtstun und einfach mal abschalten fällt mir bis heute schwer, weil ich ständig neue Ideen habe, die ich zwar oft umsetze, aber damit auch meine Familie und mein Umfeld strapaziere. Auch spontanes Jasagen ist ein impulsives Verhalten, wenn man nicht die Konsequenzen bedenkt, die sich daraus ergeben.

Aber ich sage allen meinen Patientinnen und Patienten: Ich würde meine ADHS nie hergeben. Denn ich habe gelernt, auch ihre vielen positiven Seiten zu nutzen. Ich versetze andere Menschen immer wieder in Erstaunen, weil ich unter all dem Trash auf dem Flohmarkt ein wunderschönes Stück entdecke. Auch befähigt mich meine Hypersensitivität, feinste Schwingungen bei meinen Patientinnen aufzunehmen. Meine Authentizität ist zwar am Beginn oft gefürchtet – ich bin bekannt dafür, offen und unverblümt meine Meinung zu sagen und keine Konfrontation zu scheuen –, aber viele meiner Patientinnen sagen mir, dass sie genau das besonders an mir schätzten und dass es das sei, was sie weitergebracht habe.

Welche Fragen sollten Sie sich stellen, wenn der Verdacht auf ADHS besteht?

Nehmen Sie sich Zeit bei der Beantwortung. Gehen Sie gedanklich auch in Ihre Kindheit zurück, da die Symptome schon vor dem 12. Lebensjahr vorhanden sein müssen, um die Kriterien für eine Diagnose zu erfüllen.

  • Können Sie sich nicht über längere Zeit konzentrieren?

  • Sind Sie leicht ablenkbar?

  • Sind Sie häufiger unruhig und getrieben?

  • Haben Sie Probleme damit, abzuschalten und innerlich zur Ruhe zu kommen?

  • Fällt es Ihnen schwer, Aufgaben anzufangen oder zu Ende zu bringen?

  • Haben Sie Probleme damit, sich zu organisieren?

  • Können Sie nur schwer entscheiden, was wichtig oder unwichtig ist?

  • Haben Sie Probleme damit, die Zeit richtig einzuschätzen, und sind Sie häufiger unpünktlich?

  • Erleben Sie häufige und rasche Stimmungswechsel?

  • Sind Sie schnell gekränkt und verletzt?

  • Können Sie schnell wütend und ärgerlich werden?

  • Treffen Sie häufiger Entscheidungen oder geben Zusagen, ohne die Konse­quenzen zu bedenken?

  • Sind Sie schnell ungeduldig?

Dr. med. Astrid Neuy-Lobkowicz ist Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie mit zwei Schwerpunktpraxen in München und Aschaffenburg. Sie verfügt über eine 25-jährige Erfahrung in der Behandlung der ADHS, die im Erwachsenenalter auch bei ihr diagnostiziert wurde. Zuletzt erschienen von ihr die Ratgeber Habe ich AD(H)S? und Weibliche AD(H)S.

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Quellen

Paul Wender: A Guide of Understanding Symptoms, Causes, Diagnosis, Treatment and changes over time in children, adolsecents and adults. Oxford University Press 1973

Berit Libutzki et al.: Disease burden and direct medical costs of incident adult ADHD: A retrospective longitudinal analysis based on German statutory health insurance claims data. Cambridge University Press 2020

Sarah Hohmann et al.: Genetische Grundlagen der ADHS – ein Update. In: Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. 2022, Band 50, Nummer 3, S. 203–217

Leitlinien Langfassung der interdisziplinären evidenz- und konsensbasierten (S3) Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“AWMF-Registernummer 028-045

Alexandra Philipsen A. et al.: »Comparison of Methylphenidate and Psychotherapy in Adult ADHD Study (COMPAS) Consortium. Effects of Group Psychotherapy, Individual Counseling, Methylphenidate, and Placebo in the Treatment of Adult Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder: A Randomized Clinical Trial. JAMA Psychiatry, 72(12):1199-210, 2015

Annabeth Groenman et al.: Substance Use Disorders in Adolescents with Attention Deficit Disorders. A 4-Year Follow-up Study. Addiction. 2013 Aug; 108 (8): 1503–11;

Bruno Palazzo Nazaret al.: The Risk of Eating Disorders comorbid with Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder: A systematic Review and Metaanalys. Internation Journal of Eating Disorders. 2016 Dec; 49 (12): 1045–57; Tsai MH et al. Curr Psychiatry Rep. 2016 Aug; 18 (8): 76

Søren Dalsgaard, S. et al.: Mortality in children, adolescents and adults with ADHD, a nationwide cohort study. Lancet.385:219096, 2015

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Russell Barkley et al.: Hyperactive Child Syndrome and Estimated Life Expectancy at Young Adult Follow-Up: The Role of ADHD Persistence and Other Potential Predictors. Journal of Attention Disorder. 23(9):907-923, 2019

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2024: Bin ich gestresst oder habe ich ADHS?