Frau Steiner Roth, das Schönheitsideal, das vielerorts proagiert wird, führt bei manchen, jedoch nicht bei allen Menschen zu einem gestörten Essverhalten. Welche individuellen Faktoren spielen bei der Entstehung einer Essstörung eine Rolle?
Ein wichtiger individueller Faktor, der Essstörungen begünstigt, ist sicherlich ein eher schlechtes Selbstwertgefühl. Der Selbstwert ist in dem Fall abhängig von äußeren Faktoren wie Erfolg, Aussehen und guten Leistungen. Daraus resultieren eine hohe Leistungsbereitschaft und Perfektionismus. Das führt dazu, dass Menschen mit niedrigem Selbstwert eher unerreichbaren Schönheitsidealen nacheifern, in der Hoffnung auf Erfolg und Anerkennung, was wiederum den Weg in die Essstörung begünstigen kann. Weitere individuelle Faktoren sind eine hohe Sensibilität, ein ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken sowie ein starkes Harmoniebedürfnis.
In Ihrem Buch Das Stück Brot ist wieder ein Stück Brot verstehen Sie eine Essstörung als eine Bewältigungsstrategie. Wie ist das gemeint?
Eine Essstörung ist eine ernste psychosomatische Erkrankung. Die eigene Lebensrealität wird von den Betroffenen oft als bedrohlich und unkontrollierbar erlebt, mit wenig Möglichkeiten, darauf bewusst Einfluss nehmen zu können. Dies führt zu Ängsten und Gefühlen wie Wut, Trauer und Verzweiflung, mit denen die Betroffenen nur schwer umgehen können.
Übermäßiges Essen oder Nichtessen sind Strategien, um sich der Realität zu entziehen und vor den Schwierigkeiten, dem Selbsthass und den bedrohlichen Gefühlen zu fliehen. Oft erleben die Betroffenen nur in der Essstörung, insbesondere der Magersucht, das Gefühl von Autonomie und Selbstwirksamkeit. So gesehen erfüllt die Krankheit eine – vermeintlich – hilfreiche Funktion; sie ist jedoch eine dysfunktionale Strategie, die äußerst gesundheitsschädigend sein kann.
Sie schlagen vor, Instagram zu löschen. Hilft das Betroffenen mit Essstörungen wirklich weiter?
Wie schon erwähnt: Betroffene leiden häufig unter einem schlechten Selbstwertgefühl. Sie vergleichen sich ständig mit anderen Menschen, und dies meist zu ihren Ungunsten. Sie bekunden oft, dass sie Mühe damit haben, andere Menschen realistisch einzuschätzen, und neigen zu Idealisierung oder Abwertung.
Das häufige Konsumieren von sozialen Medien kann dazu beitragen, dass sich die Betroffenen einsam und wertlos fühlen und glauben, alle anderen – außer ihnen – führten ein großartiges Leben. Dies in einer Therapie zu thematisieren erachte ich als wichtig. Natürlich bespreche ich individuell mit meinen Klientinnen und Klienten, ob sie – zumindest für eine Zeitlang – Instagram löschen möchten. In vielen Fällen hat der Verzicht darauf zu einer Entlastung und Erleichterung geführt.
Wie können sich Menschen verhalten, wenn sie vermuten, dass eine ihnen nahestehende Person unter einer Essstörung leidet?
Unbedingt ansprechen, auch wenn die betroffene Person das Gespräch zunächst vielleicht verweigert. Konkrete Beobachtungen mitteilen und der eigenen Sorge Ausdruck verleihen, ohne zu werten oder zu verurteilen, ein offenes Ohr haben und Hilfe anbieten. Dagegen ist Wegschauen und Hoffen, dass sich alles wieder von selbst einrenkt, keine hilfreiche Strategie. Wenn es gelingt, die Person zu einer Therapie zu ermutigen, ihr bei der Suche nach professioneller Unterstützung zu helfen und sie vielleicht zum ersten Gespräch zu begleiten, ist schon viel erreicht.
Sandra Steiner Roth bietet Beratung sowie Therapie bei Essstörungen in Bern. Die systemisch-lösungsorientierte Therapeutin ist mitverantwortlich für den Aufbau der Fachstelle Prävention von Essstörungen Praxisnah (PEP) am Berner Inselspital.
Sandra Steiner Roths Buch Das Stück Brot ist wieder ein Stück Brot. Wege aus der Essstörung. ist bei Lehmanns erschienen (208 S., € 30,-)