Meine Grenzen und ich

Um Grenzen zu setzen, muss man seine Verletzungen kennen. Das hat Jochen Metzger die Augen geöffnet. Warum fällt es ihm so schwer, für sich einzustehen?

Die Illustration zeigt einen Mann, der in einem Buch liest, daneben sitzt er mit  Menschen auf einem Brettspiel und am Schreibtisch vor seinem Computer
Grenzen sind wie ein Seil, das wir um die Dinge spannen, die uns wichtig sind. Um sie zu schützen und anderen näherzukommen. © Lucie Langston für Psychologie Heute

Etwas weckt mich nachts um drei. Es ist kein Geräusch, kein Lichtblitz, keine Berührung und kein Brandgeruch – sondern dieser Schmerz in den Lendenwirbeln. Er hat mich schon am Tag geplagt. Später beim Mittagessen drückt auch noch mein Magen, mehr als eine Pellkartoffel schaffe ich nicht, dazu gibt’s eine Tasse Kamillentee. So geht es seit Wochen. Ich bin Ende dreißig und mein Körper sagt mir: „Mann, du musst etwas ändern.“

All das ist mehr als fünfzehn Jahre her. Ich habe damals tatsächlich vieles geändert…

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du musst etwas ändern.“

All das ist mehr als fünfzehn Jahre her. Ich habe damals tatsächlich vieles geändert und vieles wurde besser. Aber so richtig verstanden habe ich meine Krise erst jetzt, und das verdanke ich einem Buch.

Zwei junge Frauen hatten mir davon erzählt, die eine davon ist meine Tochter, die andere eine Art Patenkind. Die eine studierte in den Niederlanden, die andere in London, beide Hochschulen kümmern sich in Seminaren um die psychische Gesundheit ihrer Studierenden. Manche inneren Themen bekommen für die jungen Leute dabei einen Namen. Man sucht sich Hilfe oder stöbert nach neuen Büchern. Manche davon schickt man anschließend den eigenen Müttern, den Vätern und schreibt auf die beiliegende Postkarte: „Lies das, es handelt von dir!“

Schuldgefühle und Unbehagen

Auf so eine Art kam auch dieses Buch auf meinen Schreibtisch. Es heißt Set Boundaries, Find Peace, geschrieben von der US-Psychotherapeutin Nedra Glover Tawwab (deutsche Ausgabe: Grenzen machen uns frei). In den USA war es ein Bestseller, die Autorin hat auf Instagram weit mehr als eine Million Follower. Irgendwas an ihrer Botschaft scheint die Menschen zu bewegen.

Und wirklich: Schon beim Lesen des Vorworts merke ich, wie meine Wangen heiß werden, weil ich mich ertappt fühle. Da schreibt jemand über mein vergangenes Selbst, den Mann, der sich in Rückenschmerz und Bauchweh manövriert hatte. Und so einen Aha-Moment habe offenbar nicht nur ich. „Mein Instagram-Post Signs that you need boundaries [‚Anzeichen dafür, dass Sie Grenzen brauchen‘] ist viral gegangen“, notiert Nedra Glover Tawwab auf den ersten Seiten ihres Buches. Ihre kurze Liste geht so:

  • Sie fühlen sich überfordert.

  • Sie hegen Groll gegen Menschen, weil sie Sie um Hilfe bitten.

  • Sie vermeiden Telefongespräche und Umgang mit Menschen, die Sie um etwas bitten könnten.

  • Sie machen Bemerkungen darüber, dass Sie anderen helfen und nichts dafür zurückbekommen.

  • Sie fühlen sich ausgebrannt.

  • Sie träumen häufig davon, alles hinzuschmeißen und einfach zu verschwinden.

  • Sie haben keine Zeit für sich selbst.

Viele ihrer Patientinnen und Patienten, so berichtet Glover Tawwab, kommen mit genau solchen Symptomen zu ihr in die Praxis. Sie wissen nicht, dass sie Schwierigkeiten damit haben, Grenzen zu setzen, denn an der Oberfläche sind da nur Konflikte mit anderen, Vermeidung, negative Gedanken und wenig Energie. Eine Stufe darunter rumoren Schuldgefühle und ein seltsames Unbehagen

Die Illustration zeigt eine Frau mit einem rotem Springseil und ein Mann mit einer Übung am roten Seil
Grenzen sind wie ein Seil, das wir um die Dinge spannen, die uns wichtig sind. Um sie zu schützen und anderen näherzukommen.
Die Illustration zeigt eine Frau mit einem rotem Springseil und ein Mann mit einer Übung am roten Seil
Grenzen sind wie ein Seil, das wir um die Dinge spannen, die uns wichtig sind. Um sie zu schützen und anderen näherzukommen.

„Klarheit rettet Beziehungen“

Vieles daran passt zu meinem früheren Selbst. Überfordert war ich von meinem Beruf, den Anforderungen meiner Vorgesetzten, dem Dasein als Alleinverdiener, manchmal von meiner Rolle als Ehemann, von Wünschen aus meinem Freundeskreis. Die ganzen Ansprüche an mich nervten. Ich empfand die Welt als ungerecht und wollte manchmal tatsächlich alles hinschmeißen. Bleibt die Frage: Was hatte all das mit meinen Grenzen zu tun?

Der Begriff „Grenze“ spielt in der sozialpsychologischen Forschung so gut wie keine Rolle. Im Alltag und im therapeutischen Kontext ist er trotzdem gebräuchlich. „Grenzen“, so erklärt Nedra Glover Tawwab in ihrem Buch, „sind Erwartungen und Bedürfnisse, die Ihnen helfen, sich sicher und wohl in Beziehungen zu fühlen.“ Anders gesagt: Grenzen sind kein Selbstzweck. Sie helfen uns, gute Beziehungen zu führen. „Andere Menschen wissen nicht, was Sie wollen“, erklärt Glover Tawwab. „Es ist Ihre Aufgabe, das klarzustellen. Klarheit rettet Beziehungen.“

Zunächst lese ich achtlos über diese Sätze hinweg. Sie klingen wie das übliche Blabla auf oberflächlichen Instagram-Accounts. Dann stocke ich und lese noch einmal. Stimmt! Ich habe Menschen stets für egoistisch gehalten, die ihren Willen in die Welt hinausposaunen. „Du sollst nicht betteln“, schimpfte meine Oma, wenn ich als Kind einen Wunsch aussprach. Jetzt konfrontiert mich Nedra Glover Tawwab mit einer Umdeutung: Wenn ich heute pünktlich Feierabend mache, sorge ich dafür, dass ich meinem Arbeitgeber auch in Zukunft erhalten bleibe, dass ich präsenter bei meiner Familie bin. Gesunde Grenzen in diesem Sinne sehen aus wie Egoismus. In Wahrheit stehen sie im Dienste eines größeren Wir.

Der geborene People Pleaser

Davor liegt jedoch ein anderes Problem: Mein früheres Selbst hatte ein erstklassiges Gespür für die Wünsche der anderen, aber kein gutes Gespür für seine eigene Bedürftigkeit. Und wenn doch, dann war da diese Harmoniesucht, diese Scheu, meine Bedürfnisse anzusprechen und womöglich in einen Konflikt zu geraten. Muss ich mich dafür schämen? Nur ein bisschen.

James Dungan und Nicholas Epley haben an der University of Chicago dazu gerade eine Serie von sieben Studien vorgelegt. Alle Experimente ergaben dasselbe: Wir Menschen scheinen in unseren Köpfen generell ein negativ verzerrtes Bild von Konfliktgesprächen zu zeichnen. Wir erwarten Schlimmes – und sind dann immer wieder überrascht, wie glimpflich und konstruktiv solche Unterhaltungen ausgehen. Das, so schreiben die beiden Psychologen, „hält Menschen davon ab, Themen anzusprechen, die ihre Beziehungen stärken würden“. Man muss also kein geborener people pleaser sein, um Grenzen zu haben, die so löchrig sind wie Käse aus dem Emmental.

„Ich muss jetzt dringend los!“

Doch wie hätte ich damals herausfinden können, wie es genau um meine Grenzen steht? Sind sie zu durchlässig, zu starr – oder vielleicht doch gesund? Dafür hat Nedra Glover Tawwab eine einfache und alltagstaugliche Übung formuliert. Sie geht davon aus, dass es in der Psychologie sechs verschiedene Formen von Grenzen gibt. Manche Arten von Grenzen hat man womöglich gut im Griff, bei anderen jedoch gibt es immer wieder Schwierigkeiten.

Mein eigenes Testergebnis: Bei vielen Grenzen kann ich besser als erwartet beim Thema bleiben, mein Bedürfnis spüren, benennen und einigermaßen durchsetzen. Bei körperlichen Grenzen jedoch neige ich zum Ausweichen. Wenn eine Kollegin mir zu nahe kommt, sage ich nicht: „Ich hätte gerne mehr Abstand.“ Stattdessen verlasse ich die Situation mit einer Ausrede: „Ich muss jetzt dringend los, ich bin gleich zu einem Meeting verabredet.“

Noch schlimmer steht es um meine zeitlichen Grenzen, die hat mein früheres Selbst so gut wie gar nicht beschützt. So kam es zu Überstunden, heimlicher Arbeit am Wochenende, zu wenig Sport, zu wenig Erholung, viel zu viel Schokolade, dem Gefühl, nicht gut genug zu sein – und schließlich zu all meinen körperlichen Symptomen, dem kaputten Kreuz, dem übersäuerten Magen. Der österreichische Psychologe Alfried Längle sieht genau darin keinen Makel, sondern im Gegenteil: eine Chance. Wenn Menschen ihre inneren Signale permanent übergehen, sei ein Burnout sogar „das Gesündeste, was man kriegen kann“, sagt er.

Ein stummer Rückzug

Wer vor dem 26. März 1995 von Deutschland nach Frankreich fuhr, der passierte an der Grenze zunächst den deutschen und danach den französischen Schlagbaum. Eine Grenze hat immer zwei Seiten. Auch in der Psychologie kann sie uns in zweifacher Hinsicht Probleme bereiten. Zum einen wenn wir selbst nicht auf unsere Bedürfnisse achten – zum anderen wenn wir von unseren Mitmenschen ein Nein kassieren und mit dieser Zurückweisung nicht klarkommen.

So ging es auch meinem früheren Selbst. Ich war Gast bei einem mehrtägigen Workshop, ein Bekannter hatte mir einen Übernachtungsplatz auf seiner Couch angeboten. Als ich dort ankam, meinte er: „Ich habe keinen Platz für dich. Du hast dich in den letzten Tagen nicht noch einmal bei mir gemeldet, also habe ich die Couch an wen anders vergeben.“ Statt ihn zur Rede zu stellen, reagierte ich mit fassungsloser Sprachlosigkeit und behielt meine Enttäuschung für mich. Ich schlief bei anderen Leuten, unsere Freundschaft endete ohne Aussprache.

Was genau war da los? Meine emotionalen und materiellen Grenzen wurden verletzt. Meine Reaktion auf das Nein des anderen war ein stummer Rückzug, nicht der erste und nicht der letzte in meinem Leben. Hätte ich meine verletzten Grenzen angesprochen, wäre die Freundschaft vielleicht noch zu retten gewesen. Das ist für mich eine ebenso späte wie neue Perspektive. Was da passiert ist, hat etwas mit mir zu tun! Bislang hatte ich dieses Erlebnis mit einem bitteren „Wie konnte er bloß?“ innerlich abgespeichert, ohne viel daraus zu lernen.

Wünsche ruhig benennen

Aber welche empirischen Belege gibt es für die Thesen von Nedra Glover Tawwab? „Grenzen setzen“ ist ein Trendthema in den sozialen Medien, doch in der Forschung gibt es zu diesem Stichwort, wie erwähnt, so gut wie nichts. Erst der Tipp eines erfahrenen Therapeuten bringt mich auf die richtige Spur, und die führt zurück bis in die späten 1940er Jahre. Damals entdeckte man in den USA, dass viele depressive Patientinnen und Patienten kaum dazu fähig waren, für ihre Sache einzustehen. Sie kommunizierten nicht, was sie wollten, und hatten deshalb das Gefühl, von anderen ausgenutzt und übervorteilt zu werden.

Die Lösung schien naheliegend: Man müsste ihnen einfach beibringen, die eigenen Wünsche klar und ruhig zu benennen. So entstanden die frühen Formen einer Technik namens assertiveness training, im Deutschen sagt man „Selbstbehauptungstraining“ oder „Selbstsicherheitstraining“ dazu.

Assertiveness-Training-Programm (ATP)

Das ATP ist ein verhaltenstherapeutisches Programm für Erwachsene, um Selbst­vertrauen und soziale Kompetenz einzuüben. Die 127 sozialen Situationen, die in Rollenspielen und im realen Leben trainiert werden, bauen aufeinander auf. Vor Jahrzehnten entwickelt, wird das Programm immer noch in Studien überprüft, zum Beispiel zeigte sich, dass Grundschülerinnen und Grundschüler nach dem Training weniger aggressiv waren als vorher.

Hilfe, um besser mit anderen klarzukommen

Und tatsächlich lieferten solche Programme respektable Ergebnisse, die sich wissenschaftlich gut belegen ließen. Dutzende von Studien zeigten, dass Depressive durch das assertiveness training weniger depressiv wurden, sozial Verängstigte verloren ein Stück der meist unbegründeten Furcht vor ihren Mitmenschen, Teilnehmende gingen danach mit messbar höherem Selbstvertrauen durchs Leben. „Jeder kann lernen, sich besser persönlich auszudrücken“, schreiben die Psychotherapeuten Robert Alberti und Michael Emmons in ihrem Klassiker Your Perfect Right, einer Art Bibel des Selbstbehauptungstrainings aus dem Jahr 1970, die inzwischen in der zehnten Auflage erschienen ist.

Alberti und Emmons ging es nie darum, uns zu rücksichtslosen Egoistinnen oder Egoisten zu erziehen, die sich um jeden Preis durchsetzen können: „Wenn Sie lernen wollen, wie man andere manipuliert, lesen Sie das falsche Buch“, schreiben sie. Dennoch hatten die beiden einfach zu viele Menschen in ihren Praxen gesehen, deren Alltagsverhalten zwischen übertriebener Nachgiebigkeit und exzessiver Feindseligkeit hin und her flackerte. Ihre Grenzen waren entweder zu durchlässig oder zu rigide. Wie schon der griechische Philosoph Aristoteles predigten Robert Alberti und Michael Emmons eine goldene Mitte: das Setzen gesunder Grenzen.

Zielgruppe ihrer Methode waren zunächst Menschen mit ausgeprägter Sozialangst. Später kamen Alberti und Emmons jedoch zu der Überzeugung, dass ihre Methode allen helfe – denn „jeder braucht gelegentlich ein bisschen Hilfe, um besser mit anderen klarzukommen“. Ihre Form der Selbstbehauptung ist nichts anderes als eine Grundfähigkeit sozial kompetenter Menschen.

Schuhe umtauschen und Gehalt einfordern

Interessant: In den 1970er Jahren entstand hierzulande unter dem Titel Assertiveness-Training-Programm (ATP) eine ganz eigene, sehr deutsche Schule der Selbstbehauptung. In drei aufeinander aufbauenden Büchern erläuterten der Psychologe Rüdiger Ullrich und die Psychologin Rita de Muynck 127 konkrete Übungen, um die eigenen Sozialkompetenzen zu schärfen.

Bei der Übung Nummer 45 begibt man sich zum Beispiel in ein schickes Schuhgeschäft, probiert dort mehrere Schuhe an, bedankt sich beim Personal und verlässt danach den Laden, ohne etwas gekauft zu haben. Bei anderen Aufgaben trainiert man, im Restaurant laut nach der Bedienung zu rufen, Waren im Kaufhaus umzutauschen, bei seinen Vorgesetzten hartnäckig mehr Gehalt zu fordern oder einen ebenso attraktiven wie wildfremden Menschen im Café in ein Gespräch zu verwickeln.

Eine andere Trainingsszene ereignet sich im Zug: Man hat einen Platz reserviert, findet diesen aber besetzt. Jetzt gilt es, die entsprechende Person zum Aufstehen zu bewegen und sich so seinen Sitz gleichsam zurückzuerobern. Wer all das mit Erfolg übe, so sagten Rüdiger Ullrich und Rita de Muynck in einem Interview mit der Fachzeitschrift Psychotherapie im Dialog, werde nicht nur fitter fürs Leben, sondern auch äußerlich ein schönerer Mensch. Gesunde Grenzen machen offenbar attraktiv. Das ATP will durch seine Übungen helfen, vier verschiedene Ängste abzubauen:

  1. Die Kritik- und Fehlschlagangst: Ich sterbe nicht, wenn andere mich kritisieren oder ich einen Fehler gemacht habe.

  2. Die Kontaktangst: Ich lerne, mit anderen ins Gespräch zu kommen und in diesem Gespräch zu bleiben. Nach dem Motto: Menschen beißen nicht.

  3. Ablehnungsangst, wenn ich eigene Bedürfnisse formuliere: Ich darf berechtigte Forderungen stellen, die Welt wird besser darauf reagieren, als ich glaube.

  4. Ablehnungsangst, wenn ich mich abgrenze: Ich darf und kann andere gelassen und fair kritisieren. Sie werden ein Nein viel besser akzeptieren, als ich bisher befürchtet habe.

Eine Überblicksstudie aus den USA zeigt, dass Techniken aus dem klassischen assertiveness training längst in neuere Formen der Therapie aufgegangen sind, in die sogenannte „dritte Welle der Verhaltenstherapie“, der es nicht nur um unser Denken und Verhalten geht, sondern auch um unsere Emotionen, um Achtsamkeit und Akzeptanz.

Stärker wird man erst, wenn man’s auch macht

Mein Handy klingelt um 18.25 Uhr. Es erinnert mich daran, bald Feierabend zu machen. Ich packe meine Sachen, als ich plötzlich ein Räuspern vernehme. Einer meiner Vorgesetzten steht im Türrahmen, in der Hand einen ausgedruckten Artikel, den ich am Vortag abgegeben hatte. „Das hier ist vollkommen unbrauchbar“, sagt er. „Bis morgen früh um zehn Uhr hab ich das alles neu auf meinem Tisch. Und zwar diesmal in Gut!“

Mein früheres Selbst erstarrt. Der Termin ist reine Schikane, denn unsere Texte müssen erst in drei Tagen in die Druckerei. Eigentlich wollte ich meinen Kindern noch eine Gutenachtgeschichte vorlesen und einen ruhigen Abend mit meiner Frau verbringen. Doch statt zu protestieren, nicke ich stumm, als mein Vorgesetzter sich in den Feierabend verabschiedet. Ich werde zu Hause anrufen und sagen, dass es spät wird. Ich werde wenig schlafen in der Nacht – und am nächsten Tag um zehn Uhr einen völlig neuen Artikel abgeben. „Na also“, wird mein Vorgesetzter sagen, „geht doch.“

Solche Szenen gab es häufiger, ich habe sie mir alle gefallen lassen. Mit guter Selbstbehauptung und gesunden Grenzen hätte ich vermutlich gesagt: „Bis morgen früh um zehn kann ich das nicht schaffen. Ich fahre jetzt nach Hause und dann schreibe ich morgen so gut und so schnell ich kann.“ So etwas in der Art würde Nedra Glover Tawwab mir empfehlen – eine Kurzfassung dessen, was die gewaltfreie Kommunikation lehrt. Zugegeben: Wie beim Stichwort „Grenzen setzen“ denke ich auch bei gewaltfreier Kommunikation sofort: „Gähn! Das hab ich schon tausendmal gehört.“ Im wirklichen Leben läuft es bei all diesen Techniken aber wie mit Liegestütz und Klimmzug: Stärker wird man davon erst, wenn man’s auch wirklich macht – und zwar am besten regelmäßig.

Eine Formel für die Selbstbehauptung

Die gewaltfreie Kommunikation gibt es seit den 1960er Jahren, doch in der Forschung ist sie noch immer oder wieder aktuell. Erst Ende 2022 erschien eine Studie aus Südkorea, bei der Forschende einen entsprechenden Kurzlehrgang in die Ausbildung zur Pflegekraft integriert hatten. Was würde bei den Teilnehmenden danach anders laufen als bei den Schülerinnen und Schülern der Parallelklasse? Tatsächlich zeigen die Daten, dass die Teilnehmenden hinterher mehr Empathie hatten, im Alltag weniger Wut verspürten und besser kommunizieren konnten als die Personen aus der Kontrollgruppe.

Die vier Schritte der gewaltfreien Kommunikation lesen sich wie ein Grundkurs im Grenzensetzen oder eine Formel für mehr Selbstbehauptung:

  1. Ich schildere möglichst wertfrei meine Beobachtung dessen, was passiert ist. („Jetzt ist es fast halb sieben, da endet meine Arbeitszeit“)

  2. Ich sage, wie ich mich damit fühle. („Ich bin enttäuscht, dass Sie mir so wenig Zeit lassen“)

  3. Ich formuliere mein Bedürfnis. („Ich möchte so gut und sorgfältig wie möglich arbeiten und brauche meine Erholung“)

  4. Ich äußere eine Bitte. („Ich möchte Sie bitten, mir ausreichend Vorlauf für meine Aufgaben zu geben“)

„Sie müssen Taten folgen lassen.“

So läuft es zumindest in der Theorie. Meinem früheren Selbst kamen solche Sätze meist erst später, wenn ich gestresst und müde im Bett lag. Was ich spannend finde: Auch das klassische assertiveness training der 1970er Jahre lehrte vor allem, eigene Bedürfnisse zu benennen und dabei Ich-Botschaften zu verwenden. Letzteres geschah und geschieht nicht ohne Grund: Gegen den Satz „Ich bin enttäuscht“ gibt es kein sinnvolles Gegenargument. Er formuliert keinen Vorwurf, sondern markiert die eigene Grenze. So geht Selbstbehauptung.

Doch was soll ich tun, wenn mein Chef nicht auf meine Bedürfnisse eingeht und die vermeintliche Magie gewaltfreier Selbstbehauptung verpufft? Nedra Glover Tawwab sagt: Die meisten Menschen werden unsere Bitte klaglos akzeptieren. Dennoch wird es immer wieder vorkommen, dass die oder der andere unsere Wünsche als unfair oder unverschämt bezeichnet, sie ignoriert, uns über Tage die kalte Schulter zeigt oder so tut, als habe man uns falsch verstanden. Deshalb ist Nedra Glover Tawwab überzeugt: Kommunikation ist nicht alles. „Sie müssen Taten folgen lassen.“

Im Fall meines machtbewussten Vorgesetzten: Wenn er mich wieder zu Nachtarbeit zwingen will, sollte ich meinen Widerstand zunächst wiederholen. Wer sich vor solchen Konsequenzen drückt, so glaubt Glover Tawwab, „lädt zu ständigen Grenzverletzungen in der Beziehung ein“. Ich muss so tun, als wäre ich eine Langspielplatte aus Vinyl, die an der entscheidenden Stelle einen Kratzer hat: Ich wiederhole den eigenen Wunsch, bis der andere – endlich – reagiert.

Für die Jahre, die vor uns liegen

Was tun, wenn auch das nicht klappt? Nedra Glover Tawwab wertet das als Zeichen, „dass Sie schon vor langer Zeit Grenzen gebraucht hätten“. In manchen Fällen könne man noch ein Ultimatum stellen, nach dem Motto: „Wenn sich solche Anforderungen wiederholen, muss ich mir einen anderen Job suchen.“ Das gibt meinem Vorgesetzten die Chance, sich zu entscheiden: Will er wirklich weiter seine Machtspiele mit mir spielen und dadurch riskieren, dass ich gehe? Sollten all diese Schritte nicht fruchten, sagt Glover Tawwab, sei es womöglich an der Zeit, „sich zu überlegen, den Kontakt abzubrechen“. Ich greife dann quasi zu den Nuklearwaffen in der Verteidigung meiner Grenzen. Ich habe alles versucht, jetzt akzeptiere ich: Es hat nicht geklappt – ich kündige.

So weit die Theorie. Mein früheres Selbst hat sich am Ende wirklich so gerettet. Ich habe gekündigt und meinen sicheren Arbeitsplatz gegen ein Leben als Freiberufler getauscht. Es war eine gute Entscheidung.

In den 1970er Jahren stand im Spiegel ein Artikel über das deutsche Assertiveness-Training-Programm. Damals testete man diese wissenschaftlich begleitete Fassung des Grenzensetzens nur an Patientinnen und Patienten in der Psychiatrie. „Eigentlich“, so sagt dort Miterfinder Rüdiger Ullrich, gehöre das Programm aber „in die Schule“. Als der Artikel erschien, kam ich gerade in die dritte Klasse. An meine Schule kam das Assertiveness-Training nie. Was für ein Jammer. Ich hätte vielleicht niemals Rückenschmerzen haben und mir meinen Magen ruinieren müssen. Doch immerhin: Meine Tochter und ihre Generation erfahren von all dem noch zur rechten Zeit. Und wer weiß, wovor sie und mich diese Techniken schützen werden in den Jahren, die noch vor uns liegen.

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Quellen

Robert Alberti, Michael Emmons: Your perfect right. Assertiveness and equality in your life and relationships, Impact Publishers 2017

James Dungan, Nicholas Epley: Surprisingly good talk: Misunderstanding others creates a barrier to constructive confrontation, Journal of Experimental Psychology, 153/3, 2024, 779–797

Hyun Kyoung Kim, Hae Kyung Jo: Effects of a nonviolent communication program on nursing students, Nursing Reports, 12/4, 2022, 824–835

Brittany Speed, Brandon Goldstein u.a.: Assertiveness training: A forgotten evidence-based treatment, Clinical Psychology: Science and Practice, 25/1, 2017, e12216

Nedra Glover Glover Tawwab: Grenzen machen uns frei: Ein Wegweiser sich selbst treu zu bleiben, Unimedica 2021

Cirsten Ullrich, Wolfgang Beth: Basisvariablen moderner Selbstsicherheitstrainings. Arbeit an Selbstwert, sozialer Kompetenz und sozialer Angst am Beispiel des Assertiveness Training Program (ATP) mit ergänzender Schematherapie, Psychotherapie, 24/1, 2019, 186–201

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2024: Meine Grenzen und ich